Orientierungen zur Interkulturellen Didaktik
Wer sich im unbekannten Gelände orientieren will, braucht nicht
nur eine möglichst gute Landkarte. Er muß auch seinen eigenen
Standpunkt kennen. Und er muß Vorstellungen darüber haben, wohin
er sich auf welchem Wege und auf welche Weise begeben könnte und möchte.
Die folgenden Texte sollen in diesem Sinne eine Orientierungshilfe
in dem (noch) weitgehend unbekannten Gelände Interkultureller Didaktik
sein. Sie sollen deshalb
-
einen ersten groben Überblick über das mit dem Begriff "Interkulturelle
Didaktik" Gemeinte liefern,
-
zur Klärung des eigenen Standpunktes kulturelle und didaktische
Selbsterfahrung und Selbstreflexion ermöglichen und
-
Perspektiven für Studium und Praxis eröffnen.
1.1 Interkulturelle Didaktik: Ein Beispiel
1.2 Interkulturelle Didaktik: Was ist das?
1.3 Interkulturelle Didaktik: Wie ist das entstanden?
1.4 Interkulturelle Didaktik: Was kann man damit machen?
2.1 Menschliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Universalia,
Kulturstandards und individuelle Eigenschaften
2.2 Kulturelle Selbst- und Fremderfahrung
2.3 Der Umgang mit kulturellen Einflüssen
2.4 Didaktische Sozialisation
3.1 Vorblick auf Tätigkeitsfelder Interkultureller
Didaktik
3.2 Vorblick auf Wissensgrundlagen Interkultureller
Didaktik
3.3 Vorblick auf Perspektiven Interkultureller Didaktik
3.4 Vorblick auf Arbeitsformen
1. Mögliche Zugänge zu einem neuen Wissensgebiet
"Interkulturelle Didaktik"
GRUNDBEGRIFFE:
-
Didaktisches Handeln
-
Interkultureller Kontext
-
Integriertes / segregiertes Lernen
-
"Didaktiken"
Es gibt im Prinzip vier Grundfragen, mit denen sich Menschen neue Wissensgebiete
erschließen:
-
Was ist das ?
-
Wie ist das entstanden ?
-
Was kann man damit machen ?
-
Was ist ein gutes Beispiel dafür ?
Dabei unterscheiden sich Menschen in bezug auf die Frage, welchen Zugang
sie bevorzugen. Wir können das beobachten, wenn Leute ein neues Gerät
erhalten haben: Der eine will gleich etwas damit machen, der andere liest
erst einmal die Bedienungsanleitung, der dritte interessiert sich für
die Bestandteile, der vierte schließlich möchte erfahren, was
andere damit bisher gemacht haben. Es gibt für den Zugang zum Wissen
also nicht den einen besten "Königsweg", sondern es führen -
wie in anderen Fällen auch - mehrere Wege nach Rom. Entsprechend gibt
es auch mehrere Wege eines Zugangs zu dem neuen Wissensgebiet "Interkulturelle
Didaktik": Die einen möchten ein Beispiel, die anderen Anwendungen,
die dritten eine Begründung, warum dies, warum hier und warum jetzt.
Im folgenden sollen diese verschiedenen Zugänge eröffnet werden.
Beginnen wir mit einem Beispiel.
1.1 Interkulturelle Didaktik: Ein Beispiel
In den frühen 60er Jahren kamen junge Entwicklungshelfer aus den USA
nach Liberia ins Stammesgebiet der Kpelle, um dort "neue Mathematik" auf
mengenalgebraischer Basis zu lehren. Da sie naiv aber lernfähig waren,
konnten Sie aus dem Scheitern ihrer guten Absichten vieles lernen, z. B.
dies:
-
Die Kpelle können logisch denken und verfügen über Zahlbegriffe
und Zahlvorstellungen.
-
Ihre Logik ist jedoch eine andere als die unsere.
-
Diese Logik steht in engem Zusammenhang mit dem Weltbild der Kpelle.
-
Die Kpelle erlernen ihr Weltbild und ihre Logik auf andere Weise als dies
in Schulen ge- schieht.
-
Wenn man sich bemüht, das Weltbild und die Logik der Kpelle kennenzulernen,
und wenn man gleichzeitig die Verankerung der eigenen Logik im eigenen
Weltbild verstehen lernt, kann es durchaus gelingen, Methoden für
das Lehren und Lernen neuer Mathematik in modernen Schulen der Kpelle-Region
zu entwickeln.
Die jungen Entwicklungshelfer beschränkten sich aber nicht darauf,
ihre Unterrichtstechnologie den Bedingungen des kulturellen Kontextes der
Kpelle anzupassen. Sie stellten sich auch weitergehende Fragen wie diese:
-
Welche Gründe gibt es, daß Kinder der Kpelle zur Schule gehen
und dort neue Mathematik lernen sollen ?
-
Was ist unser Interesse, Ihnen dabei helfen ?
-
Über welche Erkenntnisse verfügen wir, auf die wir uns bei unseren
Analysen und Empfehlungen stützten können ?
-
Wie weit ist es uns gelungen, ähnliche Probleme im eigenen Land zu
lösen, so daß wir uns mit Recht anderen als Helfer anbieten
können ?
-
Was müssen wir erst noch lernen, bevor wir guten Gewissens Handlungsempfehlungen
aussprechen können ?
Für mich ist deshalb das Buch von GAY & COLE "New Mathematics
and an Old Culture" ein Klassiker und ein exemplarischer Fall Interkultureller
Didaktik. Alle oben aufgeführten Fragen lassen sich z. B. durchaus
anwenden auf aktuelle Situationen westeuropäischer "Entwick-lungshelfer",
die in osteuropäischen Ländern Wissen über "Marktwirtschaft"
vermitteln sollen oder wollen.
1.2 Interkulturelle Didaktik: Was ist das?
Auch Definitionen ermöglichen den Zugang zu neuen Wissensgebieten.
Für den Begriff "Interkulturelle Didaktik" erscheint die folgende
Definition besonders geeignet, da sie die wichtigsten Aspekte umfaßt:
Interkulturelle Didaktik ist
ein Fach bzw. Fachgebiet, dessen Aufgabe es ist,
für organisiertes Lernen,
Wissensaneignung
und didaktisches Handeln
in interkulturellen Kontexten
und kulturellen Überschneidungssituationen
wissenschaftlich begründete Empfehlungen
zu formulieren,
empirisch zu überprüfen und
theoretisch zu reflektieren. |
Diese Definition soll Ausgangspunkt für die anschließende
Erläuterung der in ihr enthaltenen zentralen Begriffe sein.
1.2.1 Organisiertes Lernen und Wissensaneignung
Unserer Definition liegt ein Lernbegriff zugrunde, dessen Kern die Erkenntnis
ist, daß Menschen in der Lage sind, Störungen zu regulieren,
die sich daraus ergeben, daß sich die Umwelt, die eigene Wahrnehmungsstruktur
und/oder die Beziehungen zwischen beiden ändern. Lernen kann demnach
als Entwicklung neuer Verhaltensweisen, neuer Kompetenzen und neuer Wahrnehmungs-
und Denkweisen betrachtet werden, die geeignet sind, daß Menschen
ihre Beziehungen zu ihrer Umwelt umgestalten und ins Gleichgewicht zu bringen
versuchen. Häufig angeführte Beispiele hierfür sind der
Spracherwerb des Kleinkinds oder die Aneignung von Rollenverhalten durch
unbewußte Nachahmung von Vorbildern. Lernen findet beim Menschen
kontinuierlich und "beiläufig" (incidentell) statt, sozusagen als
Begleiterscheinung seines alltäglichen Lebens. Von "organisiertem"
Lernen oder von "Lerntätigkeit" spricht man dann, wenn dieses Lernen
-
mit Bewußtsein (seitens des Lerners) geschieht,
-
aus dem alltäglichen Lebensprozeß ausgegliedert wird und
-
auf irgendeine Art institutionalisiert wird.
