Didaktische Prinzipien
Karl-Heinz Flechsig
Inhalt:
Vorüberlegungen zu Begriffen und Funktionen
didaktischer Prinzipien
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Der Begriff "Prinzip" wird sowohl in der Umgangssprache als auch in verschiedenen
wissenschaftlichen Disziplinen verwendet. Im besonderen hat er in der Geschichte
der Philosophie eine lange Geschichte. Im vorliegenden Rahmen ist an eine
breite Aufarbeitung des Begriffs über die Pädagogik hinaus jedoch
nicht zu denken.
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In der Pädagogik ("Erziehungsprinzipien") und in der Didaktik tritt
der Begriff in unterschiedlichem sprachlichen Gewand auf: als "Grundsatz",
"Unterrichtsprinzip" oder "didaktisches Prinzip", gelegentlich auch als
"Zweck", "Sinn" oder "Grund". Eine Beschäftigung mit dem Begriff "didaktisches
Prinzip" wird daher das sprachliche Umfeld der - vermuteten oder
tatsächlichen - Synonyma mit einzubeziehen haben.
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Die Frage, ob man in der Didaktik prinzipienpluralistisch oder prinzipienmonistisch
vorgehen sollte, ist zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Autoren
unterschiedlich beantwortet worden.
KOMENSKY (Große Didaktik) leitet aus einem obersten Prinzip der "Naturgemäßheit"
neun "Grundsätze zu sicherem Lehren und Lernen" ab, nämlich
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Die Natur unternimmt alles zu seiner Zeit.
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Die Natur bereitet den Stoff zu, bevor sie ihm Form gibt.
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Die Natur wählt für ihre Bearbeitung einen tauglichen Stoff.
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Die Natur bringt ihre Tätigkeiten nicht durcheinander.
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Die Natur beginnt mit all ihrer Tätigkeit von innen her.
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Die Natur beginnt bei allem, was sie bildet, mit dem Allgemeinsten und
hört mit dem Besondersten auf.
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Die Natur macht keinen Sprung, sie geht schrittweise vor.
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Wenn die Natur etwas beginnt, hört sie nicht wieder auf, bevor sie
es vollendet hat.
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Die Natur meidet sorgfältig, was ihr entgegenwirkt oder schadet.
Auch SCHLEIERMACHER (Schriften I, 266 ff.) versucht, ein allgemeines Prinzip
des Unterrichts zu formulieren, von dem er auf systematische Weise und
durch Hinzunahme neuer Elemente spezielle Prinzipien ableitet. Es lautet:
"Die ganze Reihe von Tätigkeiten ist so einzurichten,
daß alles, was die Zeit erfüllt und als Aufgabe gestellt wird,
seine Befriedigung in sich selbst und in dem Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen
trage. Die Kautel ist diese, daß der Jugend nicht gegeben werde,
was bloß für die Zukunft seinen Wert habe" (268).
KLINGENBERG (Einführung in die allgemeine Didaktik) entscheidet sich
demgegenüber für eine Liste von 9 (sicl) didaktischen Prinzipien:
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Einheit von wissenschaftlicher Bildung und allseitiger sozialistischer
Erziehung auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus.
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Verbindung von Unterricht und produktiver Arbeit.
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Planmäßigkeit und Systematik des Unterrichts.
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Fächerübergreifende Koordinierung.
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Führende Rolle des Lehrers und Selbsttätigkeit der Schüler.
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Faßlichkeit des Unterrichts.
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Individuelles Eingehen auf die Persönlichkeit des Schülers.
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Anschaulichkeit.
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Ständige Ergebnissicherung.
Allerdings räumt KLINGENBERG ein, daß diese Prinzipien in einem
systematischen Zusammenhang stehen.
DERBOLAV (Versuch einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Didaktik)
schließlich versteht didaktische Prinzipien als "Sinnprinzipien",
d. h. als Grundsätze, die den Prozeß der Identitätsbildung
durch geistige Aneignung von Kultur ("Im-andern-zu-sich-selber-kommen")
regulieren:
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das Elementare,
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das Fundamentale,
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das Exemplarische,
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das Prinzip der existentiellen Konzentration und der Begegnung als existentieller
Selbstwerdung und
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die Bildungskategorie.
HEIMANN spricht an einer Stelle (Didaktik als Unterrichtswissenschaft 160)
von einem "Prinzipien-Kanon (Anschaulichkeit, Selbsttätigkeit), der
sich um ständige Neubildungen zu erweitern scheint".
