Dürfen wir Tiere für die Forschung töten?

Jörg Klein, Göttingen

 

Veröffentlichung demnächst in: Jahrbuch der Medizin-Ethik. Schwerpunktthema ‚Ethik in der medizinischen Forschung‘. Schattauer Verlag 2000

 

Viele Tierversuche sind, nicht zuletzt aufgrund von Narkoseanwendungen während der Versuche, nur mit geringen Belastungen für die Tiere verbunden. Doch werden die Tiere zum Versuchsende häufig getötet, weil der Versuchszweck es erfordert oder weil die Tiere, wenn man sie weiterleben ließe, zu sehr an den Folgen der Versuchseingriffe leiden würden. Viele weitere Tiere werden zum Zweck von Organentnahmen für sogenannte in vitro-Versuche getötet, Tötungen, die im gesetzlichen Sinne nicht als Tierversuche gelten. Die ethische Diskussion dieser Experimente spitzt sich auf die Frage zu: Dürfen Tiere für die Forschung getötet werden?

Die ethische Problematik der Tötung von Tieren besteht natürlich auch bei all jenen Versuchen, bei denen die Tiere vor ihrer Tötung - sei es im Versuch selbst oder durch die Bedingungen ihrer Aufzucht und Bereithaltung - Leiden und Schmerzen ausgesetzt waren. Die Tötung eines Lebewesens, gleich welcher Art, wirft die Frage nach dem Wert seines Lebens auf, und dies sinnvollerweise auch dann, wenn das betreffende Wesen schmerzlos getötet wurde. Wird z.B. ein Mensch, ohne daß er sich zuvor bedroht gefühlt hätte, im Schlaf ermordet, betrachten wir dies als schweres Unrecht. Die Tötungsfrage in der Tierethik ist im Kern die Frage danach, ob wir, wenn wir Gleiches gegenüber einem Tier tun, ein genauso großes Unrecht begehen, ein geringeres oder gar keines.

In der aktuellen tierethischen Diskussion um die Tötungsfrage stehen sich hauptsächlich zwei Positionen gegenüber: zum einen die Position, daß die Tötung von Lebewesen, die keine zukunftsgerichteten Wünsche - oder in strengeren Versionen keine bestimmten zukunftsgerichteten Wünsche - hegen, moralisch relativ unproblematisch sei; zum anderen die Position, daß die Tötung aller empfindungsfähigen Lebewesen eine Beraubung ihrer Lebensmöglichkeiten und ihres Bewußtseins bedeutet, weshalb ihr Leben Schutz genießen solle. Im Folgenden möchte ich beide Positionen kurz umreißen und diskutieren. Abschließend komme ich auf ihre Konsequenzen bezüglich der Tierversuchspraxis zu sprechen.

1 Wunschdurchkreuzung

1.1 Die erste Position erkennt als den eigentlichen Frevel der Tötung, daß mit ihr die Wünsche, Absichten und Pläne durchkreuzt werden, die das Opfer für seine eigene Zukunft gefaßt hat. In der zeitgenössischen Debatte findet diese Position viele Anhänger, aber auch nicht wenige Kritiker. Ihr bedeutendster Protagonist ist Peter Singer.

Die These fügt sich in den interessenorientierten Ansatz der Utilitaristen ein bzw. stellt eine konsequente Anwendung dieses Ansatzes dar. Wenn alle moralische Rücksichtnahme Interessen gilt und alle Verwerflichkeit eine Verletzung von Interessen ist, dann zielt die Frage, was an einer Tötung schlimm sein könnte, allein darauf, welche Interessen mit ihr verletzt werden. Logischerweise würde eine Tötung aber nur zukunftsgerichtete Interessen durchkreuzen können. Verfügt ein Tier über keine Zukunftsvorstellungen, dann beginge man ihm gegenüber auch kein Unrecht, wenn man es tötet.