Ausgliederung aus dem alltäglichen bzw. allgemeinen Lebensprozeß
vollzieht sich dabei als spezielle Ausgliederung von
-
Lernorten und Lernräumen (z. B. Schulräumen),
-
Lernzeiten (z. B. Pflichtschulzeit),
-
Wissensbeständen (z. B. Kanon der Allgemeinbildung),
-
Kommunikationsformen (z. B. Lehrgespräch),
-
Medien (z. B. Lehrbücher),
-
Rollen (z. B. Lehrer) und
-
Aufgaben (z. B. Prüfungsaufgaben).
Der klassische Fall für organisiertes Lernen ist jene Art von Lerntätigkeit,
die in Schulen institutionalisiert ist. Es gibt aber auch andere Formen
der Institutionalisierung, z. B. in Form von individuellen Lernkontrakten,
getragen von Massenmedien ("Bildungsfernsehen") oder als vereinbarte Lernzeit
am Arbeitsplatz. In diesem Zusammenhang ist es international üblich
zwischen "formaler" (schulisch organisierter) und "nonformaler" (von anderen
Trägern und Einrichtungen wie z. B. Betrieben und Vereinen organisierter)
Bildung zu sprechen. In beiden Fällen geht es um bewußtes und
aus dem allgemeinen Lebens- bzw. Arbeitsprozeß ausgegliedertes Lernen.
Lediglich die Art der Institutionalisierung ist unterschiedlich.
Wenn wir von "Wissensaneignung" sprechen, so meinen wir im Prinzip das
Gleiche wie "organisiertes Lernen" und "Lerntätigkeit". Wir betonen
dabei jedoch mehr den Inhalt der Tätigkeit als den Prozeß. Lerntätigkeit
ist nämlich weitgehend darauf gerichtet, das in einer Kultur verfügbare
Wissen in persönliches Wissen zu überführen.
1.2.2 Didaktisches Handeln
"Didaktisches Handeln" umfaßt einen Tätigkeitsbereich, der
weiter reicht als das Handeln von Lernhelfern (Lehrern). Es umfaßt
auch das selbsttätige (autodidaktische, selbstorganisierte) Lernen
von erwachsenen und jugendlichen Lernern. Es umfaßt nicht nur die
Durchführung von Lehr- und Lerntätigkeit, sondern auch die Bereitstellung
eines organisatorischen Rahmens, in dem diese Tätigkeiten stattfinden
können. Und es umfaßt die Planung, die Analyse, die Begründung
und die Evaluierung organisierten Lernens. Tätigkeiten der Lehrplanentwicklung
gehören deshalb ebenso zum didaktischen Handeln wie die Herstellung
von Lehrmaterialien und Medien, Tätigkeiten der Lernberatung ebenso
wie solche der Lernkontrolle. Nicht zuletzt gehört auch die Unterrichtsforschung
im weiteren Sinne zum didaktischen Handeln - eingeschlossen die Dokumentation
und Verbreitung von Forschungsergebnissen.
Ähnlich wie im Bereich der Wirtschaftswissenschaften ist es auch
in der Didaktik sinnvoll, drei Handlungsebenen zu unterscheiden. Es sind
dies
-
Makrodidaktik: Didaktisches Handeln, das sich auf die Gestaltung
und Verbesserung ganzer Bildungssysteme und Bildungsprogramme bezieht;
-
Mesodidaktik: Didaktisches Handeln, das sich auf die Gestaltung
von Kursen und Blöcken bezieht;
-
Mikrodidaktik: Didaktisches Handeln, das sich auf die Gestaltung
von Lernphasen und Lehr-Lernsituationen kurzer zeitlicher Dauer bezieht.
1.2.3 Interkulturelle Kontexte und kulturelle Überschneidungssituationen
Was das nächste Merkmal anbelangt, nach dem der Gegenstandsbereich
Interkultureller Didaktik bestimmt wird - "interkulturelle Kontexte" -
so sei auch hier zunächst eine annähernde Bestimmung versucht.
Unter "interkulturellen Kontexten" sind Situationen zu verstehen, in denen
Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit einander begegnen
(BOCHNER 1982). Solche Situationen gibt es für Deutsche im Ausland
wie für Ausländer in Deutschland. Sie können beruflich oder
touristisch bedingt sein, der Bildung oder der Unterhaltung dienen, längere
oder kürzere Zeit dauern, mündliche oder schriftliche, persönlich
vermittelte oder medienvermittelte Kommunikation beinhalten und in intensiven
oder oberflächlichen Kontakten zwischen den beteiligten Menschen bestehen.
Ein für interkulturell-didaktisches Handeln besonders hervorzuhebender
Kontext ergibt sich dann, wenn deutsche Lehrer oder Dozenten Schüler
oder Studenten aus anderen Ländern bzw. unterschiedlicher kultureller
Herkunft unterrichten.
Die Zahl der Tätigkeitsbereiche und Tätigkeitsfelder, die
gegenwärtig Europäern und Deutschen in interkulturellen Kontexten
zugänglich sind oder kulturelle Überschneidungssituationen beinhalten,
ist jedoch weit größer: Kulturaustausch und Wirtschaftsbeziehungen,
Betreuung ausländischer Mitarbeiter in Unternehmen, Sozialarbeit mit
Ausländern im Inland, internationale Organisationen (EG, UNO etc.),
nicht zuletzt auch militärische Einsätze im Rahmen der UNO gehören
dazu.
In den letzten Jahren ist auch der Begriff "kulturelle Überschneidungssituation"
eingeführt worden, um den Sachverhalt zu bezeichnen, daß Menschen
Tätigkeiten im Ausland ausüben und/oder mit Menschen kulturverschiedener
Herkunft zusammenleben, zusammenarbeiten und kommunizieren. Der Begriff
enthält das Bild von zwei (oder mehr) Individuen oder Gruppen, deren
kulturelle Horizonte sich überlappen. Jeder Deutsche, der sich in
eine fremde Kultur begibt und jeder, der aus einer anderen Kultur in die
unsere kommt, trägt zunächst - bildlich gespochen - diesen seinen
kulturellen Horizont in sich und mit sich. Dieser Horizont beeinflußt
immer auch, was er wahrnimmt und wie er wahrgenommen wird, was er versteht
und wie er verstanden wird, was er tut und was mit ihm getan wird.
Je größer der Überlappungsbereich, desto größer
die Bedeutung füreinander - im positiven wie im negativen Sinn: Größere
Gemeinsamkeit und bessere Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten.
Aber auch größere Betonung von Verschiedenheit und größere
Konfliktpotentiale. Wer sich aus dem Weg geht, hat geringere Konflikte,
aber auch weniger Begegnungsmöglichkeiten.
Daß und wie kulturelle Überschneidungssituationen im positiven
Sinne genutzt werden, dazu können beide Seiten beitragen. Interkulturelles
Lernen - organisiertes und beiläufiges - ist der Weg zur Aneignung
interkultureller Kompetenz.
1.3 Interkulturelle Didaktik - wie ist das entstanden?
1.3.1 Integriertes und segregiertes Lernen
Schon frühe Stufen der Kulturentwicklung zeichnen sich dadurch
aus, daß Lernen auf zweierlei Weise geschieht: zum einen im Leben
selbst: Jagen wird bei der Jagd gelernt, Tanzen beim Tanzen und Sprechen
beim Sprechen. Dabei spielen Lernen durch eigene Erfahrung (durch Versuch
und Irrtum) sowie Lernen durch Beobachtung anderer (Imitation) die entscheidende
Rolle. Vor allem Kulturen, die sich über die Zeit hinweg nur wenig
wandeln, können auf diese Weise vor allem praktisches Wissen überliefern.
Man spricht in diesem Falle von integriertem Lernen.
Aber auch bestimmte Formen segregierten Lernens sind in Stammesgesellschaften
bereits bekannt. Segregiertes Lernen dient vor allem der Überlieferung
von "theoretischem" Wissen, d. h. von Weltanschauungen, Menschenbildern,
Erklärungsmustern und Wertvorstellungen. Es vollzieht sich in Formen
und Zusammenhängen, die aus dem Alltagsleben ausgegliedert (segregiert)
in speziellen Institutionen (z. B. initiationsvorbereitende Busch-Schulen)
übertragen werden.
