Lehrstuhl Prof. Dr. Bernd Weisbrod

                      Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte
                      Georg-August-Universität Göttingen  





   





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Dr. Miriam Rürup
Habilitationsprojekt




Die Geschichte der Staatenlosigkeit  im 20. Jahrhundert zu schreiben, ist Ziel dieses Forschungsvorhabens. Thematisiert werden sollen – ausgehend von den strukturellen Veränderungen  des 19. und 20. Jahrhunderts und den Kontexten von Identifikationsprozessen – die historisch und kulturell spezifischen Praktiken der unterschiedlichsten Akteure und Akteurinnen, die Staatenlosigkeit und Staatsangehörigkeit auf verschiedene Arten und Weisen gestaltet haben. Geographisch wird sich die Untersuchung vor allem auf die Schweiz, Deutschland und Frankreich konzentrieren:

 

Durch die nationalstaatlichen Neuordnungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg verloren zahlreiche Menschen ihre Staatsangehörigkeit und damit die mit ihr verknüpften Rechte. In der Zwischenkriegszeit waren es überstaatliche Institutionen wie der Völkerbund und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, die sich um eine Problemlösung aus diplomatischer wie humanitärer Sicht bemühten.

Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, angefangen mit den Ausbürgerungen der deutschen Juden durch nationalsozialistische Gesetzgebung und fortgesetzt in der Frage der nationalen Zugehörigkeit der Vertriebenen aus dem Osten Europas, veranlassten die internationale Staatengemeinschaft, sich dem Problem der Staatenlosigkeit offiziell zuzuwenden. Auf Bestreben der Vereinten Nationen wurde nun nach Regelungen gesucht, zukünftig Staatenlosigkeit zu verhindern, was 1954 in einem völkerrechtlichen Übereinkommen mündete, das Schutz vor Staaenlosigkeit zusichern sollte und Reisepapiere für Staatenlose zur Verfügung stellte. 

 

Der Staatenlose entstand gewissermaßen als unvermeidliches Produkt – in jedem Fall aber in Folge all dieser Strukturveränderungen. Jene ganz unterschiedlichen Gruppen von Menschen, die durch Krieg, Flucht und Vertreibung verbriefte staatliche Zugehörigkeiten verloren, bildeten das bislang kaum thematisierte Gegenstück zum sich flächendeckend konstituierenden »Staatsbürger« und stehen gleichsam abseits der inzwischen sehr gut erforschten Geschichte der Staatsangehörigkeit. Keinem Nationalstaat mehr zugehörig, waren sie die »Überflüssigen« der Gesellschaften und es waren nurmehr übernationale Organisationen, die sich ihrer annahmen.

Der forschende Blick soll sich hier der Frage der Staatenlosen zuwenden, mithin denjenigen, die aus verschiedensten Gründen nicht Teil der Staatsnation sind – sei es, weil ihr Staat infolge von Grenzverschiebungen nicht mehr besteht, sei es, weil sie infolge von Krieg, Flucht und Vertreibung ihrer Staatsangehörigkeit verlustig gingen, oder sei es gar, weil sie sich bewusst einer staatlichen Zugehörigkeit verweigern. Vorbild der Untersuchung können dabei neuere Ansätze sein, die Staatsbürgerschaft und »citizenship« als Konzept der Moderne verstehen und es mit einem transnationalen Zugriff vergleichend analysieren.

 


Das Phänomen von Staatenlosigkeit und der Staatenlose als Geschichte gestaltender und erfahrender Akteur gilt es, in drei Bereichen zu untersuchen:

 

1. Staatenlosigkeit als Handlungsraum für staatliche und überstaatliche Institutionen

 

Ausgehend von den faktischen strukturellen Veränderungen ist zu untersuchen, wie Staatenlosigkeit als Problem hergestellt und wahrgenommen wird, wie es in der Auseinandersetzung als politischer, juristischer, humanitärer etc. Gegenstand konturiert und als Aufgabe für verschiedene Instanzen beschrieben worden ist.

Zu dieser Thematik gehört unter anderem die Diskussion darum, mit welchen Begriffen das Phänomen zu fassen ist – ob es sich um Staatenlose, um Heimatlose oder »Apatrides« handelt. Es ist also sowohl eine Untersuchung des völkerrechtlichen und diplomatischen Diskurses als auch eine Betrachtung der humanitären Hilfsangebote für Staatenlose nötig.

Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sich in den begleitenden Diskussionen über das Problem und seine Lösung – gleichsam als Kontrastfolie zum vermeintlichen Normalfall Staatsbürgerschaft – zentrale Aspekte europäischer Identitätsdiskurse und Zugehörigkeitsfragen widerspiegeln.

 

2. Staatenlosigkeit als Erfahrungsraum für die Betroffenen

 

Weniger als Objekte (über)staatlichen Handelns sondern vielmehr als Akteure der Geschichte sind hier mindestens zwei Gruppen in den Blick zu nehmen:

- zum einen die »Verlierer« der Entwicklungen, z.B. Flüchtlinge und Vertriebene, die Staatenlosigkeit als Entwurzelung, als Verlust von Rechten und Schutz erleiden. Es geht also um migratorische Gruppen zwischen staatlicher Schutzlosigkeit und (staats)bürgerschaftlichem Engagement;

- zum anderen diejenigen, die aus ethischen, politischen oder wirtschaftlichen Gründen die Loslösung von nationalstaatlichen Zugehörigkeiten als Chance begriffen, oder gar eine kosmopolitisch verstandene Weltgemeinschaft anstrebten, in der der »Weltbürger« den »Staatsbürger« ablösen sollte.

In beiden Fällen ist zu betrachten, wie mit der spezifischen Situation umgegangen und wie die Erfahrungen verarbeitet wurden.

 

3. Staatenlosigkeit als Imaginationssraum

 

Den zweiten Punkt ergänzend, wir hier untersucht, wie sich Staatenlosigkeit und die damit gemeinhin verbundenen Erfahrungswelten in künstlerischen und kulturellen Erzeugnissen, aber auch in wissenschaftlichen Werken und Debatten niedergeschlagen haben; wie sich etwa Literatur und Film, aber auch philosophische Reflektion kreativ mit Staatenlosigkeit befasst haben. Auch die »imaginierte« Seite der Staatenlosigkeit dürfte für unser heutiges Verständnis und den aktuellen Umgang von Bedeutung sein.

 

Das Projekt verortet sich sowohl im migrationshistorischen Zusammenhang als auch im Diskurs um Transnationalität und Globalisierung. Vermeintlich marginale Phänomene und Randgruppen werden dabei untersucht: Sowohl bei den als »heimatlos« bezeichneten staatenlosen Flüchtlingen als auch bei den sich bewusst für eine supra-nationale Identität als »Weltbürger« entscheidenden Akteuren handelt es sich um Figuren, in deren Biographien und Einstellungen sich die Bedeutung der weltgeschichtlichen Entwicklungen von Globalisierung und Internationalisierung geradezu paradigmatisch aufzeigen lässt.










                     















Heimatlose oder Weltbürger?

Staatenlose in Europa nach den beiden Weltkriegen