Wichtig ist, daß hier die Auffassung vertreten wird, daß gegenüber dem getöteten Tier kein Unrecht begangen würde. Durchaus bedauerlich sei es, wenn durch die Tötung ein sich als lebenswert erlebendes Wesen weniger in der Welt existiere. Doch könne man, z.B. durch Züchtung, für Ersatz sorgen - ein auf Peter Singer (1994) zurückgehender Gedankengang, der als "Ersetzbarkeitsthese" bekannt ist.1

Praxisrelevanz erhält die Position, das Lebensrecht von Lebewesen an das Vorhandensein von zukunftsgerichteten Wünschen zu knüpfen, weil angenommen wird, daß viele Tiere zwar zu gegenwartsbezogenem Fühlen und Erleben in der Lage sind, ihnen jedoch die Kompetenz zum Fassen von Zukunftsvorstellungen fehlen würde. Das Leben dieser Tiere könne dann relativ problemlos für menschliche Zwecke geopfert werden. Werden dem Tier bei der Tötung Angst und Schmerzen zugefügt oder löst die Tötung eines sozial lebenden Tieres Trauer oder Hilflosigkeit bei den überlebenden Tieren seiner Gruppe aus, komme dem zwar weiterhin moralisches Gewicht zu, aber unter dem Aspekt der Schmerz- und Leidenszufügung, nicht dem des Tötens.

Unterschiedlich sind die Aussagen darüber - oft auch bei ein und demselben Autor -, ob denn jede Art von zukunftsgerichteten Wünschen ein Lebensrecht fundiert. Es wird auch vertreten, daß es sich um weiterreichende und längerfristige Wünsche - Wünsche z.B., die über den nächsten Schlaf hinausreichen - handeln müsse oder um den abstrakten Überlebenswunsch selbst.

Für alle Varianten gilt, daß jeweils zwei Klassen von empfindungsfähigen Tieren postuliert werden, wobei die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Klasse nach einem Alles-oder-Nichts-Schema darüber entscheidet, ob ein Lebewesen ein volles oder gar kein Lebensrecht erhält. Der Besitz von Wünschen oder bestimmten Wünschen stellt die notwendige und zugleich hinreichende Bedingung für ein volles Lebensrecht dar. Die Möglichkeit eines mehrstufigen Tötungsverbots, das die Tötung bestimmter Lebewesen prima facie für falsch erklärt, aber doch für weniger falsch als die Tötung bestimmter anderer Lebewesen, wird von den Vertretern der Wunschdurchkreuzungsposition gar nicht ins Auge gefaßt. Wenn Tiere die betreffenden Wunschbedingungen erfüllen, dürfe man sie genauso wenig töten, wie man Menschen töten darf, während die Tötung aller anderen Tiere, sofern sie angst- und schmerzfrei geschieht, auf keine besonderen ethischen Einwände trifft. Dieser problematische Grundzug der utilitaristischen Ethik des Tötungsverbots - die Reduzierung des Lebensrechts zu einer Alles-oder-Nichts-Frage anhand einer Zwei-Klassen-Einteilung der Lebewesen - wurde in einer kürzlich erschienenen Publikation von Johann S. Ach (1999) treffend herausgearbeitet.

Schauen wir uns die postulierten beiden Klassen von Lebewesen näher an. In einer klassischen Version wird unterschieden zwischen Lebewesen, die zwar empfindungs- und erlebensfähig sind, hierbei jedoch völlig dem Augenblick verhaftet bleiben, und anderen, die dagegen über (irgendwelche) in die Zukunft gerichteten Ziele und Absichten verfügen. Häufig wird davon ausgegangen, daß alle oder doch fast alle Tiere zur Klasse der reinen Gegenwartsgeschöpfe zählen (Spaemann 1979; Höffe 1984a, 1984b; Krebs 1993), hingegen zur Klasse der (auch) zukunftsorientierten Lebewesen nur Menschen und allenfalls noch die mit ihnen nahe verwandten Menschenaffen.2

Z.B. heißt es bei Angelika Krebs (1993, S.999), daß die Verwerflichkeit der Tötung von Tieren davon abhängt, "ob Tiere in die Zukunft gerichtete Projekte verfolgen, ob man ihnen also etwas nimmt, wenn man ihnen die Zukunft nimmt." Die Autorin fährt fort: "Sind die meisten Tiere nur "Gegenwartsgeschöpfe", verstößt man, wenn man sie schmerz- und angstfrei tötet, somit nicht gegen den moralisch gebotenen Respekt für ihr gutes Leben, wohingegen man gegen diesen Respekt verstößt, wenn man sie quält."