Der US-amerikanische Anthropologe C. W. M. HART (1979) hat bei einem
Vergleich einer großen Zahl von Stammeskulturen festgestellt, daß
in allen Kulturen zwei typisch unterschiedliche Formen der Überlieferung
und des Lernens vorhanden sind.
Unterscheidungsmerkmale |
Lerntyp 1 |
Lerntyp 2 |
Art der Regulierung |
informell, beiläufig |
reglementiert |
Bezugspersonen |
Primärgruppe, Familie |
andere (Beauftragte) |
Atmosphäre |
locker |
traumatisierend |
Inhalte |
Alltagswissen
praktische Fähigkeiten |
Mythen, Geschichte,
symbolisches Wissen
("Wissenschaft"), Kunst |
Lernort |
integriert |
ausgegliedert |
Lernzeit |
integriert |
ausgegliedert |
Der Lerntyp 2, das segregierte Lernen, kann dabei als Grundtyp bzw. Vorläufer
von "Didaktiken" gesehen werden.
1.3.2 Das Entstehen von Didaktiken
Die Formen segregierten Lernens gewinnen zunehmend an Bedeutung, wenn
sich der Prozeß der Kulturentwicklung beschleunigt. Dies gilt besonders
dann, wenn Kulturen in Kontakt zu anderen treten. Lernen im Leben selbst
ist dann offensichtlich nicht mehr hinreichend, um die zunehmenden Wissensvorräte
zu überliefern, um sich an die veränderte Umwelt und/oder die
veränderten Weltanschauungen anzupassen. Es kommt zur Ausgliederung
spezialisierter Formen organisierten Lernens.
In Mitteleuropa beginnt ein solcher Prozeß der Ausgliederung spezieller
Formen organisierten Lernens im 9. Jahrhundert. Er geht einher mit jenem
Kulturkontakt, den wir als Christianisierung bezeichnen. Es entstehen die
ersten Dom- und Klosterschulen ebenso wie erste Sammlungen didaktischer
Handlungsanweisungen, z. B. für den Lateinunterricht.
Im 16. und 17. Jahrhundert erhält die Kulturentwicklung neue Impulse
durch die Entdeckung neuer Kontinente (Amerika), neuer Technologien (Buchdruck)
und neuer Welt- und Menschenbilder (Galilei). Die Einrichtung von Schulen
steigt sprunghaft an. Es entstehen umfassendere Systeme didaktischen Wissens,
die Vielfalt der Formen organisierten Lernens nimmt zu. Neben diesen "Praktiker-Didaktiken"
entstehen die ersten "Theoretiker-Didaktiken" (KOMENSKY).
Das Jahrhundert der Aufklärung und der französischen Revolution
wie auch das Jahrhundert der Industrialisierung und des Kolonialismus bringen
weltweit weitere starke Impulse für den Ausbau des organisierten Lernens.
Allerdings bleibt die Formenvielfalt zunächst begrenzt: Die Suche
nach der einen besten Lehrmethode bestimmt weithin die Bemühungen
der Didaktiker. Dies gilt auch für die wichtigste "Theoretiker-Didaktik"
des 19. Jahrhunderts, die Johann Friedrich HERBART entwickelte.
Erst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts steigt mit der Pädagogischen
Reformbewegung in Europa und den USA auch die Vielfalt der Formen organisierten
Lernens erheblich an. Dieser Differenzierungsprozeß setzt sich in
unsere Gegenwart hinein weltweit fort. Veränderte politische Verhältnisse
(Entkolonialisierung), technologischer und ökonomischer Wandel ("Computergesellschaft")
sowie Veränderungen im Bereich von Wissenschaft und Kommunikation
("Wissensexplosion") bringen eine weitere Zunahme des Umfangs und der Vielfalt
organisierten Lernens mit sich: Immer mehr Menschen gehen immer längere
Zeit zur Schule, immer mehr Betriebe, Behörden, Vereinigungen und
Einrichtungen entwickeln neue Formen organisierten Lernens, angefangen
vom Rundfunkkolleg über "Lernbüros" bis hin zu Lernnetzwerken
von Bürgerinitiativen. "Unterrichtswirklichkeit" der Gegenwart ist
nicht mehr nur die Schulklasse in der "kleinen roten Backsteinschule" mit
den spärlich ausgestatteten Räumen. Es ist die ganze Vielfalt
dessen, was Menschen erfunden haben, um Wissensüberlieferung und Wissensvermittlung
nicht dem Zufall zu überlassen, sondern in möglichst systematischer,
methodischer, effektiver und interessanter Weise zu gestalten.
Mit der Vielfalt der Praktiker-Didaktiken wächst auch die Zahl
der Theoretiker-Didaktiken. Nahezu alle theoretischen Strömungen der
Gegenwart - Behaviourismus und kognitive Theorien, Psychoanalyse und symbolischer
Interaktionismus, Systemtheorie und Chaostheorie bilden heute Grundlagen
für entsprechende Theoretiker-Didaktiken.
1.3.3 Endogene Entstehungsbedingungen für Interkulturelle
Didaktik
Unter den endogenen Entstehungsbedingungen der Interkulturellen Didaktik,
die gegenwärtig in Europa wirksam sind, ist zunächst ein beschleunigtes
Wachstum des Wissens im Bereich der Allgemeinen Didaktik zu nennen, der
vor allem durch folgende Umstände bedingt war:
-
Erweiterung der bis dahin weitgehend "germanozentrischen" Orientierung
der Allgemeinen Didaktik durch Rezeption ausländischer (vor allem
anglo-amerikanischer) Erkenntnisse über organisiertes Lernen und Lehren;
-
Erweiterung der bis dahin weitgehend am Kontext allgemeinbildender Schulen
orientierten Allgemeinen Didaktik durch Einbeziehung von Erkenntnissen
über Lehren und Lernen in der Berufsbildung und der (beruflichen oder
allgemeinen) Weiterbildung;
-
Erweiterung der bis dahin primär geisteswissenschaftlich und praxeologisch
orientierten Allgemeinen Didaktik durch neuere wissenschafts- und erkenntnistheoretische
Optionen, die einerseits empirisch-analytische, zum anderen technologisch-konstruktive
("instructional design") Orientierungen enthielten.
Allein diese Erweiterung brachte es mit sich, daß innerhalb der Allgemeinen
Didaktik Differenzierungen stattfanden, um eine wissenschaftlich seriöse
Bearbeitung der so erweiterten Problemfelder noch zu ermöglichen.
Zu diesen Differenzierungen gehört auch die Interkulturelle Didaktik,
die sich besonders solchen Problemen didaktischen Handelns und organisierten
(segregierten) Lernens zuwendet, die entstehen, wenn es sich um Tätigkeitsfelder
mit kulturverschiedenen Bezugsgruppen handelt.
Dennoch gehen Praktiker-Didaktiken und Theoretiker-Didaktiken bis heute
unausgesprochen von der Annahme aus, daß Lerner und Lernhelfer von
gleicher Kulturzugehörigkeit sind oder daß Kulturverschiedenheit
ohne Bedeutung ist. Auf dieser Annahme beruht das Konzept einer "Allgemeinen"
Didaktik. Diese Allgemeine Didaktik ist als Disziplin gedacht, die allgemeingültige
Aussagen über organisiertes Lernen und organisierte Wissensvermittlung
erzeugt und dabei nach und nach Wissen erzeugt, das letztlich weltweite
Geltung beansprucht.
Anerkennung haben bislang nur Unterschiede bezüglich der zu vermittelnden
Wissensinhalte und bezüglich der Bildungsinstitutionen gefunden: So
haben sich schon im 19. Jahrhundert "Fachdidaktiken" bzw. "Fach-Pädagogiken"
entwickelt: Fremdsprachen-Didaktiken, Mathe- matik-Didaktiken, Didaktiken
der Naturwissenschaften, Wirtschafts-Didaktiken (Wirtschafts- pädagogik)
u. a. m. Und es haben sich institutionenspezifische Didaktiken bzw. Pädagogiken
entwickelt: Grundschuldidaktik (-pädagogik), Gymnasialdidaktik (-pädagogik),
Berufspäda- gogik (-didaktik), Hochschuldidaktik (-pädagogik)
etc.