HIMMERICH, der die "Lehrerdidaktik" des 19. Jahrhunderts kritisiert,
weist darauf hin, daß in ihr didaktische Prinzipien als Handlungsregeln
für den Lehrer verstanden wurden: "Die (Unterrichts-)Theorie wird
unversehens zur Unterrichtsmethodik, zur Handlungsanweisung für den
Lehrenden, zum Regulativ nach didaktisch kanonisierten Prinzipien, in abgeschwächter
Form zum "Guten Ratgeber" für die Praxis" (29).
Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um zu illustrieren,
daß nicht nur didaktische Prinzipien historische Gebilde sind, sondern
daß auch der Begriff des "didaktischen Prinzips" dem historischen
Wandel unterworfen ist und von gleichzeitig existierenden Richtungen der
Didaktik wie auch von einzelnen Autoren unterschiedlich verstanden wird.
Dies sollte nun kein Anlaß zur Resignation sein, sondern als Herausforderung
empfunden werden, den "Dschungel zu durchdringen". Die folgenden Fragestellungen
seien als Strukturierungshilfen hierfür angeboten. Wenn dabei von
einem "Autor" die Rede ist, so steht dies ebenso für Autorengruppen
und "Schulen"
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Verwendet der Autor den Begriff didaktisches Prinzip primär in einem
geisteswissenschaftlich, erfahrungswissenschaftlich oder handlungswissenschaftlich
orientierten Verständnis von Didaktik?
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Nimmt der Autor mehrere didaktische Prinzipien ("Kanon", "Katalog", "Inventar")
an, wenn ja, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander (z. B. hierarchisch
geordnet, nach Prioritäten gegliedert, konflikterzeugend, harmonisierend
etc.)?
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Um welche didaktischen Prinzipien handelt es sich?
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Wie begründet der Autor diese?
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Wird die geschichtliche Herkunft der didaktischen Prinzipien diskutiert?
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Welche Funktionen werden den didaktischen Prinzipien zugesprochen?
Indem man an ausgewählten Fällen in eine solche Analyse eintritt,
kann man - hoffentlich - folgende Erkenntnisse gewinnen:
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Den Begriff "didaktisches Prinzip" besser verstehen lernen als
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(geisteswissenschaftlich betrachtet) Beleg für Konstanz und Wandel
überlieferter Ziel- und Gestaltungsvorstellungen von Unterricht und
ihrer Begründungen,
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(handlungswissenschaftlich betrachtet) übergreifende Handlungsempfehlungen,
die sich auf (mehr oder weniger gut) ausgewiesene empirische und normative
Prämissen gründen, und
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(erfahrungswissenschaftlich betrachtet) Kriterien externer Validität
von didaktischen Experimenten sowie empirische Erklärungen für
Lerneffekte.
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Mit Auflistungen didaktischer Prinzipien, wie sie von einzelnen Autoren
gegeben werden, umgehen können, sie insbesondere historisch ein- und
zuordnen können.
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Die Begründungen didaktischer Prinzipien nachprüfen, insbesondere
ihren empirischen und normativen Gehalt abschätzen können.
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Zu einem Urteil darüber zu gelangen, welchen Wert die Formulierung
didaktischer Prinzipien haben, welche Defizite ihr Fehlen haben kann für
Analyse und Planung von Unterricht.
Nicht erreichbar dürfte im vorliegenden Rahmen eine historische und
systematische Analyse der historisch am langfristigsten und/oder derzeit
am weitesten verbreitet erörterten didaktischen Prinzipien (z. B.
Anschaulichkeit, Selbsttätigkeit, Entwicklungsgemäßheit,
Lebensbezug, Individualisierung etc.) sein.
Aussagen über didaktische Prinzipien
Aussagen über didaktische Prinzipien sind Aussagen normativen Charakters;
sie haben zum Inhalt allgemeine Handlungsregeln zur Gestaltung von Unterricht,
wobei der Allgemeinheitsgrad größer ist als der von konkreten
Handlungsempfehlungen oder Handlungsanweisungen und nicht so groß
wie der von sozialen Normen bzw. Handlungsanweisungen zum "rechten Leben".
Ihrer sprachlichen Form nach sind sie zumeist auf einen oder zwei Begriffe
reduziert "Selbsttätigkeit", "Anschaulichkeit", "Lebensnähe"),
müssen daher logischerweise um ihren didaktischen Bezug als auch um
ihren Adressaten zu Aussagen ergänzt werden (z. B. "Lehrer sollen
Unterricht so planen, durchführen und bewerten, daß Ihre Handlungen
mit dem Prinzip der Anschaulichkeit übereinstimmen").