Die Vorstellung, daß das Erleben aller oder oder doch der meisten Tiere ganz im Augenblick aufgeht, wird längst nicht nur von Utilitaristen vertreten und hat in der Geistesgeschichte eine lange Tradition. Ich möchte jedoch die Frage aufwerfen, ob jene Klasse empfindender Lebewesen, deren mentale Welt ausschließlich gegenwartsbezogen ist, denn überhaupt existiert. Es müßte sich ja um Lebewesen handeln, die bloß fühlen, ohne daß sie außerdem Erfahrungen berücksichtigen, Intentionen haben oder Vorausliegendes antizipieren. Aufschlußreich ist hier, nach dem biologischen Sinn von Gefühlen zu fragen. Nach all unserem Wissen über die Evolution sind Lebewesen nicht einfach mit Luxuseigenschaften ausgestattet. Starre Reiz-Reaktions-Automaten brauchen keine Gefühle. Offenbar steht der biologische Vorteil von Gefühlen im Zusammenhang mit einer erhöhten Flexibilität des Verhaltens. Neurobiologische Untersuchungen zeigen, daß Gefühle in enger Verschränkung mit kognitiven Aspekten wie Wahrnehmung, Erinnerung und der Fähigkeit zum Problemlösen auftreten.4

Interessant ist, daß Peter Singer (1994, 1996)3, der wichtigste Protagonist der Wunschdurchkreuzungsthese, im Verlauf seiner wissenschaftlichen Entwicklung von immer mehr Tieren behauptet, daß sie womöglich zukunftsgerichete Wünsche besäßen: Schweine, Hunde, ja sogar Hühner. Übrig bleiben für ihn unter den gefühlsbegabten, aber noch keine Wünsche empfindenden Lebewesen offenbar nur noch die Fische, Amphibien und Reptilien.

Es verblüfft, wenn Singer und andere Utilitaristen annehmen, daß die bloß-empfindungsbegabten Tiere ebenfalls Interessen hegten, jedoch keine zukunftsgerichteten. So hätten sie z.B. Bedürfnisse nach Nahrung und Schmerzfreiheit. Hier hat schon Jean-Claude Wolf (1994a) darauf hingewiesen, daß jedes Interesse, auch die eben genannten, einen zumindest minimalen Zukunftsbezug impliziert.

Vielleicht als Reaktion auf Einwände dieser Art konkretisierten einige Tierphilosophen, daß erst das Vorliegen längerfristiger Wünsche - solche, die über den nächsten Schlaf hinausreichen - für das Tötungsverbot relevant seien (Hoerster 1991; Rippe 1993; Singer 1994). Die Kette der Wünsche einer Katze, meint Norbert Hoerster, höre spätestens in dem Augenblick auf, in dem sie einschläft. Deshalb hätte sie kein Überlebensinteresse.5

Ähnlich äußert sich Klaus Peter Rippe (1993, S.172): "So ist es eine weit verbreitete und nicht unbegründete Ansicht, daß Katzen nur gegenwartsbezogene Wünsche haben. Der Begriff "gegenwartsbezogener Wunsch" ist jedoch klärungsbedürftig. Auch diese Wünsche erstrecken sich schließlich in die Zukunft. Eine durstige Katze hat den Wunsch, sofort zu trinken...Es fehlen Katzen aber Wünsche, die längerfristiger in die Zukunft bezogen sind. Es gibt keine zukunftsbezogenen Wünsche, aus denen sich ein Lebensrecht ableiten ließe."

Es ist nicht unplausibel, das Leben von Lebewesen, die allenfalls in die ganz unmittelbar vor ihnen liegende Zukunft schauen können, für weniger wertvoll anzusehen als das von Lebewesen, die zu weitreichenden Zukunftsplänen in der Lage sind. Der Ausprägungsgrad bewußter Zukunftsorientiertheit von Lebewesen dürfte jedoch in der Realität in einer Vielzahl von Abstufungen vorliegen, der Hoersters Zwei-Klassen-Einteilung nicht gerecht wird. Hiermit die Alles-oder-Nichts-Entscheidung zu verknüpfen, wann ein Lebewesen ein volles oder aber gar kein Lebensrecht erhält, ist überhaupt nicht überzeugend. Wenn der Besitz von Wünschen, die den nächsten Schlaf überdauern, begründen soll, warum wir ein Lebewesen - außer unter sehr besonderen und extremen Umständen - niemals töten dürfen, warum sollten dann kurzfristigere Wünsche gar kein Grund sein, ein Lebewesen nicht zu töten?