Daß die Kulturverschiedenheit der Lerner erst in jüngster
Zeit zum Differenzierungsmerkmal für Didaktik wurde, hat zwei Gründe:
Zum einen war zumindest in Deutschland die kulturverschiedene Zusammensetzung
von Lerngruppen und die Tätigkeit deutscher Lernhelfer im Ausland
ein relativ seltener Sachverhalt. Zum anderen - und dies gilt besonders
für klassische "multikulturelle Gesellschaften" wie die USA - wurde
modernen Bildungseinrichtungen ausdrücklich die Aufgabe der Anpassung,
Assimilation oder Integration kultureller Minderheiten oder ausländischer
(kolonisierter) zugewiesen. Deshalb war die Nichtbeachtung kultureller
Verschiedenheit eine wichtige ideologische Grundlage von ausdrücklich
"nationenbildender" oder "imperialistischer" Bildungspolitik.
Das Aufkommen kulturdemokratischer und kulturpluralistischer Konzepte,
teilweise einhergehend mit dem Verfall der großen Imperialismen und
der äußeren wie inneren Kolonisierungskonzepte hat die Lage
verändert. Das Entstehen Interkultureller Didaktik (bzw. Interkultureller
Pädagogik) spiegelt die Akzeptanz kultureller Vielfalt auch in bezug
auf organisiertes Lernen wider.
1.3.4 Exogene Entstehungsbedingungen für Interkulturelle Didaktik
Zu den exogenen Entstehungsbedingungen Interkultureller Didaktik gehören
vor allem die Folgen der weltweiten Vernetzung und Verflechtung sowie der
Internationalisierung aller Lebensbeziehungen: Kolonialismus und wirtschaftliche
Abhängigkeit, Migration und Vertreibung, Internationale Organisationen
und multinationale Wirtschaftsunternehmen, globale Umweltkatastrophen und
globale Kommunikationsnetze.
In den Anfängen sind dies
-
Missionspädagogik,
-
Kolonialpädagogik,
-
Erziehung zur Völkerverständigung und
-
Kulturaustausch.
-
päter sind dies
-
Friedenssicherung,
-
"Globales Lernen " (Club of Rome) und
-
Interkulturelles Lernen (multikulturelle Gesellschaft).
All diese Phänomene, die zumeist in Form von Krisenerscheinungen auftreten,
erzeugen neue Lernbedarfe, die mit den Mitteln einer traditionellerweise
intrakulturell orientierten Didaktik nicht mehr gedeckt werden können
1.4 Interkulturelle Didaktik: Was kann man damit machen?
1.4.1 Aktuelle Bezüge
In der gegenwärtigen Situation der Bundesrepublik Deutschland gibt
es typische interkulturelle Konstellationen, aus denen sich Anforderungen
für berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeiten ergeben, in denen
interkulturell-didaktische Kompetenzen angewendet werden:
-
"Weltgemeinschaft" und internationale Organisationen: Hier geht
es um schon lange bestehende Verpflichtungen (wie etwa die UNO-Charta)
aber auch um neue Aufgaben, die sich für die Bundesrepublik aus der
Einlösung dieser Verpflichtungen durch Beteiligung an entsprechenden
Aktionen ergeben (z. B. friedenssichernde Maßnahmen der UNO).
-
Europäische Gemeinschaft: Die durch die EG-Verträge ab
1993 erzeugte neue Lage dürfte zu einer deutlichen Zunahme von Kommunikation,
aber auch von Konflikten innerhalb der Partnerländer führen,
aus denen sich ebenfalls neue Anforderungen an interkulturelles Lernen
ergeben.
-
Entwicklungsländer: Auch die als "Entwicklungshilfe" bezeichneten
Maßnahmen in und mit Ländern der Dritten Welt, die nicht zuletzt
auch im Bildungsbereich besonders vordringlich sind, haben ihre Bedeutung
keineswegs verloren. Eine Verstärkung dieser Unterstützung ist
längst nicht mehr nur als humanitäre Aktion zu sehen, sondern
wird zunehmend vom Eigeninteresse geleitet, um dramatisch ansteigende Ströme
von Wirtschaftsflüchtlingen nach den Ländern des Nordens zu verhindern.
-
Osteuropäische Nachbarländer: Durch den Zusammenbruch
der politischen und ökonomischen Systeme in Osteuropa haben diese
Länder teilweise Strukturen angenommen, die bislang für Entwicklungsländer
typisch waren. Eine immer engere Kooperation mit diesen Ländern, die
bis zur Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft gehen kann, wird
nötig sein, um ihre Rekonstruktion zu ermöglichen und um negative
Folgen für das eigene Land abzuwehren.
-
Migrationsbedingte interkulturelle Kontexte im eigenen Land: Hierbei
handelt es sich um den Umgang mit den in die Bundesrepublik legal eingewanderten
Gästen (Gastarbeiter, Flüchtlinge, Asylanten), mit Umsiedlern
(vor allem aus Osteuropa) und zunehmend auch mit illegalen Einwanderern.
Es versteht sich von selbst, daß die damit verbundenen Aufgaben nicht
ohne ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz gelöst werden
können.
-
Kulturelle Binnendifferenzierungen: Diese bezieht sich nicht nur
auf die in Deutschland historisch bedingten Verschiedenheiten der Regionen
und der Konfessionen, sondern auch auf neue kulturelle Binnendifferenzierungen
zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen, aber auch zwischen den Generationen
und sozialen Schichten. Je deutlicher der kulturelle Aspekt dieser Binnendifferenzierung
bewußt wird, desto größer dürfte die Wahrscheinlichkeit
eines aufgeklärten Umgangs mit den daraus sich ergebenden Konflikten
sein.
Bereits diese wenigen Hinweise auf die aktuellen internationalen - und
damit interkulturellen - Konstellationen, in die Deutschland derzeit eingebunden
ist, mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß hierzulande
der Bedarf an interkultureller Kompetenz und damit an interkulturellem
Lernen dramatisch gewachsen ist. Die Anforderungen, die sich daraus für
die Interkulturelle Didaktik ergeben, lassen sich derzeit noch kaum absehen.
1.4.2 Praktische und theoretische Zwecke
Die Frage nach den Funktionen Interkultureller Didaktik ist einfach
zu formulieren: "Was kann man mit jenem Wissen machen, das von diesem Wissenschaftsgebiet
erzeugt wird?" Eine erste Antwort auf diese Frage ist ebenso einfach, wenn
auch nicht sehr informativ: "Man kann damit praktische und theoretische
Zwecke verfolgen, d. h. Praxen und Theorien entwickeln, verbessern, anwenden
und prüfen".
Um praktische Zwecke geht es im besonderen bei
-
der Gestaltung und Einrichtung von Bildungsinstitutionen und Bildungssystemen,
-
der Entwicklung und Verbesserung von Programmen und Kursen im Grund-, Aus-
und Weiterbildungsbereich,
-
der Auswahl, Bewertung und Gliederung von Bildungsinhalten,
-
der Gestaltung von Lernumgebungen, Medien und Lehrmaterialien,
-
der Entwicklung und Verbesserung praktischer Kompetenzen bei Lernern und
Lernhelfern,
-
der Gestaltung von Lernaufgaben und Lernkontrollen sowie
-
der Zuweisung von Lernern zu den für sie optimalen Lernbedingungen.
Um theoretische Zwecke geht es, wenn vorhandene Theorien und Modelle überprüft
und verbessert und neue Theorien und Modelle entwickelt werden, die sich
auf die oben genannten Praxisbereiche und die Zusammenhänge zwischen
ihnen beziehen. Insbesondere Theorien über Zusammenhänge zwischen
-
kulturellen Rahmenbedingungen und didaktischem Handeln,
-
kulturellen Rahmenbedingungen und Eigenschaften von Lernern sowie Lernhelfern,
-
Lehr-Lernmethoden und Lernwirkungen (Lernerfolg),
-
Lerner-Merkmalen (z. B. Lernstil) und Lernwirkungen sowie
-
Wechselwirkungen zwischen Lerner-Merkmalen, Lehr-Lernmethoden und Lernwirkungen.