Didaktische Prinzipien sind historische Gebilde, d. h. sie lassen sich
in aller Regel auf den in einer bestimmten historischen Situation vorhandenen
und durch einen "klassischen" Autor in dieser Formel verdichteten Stand
an Erkenntnissen und Wertvorstellungen zurückführen, und sie
waren in aller Regel dem historischen Wandel unterworfen, so daß
sie im Laufe der Zeit modifiziert wurden, mehrere "Schichten" angelagert
haben und insofern interpretationsbedürftig sind.
Ebenso wie bei politisch-gesellschaftlichen oder ethisch-moralischen
Prinzipien läßt sich bei didaktischen Prinzipien Pluralismus
erkennen, d. h. daß (unbeschadet der Tatsache, daß in früheren
Zeiten in unserem Kultursystem monistische Ansätze auszumachen sind)
gegenwärtig eine Vielzahl didaktischer Prinzipien bekannt und/oder
anerkannt ist, die untereinander in mehr oder weniger deutlicher Verbindung
stehen. Somit ist weder eine generelle Deduzierbarkeit des Kanons didaktischer
Prinzipien aus einem "obersten" didaktischen Prinzip anzunehmen, noch eine
vollkommene Trennschärfe.
Für die Unterrichtsforschung haben didaktische Prinzipien eine
systematische Funktion, besonders bei der Strukturierung von Begründungen
von Unterrichtspraxis: Mit ihrer Hilfe lassen sich die jeweils zur Begründung
einer didaktischen Praxis herangezogenen empirischen Prämissen und
normativen Prämissen aufeinander beziehen und einander zuordnen, so
daß die Begründung von Praxis nicht angewiesen ist auf eine
(logisch unhaltbare) Deduktion didaktischer Handlungen aus Einzelbefunden
der (Lern-, Sozialisations-, Lehrerverhaltens- etc.)Forschung einerseits
oder auf die Deduktion aus normativen Prämissen (moralischer, religiöser,
politischer Art etc.) andererseits im didaktischen Prinzip sind - sofern
es diesen Anspruch erhebt - ausgewählte empirische und normative Prämissen
dem historischen Stand von Forschung und moralischen Bewußtsein entsprechend
integriert. Durch entsprechende Interpretation und Explikation müssen
sie daher aufweisbar sein, genauer: derjenige, der sich bei der Begründung
von Unterrichtspraxis auf ein didaktisches Prinzip beruft, muß in
der Lage sein, die damit gemeinten empirischen und normativen Prämissen
zu explizieren; nur dann darf er das Prinzip - sozusagen als Kürzel
- als Begründungselement anführen.
Gütekriterien zur Beurteilung einzelner didaktischer
Prinzipien
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Historische Gültigkeit: Hat das betreffende didaktische Prinzip eine
Geschichte, wenn ja, welche?
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Empirischer Gehalt: Welcher Tatsachenbereich (Lehrplan, Lehrmethode, Medien-
auswahl etc.) wird von dem didaktischen Prinzip erfaßt?
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Normativer Gehalt: Welchen sozialen Normen, ethischen Maximen, religiösen
Werten entspricht das didaktische Prinzip?
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Quantität und Qualität praktischer Belege: Wie groß ist
der Umfang dokumentierter Unterrichtspraxis, der sich auf dieses didaktische
Prinzip beruft und wie ist die Qualität dieser Praxis einzuschätzen?
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Allgemein-didaktische Bedeutsamkeit: Handelt es sich um ein didaktisches
Prinzip, das nur für einen speziellen Fachbereich formuliert wird
oder für Unterricht ganz allgemein?
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Spezifisch "didaktischer" Gehalt: Handelt es sich um ein primär auf
Unterricht bezogenes Prinzip oder hat es übergreifende Bedeutung für
verschiedene andere Lebensbereiche?
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Trennschärfe: Unterscheidet sich das didaktische Prinzip deutlich
von anderen bekannten didaktischen Prinzipien, oder ist es eher eine Variante
eines didaktischen Prinzips?
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Ausgewiesenheit der Bezugsinstanz: An welche Person, Gruppe, oder Institution
richtet sich das didaktische Prinzip als Handlungsregel?
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Erfaßt das didaktische Prinzip eine oder mehrere didaktische Handlungsebenen?