Nach der strengsten Variante des interessenorientierten Ansatzes zum Tötungsverbot - vertreten z.B. von Ruth Cigman (1980), Günther Patzig (1986) und Dieter Birnbacher (1995, 1999) - muß ein Lebewesen, damit man es nicht töten darf, den bewußten Wunsch nach Überleben und Weiterleben selbst hegen. Voraussetzung hierfür seien eine Vorstellung und ein Konzept vom Tod und Selbstbewußtsein.6

Günther Patzig (1986, S.135) führt z.B. aus, das Tier verhalte sich "in akut bedrohlichen Situationen aufgrund seines genetischen Programms so, daß es auf jede Weise versucht, aus dieser Situation herauszukommen. Aber Todesangst kann man das nicht im eigentlichen Sinne des Wortes nennen, weil das Tier nicht weiß, daß seine Existenz durch den Tod vernichtet wird. Es kann sich nicht vorstellen, wie es ist, nicht mehr zu existieren." Dagegen sei die Todesangst des Menschen "in dem Wissen begründet, daß irgendwann einmal sein Leben unwiderruflich beendet sein wird und es ihn dann nicht mehr gibt....Deshalb hat der Mensch einen Anspruch darauf, daß diese seine Todesangst und sein daraus resultierender Wille zum Leben respektiert werden, während beim Tier nichts dafür spricht, daß es in vergleichbarer Weise ein solches Interesse am Weiterleben hat."

Wiederum scheint es plausibel, dem Leben selbstbewußter Lebewesen einen besonders hohen Wert zuzuordnen, nicht aber, allen anderen empfindenden Lebewesen gar keinen Lebensschutz um ihrer selbst willen einzuräumen. Selbstbewußtsein wird im Tierreich nur bei Menschenaffen und Delphinen vermutet. Doch auch bei diesen Tieren kann bezweifelt werden, daß sie zusätzlich ein Todesbewußtsein haben, also wissen, daß sie eines Tages sterben und nicht mehr da sein werden.

Aus dem utilitaristischen Interessenansatz folgt keineswegs zwingend, daß allein der bewußte Überlebenswille von Lebewesen ausschlaggebend sein müsse. Kritiker (Johnson 1983; Ach 1999) weisen darauf hin, daß Tiere, die Wünsche hegen, diese immer nur unter der Voraussetzung ihres Weiterlebens erfüllen können. Wir können überhaupt keine Wünsche von Tieren respektieren, ohne sie weiterleben zu lassen. Johann S. Ach (1999) führt eine Unterscheidung zwischen Wünschen und Interessen ein und plädiert dafür, auch dasjenige als im Interesse eines Lebewesens liegend aufzufassen, was eine Bedingung dafür ist, daß es seine Wünsche erfüllen kann. Jean-Claude Wolf (1994a, 1995) und Ursula Wolf (1990) sind der Auffassung, daß das, wie sie es nennen, Weitermachenwollen der Tiere als Indiz ihres Lebensbedürfnisses genommen werden könne, auch wenn die Tiere kein gedankliches Konzept von Leben und Tod haben. Ich füge hinzu: Indem Tiere Dinge gern tun, drücken sie Gefallen an ihrem Leben aus. Unter der Perspektive eines weiten Interessenbegriffs mag dies als Interesse am Leben gelten.

1.2 Im Folgenden komme ich zu einer grundsätzlicheren Kritik der Position der Wunschdurchkreuzung, bei der die Idee, den Lebenswert von Lebewesen in ihren Wünschen zu suchen, selbst infrage gestellt wird.7

Betrachten wir hierzu uns selbst. Der Gedanke, daß der Wert des Weiterlebens für uns darin liegt, daß wir weiterleben wollen und Pläne für unsere Zukunft haben, mag auf den ersten Blick bestechen. Doch erhebt er ja Alleingeltungsanspruch und bedeutet strenggenommen, daß der Wert des noch vor uns liegenden Lebens allein in unseren momentan gehegten Wünschen aufginge. Hier ist aber doch einzuwenden, daß unsere Zukunft keine Veranstaltung zur Erfüllug von Wünschen ist. Es gibt Wünsche, die nie in Erfüllung gehen, und wieder andere, die, wenn sie Realität werden, sich als Frustration entpuppen. Viele unserer Wünsche verschwinden einfach wieder und werden durch neue und andere ersetzt. Auch haben wir oft überraschende Erlebnisse von Freude und Erfüllung, auf die gar kein zuvor gehegter Wunsch gerichtet war.