So gehört beispielsweise die Anwendung der Erkenntnis, daß bei
gleichen Ausgangsbedingungen von Lernern die für Lerntätigkeit
aufgewandte aktive Lernzeit die beste Vorhersage des Lernerfolgs erlaubt,
zu den praktischen Zwecken Interkultureller Didaktik.
2. Kulturelle und didaktische Selbsterfahrung
GRUNDBEGRIFFE:
-
Selbstverständlichkeiten
-
Selbsterfahrung
-
Selbstreflexion
-
Universalia
-
Kulturstandards
-
Individuelle Eigenschaften
2.1 Menschliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede:
Universalia, Kulturstandards und individuelle Eigenschaften
Jeder Mensch hat Eigenschaften, die er mit allen anderen Menschen teilt,
er hat Eigenschaften, die er mit vielen teilt, und er hat Eigenschaften,
über die nur er selbst ganz persönlich und einmalig verfügt.
-
Zur ersten Gruppe, die wir als "Universalia" bezeichnen wollen,
gehören zum einen die gattungsspezifischen und biologisch bedingten
("hominen") Eigenschaften des Menschen, beispielsweise Sprachfähigkeit
und Lidreflex. Zum anderen gehören zu den Universalia aber auch die
in allen Kulturen anzutreffenden Kulturleistungen, beispielsweise soziale
Ordnungen, Opferrituale und Erziehungsmaßnahmen, wobei allen Kulturen
gemeinsam ist, daß es sie gibt, während ihre konkrete Gestaltung
und Ausführung von Einzelkultur zu Einzelkultur unterschiedlich ist.
-
Zur zweiten Gruppe gehören die kulturspezifischen Eigenschaften
von Menschengruppen. Dazu gehören insbesondere die Sprachgewohnheiten,
in denen sich auch immer bestimmte Vorstellungen davon niederschlagen,
was bedeutsam und wichtig ist für diese Gruppe und was nicht. Es gehören
dazu die moralischen Prinzipien, Wertvorstellungen und sozialen Normen,
die in der betreffenden Kultur Geltung haben und mit Hilfe von Sanktionen
durchgesetzt werden (Neuerdings wird hierfür auch der Begriff "Kulturstandards"
verwendet). Und es gehören dazu die allen Angehörigen der Kultur
gemeinsamen Wissensvorräte, die von der betreffenden Kulturgemeinschaft
erzeugt wurden und die ihr Überleben unter gegebenen Bedingungen ermöglicht
haben und bis auf weiteres ermöglichen.
-
Zur dritten Gruppe schließlich gehören die ganz persönlichen
Eigenarten eines Menschen, die er jedoch stets im Rahmen und auf dem
Hintergrund dessen entwickelt, was ihm seine Kultur ermöglicht. Er
ist also stets Repräsentant einer Kulturgemeinschaft ("kulturelle
Persönlichkeit") und Individuum zugleich. Dabei gibt es Kulturen,
die ihren Mitgliedern nur einen sehr engen Spielraum zur Entwicklung individueller
Eigenarten lassen, während die moderne europäische Kultur die
Ausbildung einer individuellen Persönlichkeit mit unverwechselbaren
Eigenarten geradezu zur kulturellen Forderung erhebt ("Persönlichkeitsbildung").
2.2 Kulturelle Selbst- und Fremdwahrnehmung
Kulturelle Selbsterfahrung vollzieht sich zumeist in der Begegnung und
Auseinandersetzung mit Fremdem. Aus diesem Grunde erscheint es sinnvoll,
zunächst den Begriff der "Fremdheit" einer näheren Betrachtung
zu unterziehen, um uns der Frage nach unseren eigenen Kulturstandards zu
nähern. Hierbei hilft uns die folgende Klärung von SCHÄFFTER
(1991), der deutlich macht, daß "Fremdheit" keine Eigenschaft, sondern
ein Beziehungsverhältnis bezeichnet. Das Fremde kann dabei unterschiedliche
Bedeutung für mich haben, und zwar:
-
"Das Fremde als das Auswärtige, das Ausländische, d. h.
als etwas, das sich jenseits einer räumlich bestimmbaren Trennungslinie
befindet. Raumbezogene Deutungsmuster des Fremden unterscheiden hierbei
zwischen "Zugänglichkeit" und "Unzugänglichem". Es geht dann
um die lokale Erreichbarkeit von bislang Abgetrenntem. Diese Perspektive
enthält gleichzeitig eine starke Betonung des "Inneren" als Heimat
oder Einheitssphäre.
-
Das Fremde als Fremdartiges, z. T. auch im Sinne von Anomalität,
von Ungehörigem oder Unpassendem steht in Kontrast zum Eigenartigen
und Normalen, d. h. zu Eigenheiten, die zum Eigenwesen eines Sinnbezirks
gehören.
-
Das Fremde als das noch Unbekannte bezieht sich auf Möglichkeiten
des Kennenlernens und des sich gegenseitig Vertrautmachens von Erfahrungsbereichen,
die prinzipiell erreichbar sind.
-
Das Fremde als das letztlich Unerkennbare, ist das für den
Sinnbezirk transzendente Außen, bei dem Möglichkeiten des Kennenlernens
prinzipiell ausgeschlossen sind.
-
Das Fremde als das Unheimliche zieht seine Bedeutung aus dem Gegensatz
zur Geborgenheit des Vertrauten. " (SCHÄFFTER, a. a. O., S. 14)
2.3 Der Umgang mit kulturellen Einflüssen
2.3.1 Kulturelle Selbstverständlichkeiten
Unser Leben läuft zumeist so ab, daß unsere Aufmerksamkeit
und unser Interesse von dem angezogen werden, was von der Gewohnheit und
von neueren Erwartungen abweicht. Selbstverständliches ist demnach
uninteressant. So werden wir uns der Tatsache, daß jederzeit Wasser
aus dem Wasserhahn oder Strom aus der Steckdose kommt, erst dann bewußt,
wenn dies einmal nicht der Fall ist. Solange es selbstverständlich
ist, denken wir nicht daran. Mit der Aufmerksamkeit, dem Interesse und
dem Bewußtsein für unsere kulturellen Selbstverständlichkeiten
verhält es sich ebenso: Es bedarf einer Situation, in der sie zum
Problem werden. Dies kann dadurch geschehen, daß sie einmal ausbleiben.
Es kann aber auch dadurch geschehen, daß wir danach gefragt werden
und feststellen müssen, daß wir es so genau gar nicht wissen.
Die meisten von uns sprechen ein einigermaßen ordentliches Deutsch,
verwechseln Einzahl und Mehrzahl nicht, und doch können wir auf die
Frage, wieviele Deklinationen es in der deutschen Sprache gibt, wahrscheinlich
keine Antwort geben.
Unsere kulturellen Selbstverständlichkeiten sind selten offensichtlich
und oft irreführend. Daß wir kulturellen Selbstverständlichkeiten
folgen, wenn wir einander bei der Begrüßung die Hand geben oder
mit Messer und Gabel essen, merken wir erst, wenn wir auf jemand treffen,
der sich anders verhält, für den diese Handlung nicht selbstverständlich
ist, der sich beim Grüßen ohne Körperkontakt verbeugt oder
der mit Stäbchen ißt. Kulturelle Selbsterfahrung entsteht erst
aus dem Kontrast.
2.3.2 Kulturelle Selbsterfahrung
Menschen tendieren dazu, die von ihnen selbst für wahr gehaltenen
Vorstellungen, das für sie Selbstverständliche, ihre "Kulturstandards"
für die einzige Möglichkeit zu halten, die Welt und ihre Stellung
in der Welt zu sehen. Sie neigen dazu, die Vorstellungen anderer Kulturen
mehr oder weniger stark abzulehnen und sie als "Humbug", "Aberglauben",
Rückständigkeit oder Unwissenheit anzusehen. Bei kultureller
Selbsterfahrung geht es darum, das eigene "kulturelle Selbst", die eigenen
Kulturstandards zu erfahren, indem man seine - teils unklaren und unbewußten
- kulturellen Selbstverständlichkeiten genauer kennenlernt.
Kulturelle Selbsterfahrung dient somit der Bewußtmachung eigener
Grundannahmen und Wertüberzeugungen. Zugleich fördert sie eine
Sensibilisierung für kulturelle Verschiedenheit und für das Verstehen
von Grundannahmen und Wertüberzeugungen in anderen Kulturen. Beides
ist wiederum eine Voraussetzung für die Entwicklung einer interkulturell
kompetenten Persönlichkeit. Darüber hinaus wird durch kulturelle
Selbsterfahrung auch die Kompetenz zur aufgeklärten kulturellen Selbstdarstellung
gefördert. Eine gewisse Sicherheit im Umgang mit den eigenen kulturellen
Selbstverständlichkeiten ist Voraussetzung für erfolgreiche interkulturelle
Kommunikation. Fehlt diese Sicherheit, so besteht die Gefahr, daß
bei der Begegnung mit Angehörigen anderer Kulturen verständigungsfeindliche
Extremreaktionen auftreten: naiver Ethnozentrismus ("bei uns ist alles
besser") ebenso wie naive Anpassung ("bei den anderen ist alles besser").
2.3.3 Möglichkeiten eines methodischen Zugangs
-
Kulturelle Selbsterfahrung durch Selbstbefragung: Es gibt mehrere
Fragelisten bzw. Fragebogen, mit denen man zu eigenen Wertvorstellungen
Stellung nehmen kann, indem man differenziert Zustimmung oder Ablehnung
bekundet.
-
Kulturelle Selbsterfahrung durch simulierte Kulturkontrast-Erlebnisse:
Eine weitere Möglichkeit kultureller Selbsterfahrung sind künstliche
(didaktisch veranstaltete) Kulturkontrast-Erlebnisse. Dies sind Begegnungen
mit rollenmäßig gespielten Menschen, mit anderen Wertvorstellungen
und mit anderen Selbstverständlichkeiten. Es sind Begegnungen mit
Situationen, in denen andere Normen gelten als die eigenen.
-
Kulturelle Selbsterfahrung durch reale Kulturkontrast-Erlebnisse:
Dies sind Begegnungen mit Angehörigen anderer Kulturen in Situationen,
in denen unterschiedliche Wertvorstellungen und Kulturstandards - auch
konflikthaft - zum Ausdruck kommen und bewußt werden.
-
Kulturelle Selbsterfahrung durch theoretische Reflexion: Es gibt
verschiedene Kulturtheorien, die es ermöglichen, Eigentümlichkeiten
und Unterschiede von Kulturstandards zu beschreiben und zu analysieren
(z. B. Kluckhohn & Strodtbeck).
2.3.4 Methodische Schritte kultureller Selbsterfahrung
Welche der zahlreichen Methoden zur Vermittlung kultureller Selbsterfahrung
wir auch immer wählen, stets werden alle oder fast alle der folgenden
methodischen Schritte erkennbar sein:
-
Selbstwahrnehmung: Nur Menschen verfügen über die Fähigkeit,
sich selbst wie eine andere Person - sozusagen von einem Standpunkt außerhalb
- zu betrachten. Im konkreten Fall bedienen sie sich dabei eines Spiegels
zur "Reflexion". Auch für den abstrakten Fall gibt es eine Vielzahl
von (zumeist in der Psychologie entwickelten) Instrumenten. Für uns
sind im besonderen die Instrumente "Kulturfragebogen" und "Lernstilfragebogen"
von Bedeutung.
-
Thematisierung: Dies beinhaltet den Entschluß, überhaupt
offen und unvoreingenommen über die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten
mit anderen zu sprechen, mit Mitgliedern der eigenen Kulturgemeinschaft
oder mit Fremden.
-
Strukturierung: Diese beinhaltet geordnetes und nach gewissen Regeln
ablaufendes Nachdenken und Sprechen über die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten,
wozu auch theoretisch begründete Hilfsmittel herangezogen werden können.
-
Problematisierung: Dies beinhaltet, daß das Nachdenken und
Sprechen im Für und Wider, mit Gründen und Gegengründen,
mit der Bereitschaft zur Aufgabe von Positionen und mit offenem Ausgang
geschieht.
-
Diskussion: Dies beinhaltet, daß Argumente mit anderen ausgetauscht
werden, wobei die anderen ebenso ernstgenommen werden wie man selbst ernstgenommen
werden möchte.
-
Konfrontation: Dies beinhaltet die Bereitschaft, sich kulturell
Gegensätzliches vorzustellen, sich damit auseinanderzusetzen und Möglichkeiten
des Umgangs damit zu prüfen.
2.4 Didaktische Sozialisation
2.4.1 Didaktische Selbstverständlichkeiten
Ebenso wie unser Leben von unseren kulturellen Selbstverständlichkeiten
bestimmt wird, wird unsere Lerntätigkeit von unseren "didaktischen
Selbstverständlichkeiten" bestimmt: Haben wir uns beispielsweise entschlossen,
an einem Weiterbildungsprogramm oder einem Weiterbildungskurs teilzunehmen,
so erwarten wir, daß
-
uns jemand zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort in einen bestimmten
Raum bestellt,
-
wir dort 10, 20 oder mehr andere Menschen in ähnlicher Lage antreffen,
-
wir Sitzgelegenheiten, Tische und Wandtafel vorfinden,
-
zum angegebenen Zeitpunkt eine Person den Raum betritt und sich als Lehrer/in
vorstellt und daß
-
alles weitere dann im wesentlichen so geschieht, wie es der Lehrer oder
die Lehrerin vorschlägt oder anordnet.
Wer in Oxford studiert oder ein Fernstudium absolviert hat, wird andere
Erwartungen haben, da er von anderen Selbstverständlichkeiten geprägt
ist. Und wer viel auf Sportplätzen und in Werkstätten gelernt
hat, wird erwarten, daß "theoretischer Stoff" anders gelehrt und
gelernt wird als praktische Fähigkeiten.
Mit unseren didaktischen Selbstverständlichkeiten verhält
es sich wie mit unseren kulturellen: Solange unsere Erwartungen erfüllt
werden, brauchen wir nicht lange über sie nachzudenken. Anders verhält
es sich, wenn wir anderen Lernkulturen begegnen. Dann kann es passieren,
daß wir so reagieren wie auf andere kulturelle Umgebungen: Mit Neugier
die einen, mit Aggressionen ("was soll der neumodische Kram!") die anderen.
Entwickelt haben sich unsere didaktischen Selbstverständlichkeiten
(ebenso wie unsere kulturellen) im Laufe unserer Lebensgeschichte, meistens
schon sehr früh. So spielen Kinder manchmal schon "Schule" noch bevor
sie in die Schule gehen. Bewußt erfahren wir unser Verhältnis
zum organisierten Lernen zumeist nur in kritischen Situationen, etwa wenn
wir zum ersten Mal bewußt erleben, daß wir eine neue Fähigkeit
beherrschen, z. B. Schwimmen, Radfahren oder mit einem Ausländer Englisch
sprechen, oder wenn wir erleben, daß wir etwas nicht gut genug gelernt
haben, z. B. im Zusammenhang mit einer Prüfung.
Unsere didaktischen Selbstverständlichkeiten entwickeln sich im
Laufe unserer Lebensgeschichte ebenso wie unsere übrigen Orientierungen
und Verhaltensweisen im sozialen Bereich. In den Sozialwissenschaften verwendet
man dafür die Bezeichnung "Sozialisation". Entsprechend soll im folgenden
von "didaktischer Sozialisation" die Rede sein, wenn wir die Entstehung
und das Ergebnis jener Erfahrungen bezeichnen, die sich auf unser Verhältnis
zum organisierten Lernen beziehen.