Einwände ergeben sich auch dann, wenn der abstrakte Überlebenswunsch selbst maßgeblich sein soll. Im allgemeinen denken wir eher nur sporadisch daran, weiterleben zu wollen, und über längere Phasen hinweg tun es Menschen auch gar nicht, Kleinkinder z.B., Depressive oder alte Menschen, die nicht mehr am Leben hängen. Stärker debile Menschen denken vielleicht nie ans Überlebenwollen. Unseren Lebenswert allein an unsere Zukunftsorientierung zu knüpfen, ist auch deshalb befremdlich, weil wir selber doch auch unser Augenblicks- und Gegenwartserleben wertschätzen. Ja, was wäre unser Lebensgefühl ohne die Fähigkeit, den Augenblick zu erleben? (Auch unsere Wünsche bleiben in gewisser Hinsicht immer an Gegenwart gebunden. Einen Wunsch habe ich, weil ich ihn jetzt habe, und seine Realisierung möchte ich einmal als wirklich und gegenwärtig erleben.)

 

2 Beraubung

Der Wunschdurchkreuzungsthese steht die Position gegenüber, alle Lebewesen, die über eine innere Welt, d.h. die Fähigkeit zum Erleben, zum Subjektsein verfügen, um ihrer selbst willen wertzuschätzen. Sie wird in einer radikalen und einer moderaten Version vertreten: erstere besagt, daß alles empfindende Leben den gleichen Wert genießen solle (Johnson 1983; Sapontzis 1987; Jean-Claude Wolf 1994b, 1995), letztere, Lebewesen als um so wertvoller anzusehen, je reicher und komplexer ihre mentale Welt ist (Jamieson 1983; Rodd 1990; DeGrazia 1996).

Die Vertreter der radikalen Version können wir auch Egalitaristen nennen. Der egalitaristischen Position läßt sich entgegenhalten, daß es dann, wenn wir Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt für wert schätzen, rational ist, ein Mehr an Erfahrungsmöglichkeiten höher wertzuschätzen.8 Wodurch aber schaden wir einem sich als Subjekt erlebenden Lebewesen, wenn wir es schmerzlos töten? Als Exponent der Singerkritik stellte hier Tom Regan (1988) die Beraubungsthese auf: Wenn wir ein Lebewesen töten, rauben wir ihm das Stück Leben, das es ansonsten noch gelebt hätte, und die darin enthaltenen Möglichkeiten von Befriedigung und Erfüllung. Es leuchtet ein, daß das Unrecht der Tötung in der Verkürzung des Lebens und der Vereitelung weiterer Erlebens- und Erfahrungsmöglichkeiten liegt.

Andere Autoren (Rodd 1990; Jean-Claude Wolf 1994a, 1994b, 1995; Hauskeller 1995) modifizierten Regans These dahingehend, daß ein Lebewesen dadurch, daß es getötet wird, nicht eigentlich seine Zukunft, sondern seine fortlaufende Anwesenheit in der Gegenwart verliert. Das Wesen des Bewußtseins sei es, sich als fortlaufend gegenwärtig zu erleben, und die Angst vor dem Tod sei die Angst, dieser ständigen Gegenwart entzogen zu werden. Die Beendigung der Kontinuität eines Bewußtseinsstromes mache die moralische Verwerflichkeit der Tötung aus.

Auf zwei Kritiken an der Beraubungsthese soll kurz hingewiesen werden. Die erste bezieht sich auf Regans Version und besagt, daß, wenn der Schaden der Tötung in der Vereitelung von Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten liegt, das Leben von Lebewesen als um so wertvoller gelten müßte, je jünger sie sind. Föten müßten dann den höchsten Lebenswert überhaupt tragen (Rippe 1994). In der Tat scheint die Tragik des Todes nicht einfach eine Funktion des Verlustes an Lebenszeit und zukünftigen Lebensmöglichkeiten zu sein. Zwar gilt normalerweise der Tod eines jungen Erwachsenen als bedauerlicher als der eines alten Menschen, aber ebenso als bedauerlicher als der eines Kleinkindes.9 Doch scheint es mir vorschnell, deshalb den Gedanken ganz zurückzuweisen, daß die Verwerflichkeit der Tötung im Ausschluß der weiteren Erfahrungsmöglichkeiten des Opfers liegt.