2.4.2 Merkmale kulturspezifischer didaktischer Sozialisation
Ebenso wie wir unsere kulturellen Selbstverständlichkeiten durch
entsprechende Methoden der Selbsterfahrung und der Selbstreflexion zum
Bewußtsein bringen können, ist dies auch mit unserer didaktischen
Sozialisation möglich. Doch bevor wir uns näher mit den dafür
geeigneten Verfahren befassen, soll zunächst eine genauere Darstellung
dessen erfolgen, was unsere didaktische Sozialisation ausmacht. Es geht
also um die Frage, was im besonderen unser Verhältnis zu organisierter
Lerntätigkeit bestimmt. Vier Punkte sind es, an denen unsere didaktische
Sozialisation erkennbar ist:
-
an unserem Lernbegriff, also daran, was wir unter "Lernen" verstehen,
-
an unserem didaktischen Rollenverständnis, d. h. an unserer
Auffassung davon, wer was beim organisierten Lernen zu tun hat,
-
an unseren Lernstrategien, d. h. daran, wie wir unsere Lerntätigkeiten
planen, steuern und kontrollieren sowie
-
an den Ursachenzuschreibungen, mit denen wir Erfolg oder Mißerfolg
unserer Lerntätigkeit begründen.
Wir wollen uns nun diesen vier Punkten im einzelnen zuwenden.
2.4.3 Didaktische Sozialisation und "Lernkultur"
Die bisher erläuterten vier Aspekte didaktischer Sozialisation
stehen offensichtlich in enger Beziehung zu den Lernkulturen, in denen
Menschen aufwachsen. Als "Lernkulturen" sollen dabei diejenigen Kulturen
und Lebenswelten bezeichnet werden, in denen die Organisation von Lerntätigkeit
und die Überlieferung von Wissen im Mittelpunkt steht. Dies ist der
Fall bei bewußt angewandten Praktiken in der Familienerziehung (wie
der Großvater dem Enkel das Angeln beibringt), bei schulischen Formen
organisierten Lernens und Lehrens, aber auch beim organisierten beruflichen
Lernen und in der betrieblichen Weiterbildung.
Eine bestimmte Kultur zu haben, wird in neuerer Zeit nicht nur größeren
Gemeinschaften wie ganzen Völkern zuerkannt, sondern kleineren Gemeinschaften
und Organisationen wie z. B. einzelnen Unternehmen ("Unternehmenskultur")
oder einzelnen Tätigkeitsfeldern ("Eßkultur", "Wohnkultur",
"Kommunikationskultur"). Damit werden Bemühungen angesprochen, die
in solchen Gemeinschaften oder in diesen Tätigkeitsfeldern darauf
gerichtet sind, diese bewußt zu gestalten, ihnen eine charakteristische
Ausprägung zu geben und sie qualitativ zu entwickeln. In diesem Sinne
ist dann auch von Bemühungen um "Lernkultur" zu sprechen. Während
didaktische Sozialisation als überwiegend unbewußt verlaufender
Prozeß zu betrachten ist, geht es bei der Entwicklung und Überlieferung
von Lernkultur um bewußt gestaltete Prozesse.
2.4.3.1 Merkmale neuer Lernkultur
Gründe, die einen Wandel unserer Lernkulturen nahelegen, sind :
-
dramatische Veränderung unserer Umwelt,
-
gesteigerte Dynamik unseres Wissens,
-
veränderte Lebenswelten und
-
neue Erkenntnisse der Wissenschaften.
Veränderte und neue Lernkulturen müssen sich dadurch auszeichnen,
daß sie die Einseitigkeit bürokratisch-verschulter Lernkultur
überwinden und neue Gleichgewichte finden zwischen
-
überlieferndem und erneuerndem Lernen,
-
anpassendem und vorwegnehmendem Lernen,
-
frühem Lernen und lebenslangem Lernen,
-
angeleitetem und selbsttätigem Lernen,
-
zielorientiertem und ausgangspunkt-orientiertem Lernen,
-
fachbezogenem und problembezogenem Lernen.
Diese Entwicklung neuer Lernkulturen kann nicht einfach verordnet und mit
den Instrumenten von Befehl und Gehorsam von oben nach unten durchgesetzt
werden. Und wie bei jeder anderen Entwicklungsaufgabe auch, gilt es dabei,
den Ausgangspunkt möglichst gut kennenzulernen. Dieser Ausgangspunkt
wird vor allem bestimmt durch die didaktische Sozialisation aller Beteiligten.
Deren Aufklärung und Aufarbeitung ist deshalb ein entscheidender Ansatz
bei der Entwicklung neuer Lernkultur.
2.4.3.2 Didaktische Selbsterfahrung als Bewußtmachung eigener
didaktischer Sozialisation
Da die meisten von uns in der "alten" Lernkultur aufgewachsen sind,
müssen wir lernen, den Übergang zu bewältigen. Dieser Übergang
kann nicht darin bestehen, daß man alles vergißt, was man bisher
gelernt hat und daß man sich als "unbeschriebenes Blatt" definiert.
Vergangenheit läßt sich nicht vergessen, sondern nur verdrängen
oder verarbeiten. Und dies bedarf der Zeit. Was jedoch kurzfristig möglich
ist, ist der Entschluß, die eigene didaktische Sozialisation künftig
nicht mehr als Schicksal hinzunehmen, sondern aktiv zu gestalten.
Bewußtmachung und Bewußtwerdung eigener didaktische Sozialisation
ist der erste Schritt auf diesem Wege des Übergangs zum neuen Lernen.
Wie in anderen Lebensbereichen ist also auch hier die Aufarbeitung der
Vergangenheit die Voraussetzung für die Gestaltung der Zukunft. Und
wie in anderen Bereichen, so geht es bei dieser Aufarbeitung immer auch
um Bewertung und kritische Auseinandersetzung, um die Feststellung von
Schwächen und von Stärken. Zu den wichtigsten Erkenntnissen der
Lernforschung gehört:
"Neue Erfahrungen werden stets auf dem Hintergrund früherer
Erfahrungen gemacht".
2.4.4 Methoden didaktischer Selbsterfahrung
Was die Methoden des Umgangs mit der eigenen und mit fremder didaktischer
Sozialisation und der didaktischen Selbsterfahrung anbelangt, so sind in
unserem Zusammenhang die folgenden Ansätze sinnvoll und möglich:
-
Auseinandersetzung mit dem eigenen Lernverständnis: Dies kann
dadurch geschehen, daß alle gedanklichen und gefühlsmäßigen
Assoziationen zur Sprache gebracht werden, die der Begriff "Lernen" auslöst.
Dies kann mit Hilfe offener Fragen geschehen oder aber mit Hilfe von Fragebogen,
Sprichwörter-Listen oder visuellen Hilfen.
-
Erkennen des eigenen Lernstils: Hierzu dienen formelle oder informelle
Lernstiltests, die auf der Grundlage verschiedener psychlogischer Theorien
entwickelt wurden.
-
Erkennen der eigenen Lernstrategien: Hierfür wurden von Theoretikern
und Praktikern eine Reihe von Lernstrategie-Fragebogen entwickelt, mit
denen bevorzugte Lernumgebungen, Lernaufgaben und Lerntätigkeiten
erfragt werden. Hierfür gibt es außerdem Tests, bei denen Personen
vor unterschiedliche Lernaufgaben gestellt werden, die sie mit Hilfe verschiedener
Lernstrategien lösen können (vgl. den im Anhang beigefügten
Fragebogen zur Einstellung zum Lernen).
-
Erstellung der eigenen Lernbiographie: Hier geht es darum, kritische
Situationen in Erinnerung zu rufen, in denen man besondere Erfolgs- oder
Mißerfolgserlebnisse beim Lernen hatte, diese möglichst so genau
und so objektiv wie möglich zu beschreiben und zu analysieren.
-
Konfrontation mit Gegenerfahrung: Hierzu gehört das bewußte
Erleben von bisher ungewohnten Lernsituationen und um die Analyse der eigenen
Reaktionen auf diese neuen Lernsituationen.