Das zweite Kritikargument lautet, daß der Tod in der Aufhebung aller Empfindungen besteht, auch der des Beraubtseins. Jörg Luy (1998) vertritt in seiner Dissertation über "Die Tötungsfrage in der Tierschutzethik" den auf Epikur zurückgehenden Standpunkt, daß der eigene Tod kein Übel sei, weil er, mangels Subjekterleben, nicht als Übel empfunden werden könne. Die schmerzlose Tötung eines Tieres könne deshalb gegenüber dem getöteten Tier kein Unrecht sein. (Menschen hingegen hätten sich, offenbar weil sie irrationalerweise ihren Tod fürchten, untereinander auf ein Tötungsverbot verständigt.) Doch möchten wir kaum glauben, daß der Tod nicht selbst von Übel ist.10 Sollte er keines sein, wäre davon die utilitaristische Position genauso betroffen: denn der Interessendurchkreuzung durch den Tod folgt kein Frustrationserlebnis.

3 Die Tötungsproblematik im Tierversuch

Welches sind die Konsequenzen der genannten Positionen für den Bereich der Tierversuche?

Nach dem interessenorientierten Ansatz zum Tötungsverbot können wir empfindungsfähige Tiere, die nicht die Fähigkeit besitzen, Wünsche oder bestimmte Wünsche zu hegen, für Versuchszwecke problemlos opfern. Verschiedene utilitaristische Tierethiker sprechen sich zwar grundsätzlich gegen alle Tierversuche aus, die nicht mit höherer Wahrscheinlichkeit einen therapeutischen Nutzen erwarten lassen, so z.B. die Versuche aus der Grundlagenforschung. Doch dürfte diese Einschränkung, genaugenommen, nur die mit Leiden verbundenen Tierversuche betreffen, nicht dagegen Versuche an betäubten Tieren, die anschließend getötet werden.

Tötungen von Versuchstieren, die zukunftsgerichtete Wünsche oder bestimmte zukunftsgerichtete Wünsche haben, müßten dagegen als überaus problematisch angesehen werden, da diese Tiere ja ein volles Lebensrecht erhalten sollten. M.E. ist aber eine utilitaristische Argumentation denkbar, daß unter bestimmten Umständen auch das Leben dieser Tiere geopfert werden könne.

Es müßte sich um Versuche handeln, die die Rettung oder Verlängerung von Menschenleben zum Ziel haben. Könnten mittels solcher Versuche mehr Leben oder auch Lebensjahre oder auch Lebensjahre mit höherer Qualität gerettet oder erhalten werden, als durch Tötungen im Versuch verloren gehen, müßte dies für den Utilitaristen als Rechtfertigung gelten.

Dies bedeutet nicht, daß man auch Menschen für die betreffenden Ziele töten dürfe. Interessant ist hier, sich klar zu machen, daß utilitaristische Tierethiker von einer Mensch-Tier-Gleichheit in Sachen Leiden ausgehen: das Leiden eines Tieres solle moralisch genauso ins Gewicht fallen wie das eines Menschen. Dennoch könnten einzig mit Leiden verbundene Tierversuche rechtfertigt werden, nicht dagegen erzwungene Menschenversuche. Letztere würden so fatale Nebenwirkungen zeigen, daß eine Positivbilanz für sie nicht denkbar ist .

Verwirrend ist der Umstand, daß je nachdem, welche Art von Wunschbefähigung einem Lebewesen Lebensschutz verleihen soll, die Tötung ein und desselben Tieres mal als problemlos, mal als besonders verwerflich gilt. Besonders irritierend ist dies, wenn wir Tierversuche betrachten, bei denen die Tiere betäubt und anschließend getötet werden: Sind dies Versuche, die am ehesten rechtfertigbar oder verzeihlich sind, oder ganz im Gegenteil Versuche, die uns besonders stark entrüsten sollten?

Wenn wir den Wert von Lebewesen nach dem Reichtum ihrer mentalen Welt gewichten wollen - der im Vortrag dargestellte alternative Ansatz -, können wir argumentieren, daß Tiere für menschliche Überlebens- und für höherstehende menschliche Gesundheitsinteressen geopfert werden dürfen. Die betreffende Position ist mit der Forderung des Tierschutzgesetzes gut vereinbar, für Tierversuche möglichst niedrig entwickelte Tiere heranzuziehen. Einige wichtige Fragen bleiben jedoch noch offen: Wie gewichtig müssen menschliche Gesundheitsinteressen sein, um die Tötung auch höher entwickelter Tiere zu rechtfertigen? Ist es schwerwiegender, einem Tier Leiden zuzufügen oder es zu töten? Inwieweit spielen hier das Ausmaß des Leidens, bleibende Schäden und die Entwicklungshöhe des Tieres eine Rolle?

 

 

Anmerkungen

1 Wegen der gebotenen Kürze des Textes verzichte ich hier auf eine Diskussion des Ersetzbarkeitsarguments. Gute Kritiken an ihm finden sich bei Regan (1983), Jean-Claude Wolf (1994a) und Flury (1999).

2 Z.B. heißt es bei Angelika Krebs, daß die Verwerflichkeit der Tötung von Tieren davon abhängt, "ob Tiere in die Zukunft gerichtete Projekte verfolgen, ob man ihnen also etwas nimmt, wenn man ihnen die Zukunft nimmt." Die Autorin fährt fort: "Sind die meisten Tiere nur "Gegenwartsgeschöpfe", verstößt man, wenn man sie schmerz- und angstfrei tötet, somit nicht gegen den moralisch gebotenen Respekt für ihr gutes Leben, wohingegen man gegen diesen Respekt verstößt, wenn man sie quält." (Krebs 1993, S. 999)

Die Vorstellung, daß das Erleben aller oder oder doch der meisten Tiere ganz im Augenblick aufgeht, wird längst nicht nur von Utilitaristen vertreten und hat in der Geistesgeschichte eine lange Tradition. Jean-Claude Wolf spricht deshalb vom "Mythos der Augenblicksgebundenheit der Tiere".

3 Welchem der Wunschkonzepte Singer selbst anhängt, bleibt unklar. Mal scheint er - im Sinne der vorliegenden Version - dafür einzutreten, daß die Fähigkeit, überhaupt Wünsche zu haben, bereits ein Lebensrecht fundiert (Singer 1996, S. 365f., 1999, S. 326f.), anderen Stellen seiner Texte zufolge hängt er jedoch eher den nachfolgend aufgeführten Varianten der Wunschdurchkreuzungsposition an (Singer 1994, S. 129, 165, 167).

4 Zur biologischen Funktion von Gefühlen und zur Verschränkung von Emotion und Kognition siehe z.B. Zimmer (1984), Nesse (1989), Rost (1990), Goller (1992).

5 Ähnlich Rippe: "So ist es eine weit verbreitete und nicht unbegründete Ansicht, daß Katzen nur gegenwartsbezogene Wünsche haben. Der Begriff "gegenwartsbezogener Wunsch" ist jedoch klärungsbedürftig. Auch diese Wünsche erstrecken sich schließlich in die Zukunft. Eine durstige Katze hat den Wunsch, sofort zu trinken...Es fehlen Katzen aber Wünsche, die längerfristiger in die Zukunft bezogen sind. Es gibt keine zukunftsbezogenen Wünsche, aus denen sich ein Lebensrecht ableiten ließe." (Rippe 1993, S. 172)

6 Günther Patzig führt z.B. aus, das Tier verhalte sich "in akut bedrohlichen Situationen aufgrund seines genetischen Programms so, daß es auf jede Weise versucht, aus dieser Situation herauszukommen. Aber Todesangst kann man das nicht im eigentlichen Sinne des Wortes nennen, weil das Tier nicht weiß, daß seine Existenz durch den Tod vernichtet wird. Es kann sich nicht vorstellen, wie es ist, nicht mehr zu existieren." Dagegen sei die Todesangst des Menschen "in dem Wissen begründet, daß irgendwann einmal sein Leben unwiderruflich beendet sein wird und es ihn dann nicht mehr gibt....Deshalb hat der Mensch einen Anspruch darauf, daß diese seine Todesangst und sein daraus resultierender Wille zum Leben respektiert werden, während beim Tier nichts dafür spricht, daß es in vergleichbarer Weise ein solches Interesse am Weiterleben hat." (Patzig 1986, S. 135)

7 Zur nachfolgenden Kritik vergleiche Teutsch (1994/95), Jean-Claude Wolf (1994a, 1994b), Hauskeller (1995), DeGrazia (1996), Klein (1998, 2000).

8 Für eine ausführlichere Kritik am Egalitarismus siehe Klein (1998).

9 Zur näheren Diskussion siehe Dworkin (1994, S. 125-9).

10 Philosophische Begründungen, warum der Tod ein Übel ist, finden sich bei Nagel (1979) und Leist (1990).

 

 

 

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