-
Konfrontation mit Fremderfahrung: In diesem Falle werden die tatsächlichen
oder möglichen Erfahrungen anderer Menschen zum Thema gemacht, die
sich mit ihrer eigenen didaktischen Sozialsation oder mit aktuellen didaktischen
Gegenerfahrungen auseinandersetzen. Dies kann in Form von wissenschaftlichen
Untersuchungen oder in Form von schriftlichen Fallberichten geschehen oder
aber als Auseinandersetzung mit fiktiven Personen oder Gruppen in solchen
Situationen.
3. Vorblicke
Jede Unterrichtseinheit sollte nicht nur mit einem Rückblick auf Vorerfahrungen
beginnen, sondern auch einen Vorblick auf die in ihr möglichen Lerntätigkeiten
und Lernerfahrungen bringen. Man spricht in diesem Zusammenhang von "vorstrukturierenden
Lernhilfen" ("advance organizers"). In unserem Falle geht es darum, einen
Vorblick auf die folgenden drei Unterlagen zu werfen, die sich auf drei
Themen konzentrieren:
Diese drei Vorblicke sollen in den folgenden Abschnitten dargestellt werden
3.1 Vorblick auf Tätigkeitsfelder Interkultureller
Didaktik
Wer das Fach(gebiet) "Interkulturelle Didaktik" studiert hat, möchte
die dabei erworbenen Kompetenzen gern auch anwenden. Im idealen Falle geschieht
dies dadurch, daß sie/er eine berufliche Tätigkeit aufnimmt,
in der dies möglich ist. In anderen Fällen können solche
Tätigkeiten aber auch als nebenberufliche bzw. ehrenamtliche Tätigkeiten
(z. B. als Betreuer/in von Projekten internationalen Jugendaustauschs im
Rahmen des Sportvereins) stattfinden. Im Abschnitt 1 dieser Unterlage wurde
bereits auf interkulturelle Kontexte, kulturelle Überschneidungssituationen,
Tätigkeitsfelder und Praxisaufgaben hingewiesen, in denen interkulturell-didaktische
Kompetenzen anzuwenden sind. Da in der folgenden Unterlage Tätigkeitsfelder
im einzelnen ausführlich dargestellt werden, mögen diese wenigen
Hinweise im Rahmen dieses Vorblicks genügen.
3.2 Vorblick auf Wissensgrundlagen Interkultureller Didaktik
Ganz generell gilt die Einsicht, daß sich im menschlichen Leben Praxisprobleme
nicht danach richten, in welchen Schubladen sich das Wissen zu ihrer Lösung
befindet. Dies gilt auch für Probleme interkulturell-didaktischen
Handelns. Wissen zu deren Lösung ist in der Geschichte der Wissenschaft
- in Europa und anderswo - schon seit langem und im Rahmen mehrerer Wissenschaften
erzeugt worden. Zu diesen Wissenschaften gehören nicht nur Philosophie,
Biologie, Anthropologie, Didaktik, Pädagogik, Psychologie, Ethnologie
("Völkerkunde") und Soziologie, sondern auch Philologien (Anglistik,
Slawistik, Indologie, Arabistik etc.), Medienwissenschaften und Politikwissenschaft.
Neuerdings liefern sogar die Wirtschaftswissenschaften Beiträge zum
Thema "Interkulturelles Management", die auch für interkulturell-didaktisches
Handeln interessant sind. In der Regel sind es diese Wissenschaften jedoch
nicht als ganze, welche Wissen liefern können, das für interkulturell-didaktisches
Handeln nützlich ist, sondern einzelne Fachgebiete innerhalb dieser
Disziplinen, etwa die "Kulturphilosophie", die Humanbiologie, die international-vergleichende
Erziehungswissenschaft, die Erziehungsethnologie, die "Interkulturelle
Psychologie", die Kultursoziologie oder die internationale Politikwissenschaft.
Im Rahmen einer Einführung in die Grundlagen Interkultureller Didaktik
ist es jedoch nicht möglich, Kernwissen aus jedem diese Fachgebiete
im Überblick darzustellen. Deshalb werden die in den genannten Disziplinen
bzw. in deren speziellen Fachgebieten verfügbaren Wissensbestände
zu größeren thematischen Blöcken zusammengefaßt,
die jeweils auf mehrere Disziplinen bzw. Fachgebiete verweisen. Es handelt
sich um die Themenkomplexe
-
"Natur und Kultur des Menschen": Hier geht es um Wissensgebiete
und Fragestellungen, die sich vor allem im Rahmen der Philosophie und der
Ethnologie entwickelt haben.
-
"Homine Eigenschaften des Menschen": Dies sind Themenkomplexe, die
sich ebenfalls in der Philosophie und der Ethnologie, aber auch in der
Biologie entfaltet haben.
-
"Kulturtheorien": Hier ist es neben der Ethnologie vor allem die
Soziologie und die Interkulturelle Psychologie, die wesentliche Erkenntnisse
gewonnen haben.
-
"Die kulturelle Bedingtheit psychischer Funktionen, insbesondere des
Denkens und Lernens": Neben der Interkulturellen Psychologie sind hier
auch andere Gebiete der Psychologie angesprochen, so die Allgemeine Psychologie,
die Lernpsychologie und die Ent- wicklungspsychologie.
-
"Die Entwicklung der interkulturellen Persönlichkeit": Dieser
Themenkomplex wird im besonderen durch Wissen der Persönlichkeitspsychologie
und der Interkulturellen Psychologie bestimmt.
-
"Sprache, Kommunikation und Medien im interkulturellen Handeln":
Hier gilt es, auf die umfangreichen Erkenntnisse der klassischen Sprachwissenschaften
zu verweisen und gleichzeitig neuere Erkenntnisse der Informations- und
Medienwissenschaften einzubringen.
-
"Die kulturelle Bedingtheit didaktischen Handelns": Da weder die
Allgemeine Didaktik noch die International-vergleichende Erziehungswissenschaft
diesen Themenkomplex bisher kaum bearbeitet haben, ist dies zu einem der
Kernbereiche Interkultureller Didaktik geworden; Hilfe wird ihr dabei sowohl
von der Erziehungsethnologie und der Interkulturellen Didaktik zuteil.
-
"Theorien und Modelle der Didaktik": Hier geht es darum, diejenigen
Bestände didaktischen Wissens in die Interkulturelle Didaktik einzubringen,
die von der Didaktik und der Pädagogik im Laufe ihrer langen Geschichte
entwickelt wurden..
3.3 Vorblick auf Perspektiven Interkultureller Didaktik
Die vierte und letzte Unterlage zu dieser Einführung in die Grundlagen
Interkultureller Didaktik bezieht sich grob gesagt auf Zukünfte, und
zwar auf die Zukunft des Fachgebiets Interkulturelle Didaktik und auf die
Zukunft derer, die es studieren.
Was die Zukunft des Fachgebiets "Interkulturelle Didaktik" anbelangt,
so gehören zu den Faktoren, die seine Zukunft bestimmen werden, auf
der einen Seite die Globalisierung und "Multikulturalisierung" unserer
Lebensverhältnisse und die Bearbeitung der sich daraus ergebenden
individuellen und gesellschaftlichen Lernprobleme. Auf der anderen Seite
ist es das wachsende Interesse vor allem der jüngeren Generation an
kultureller Horizonterweiterung, an Kulturaustausch, an interkultureller
Orientierung und an der Entwicklung interkultureller Kompetenz.
Erkennbar sind aber auch Faktoren, denen eher hemmende Wirkungen zuzuordnen
sind. Dazu gehören zum einen die aus der Krise der Staatshaushalte
und aus dem "Rückbau" staatlicher Institutionen - insbesondere der
Hochschulen - sich ergebenden Widerstände und "Verteilungskämpfe",
in denen die bereits länger etablierten Fachgebiete bessere Karten
haben. Sodann aber dürften auch akademische "Revierkämpfe" unter
Vertretern von benachbarten Fachgebieten eher negative Einflüsse haben,
da in unserer Kultur die Beziehungen zwischen Menschen weniger von wechselseitiger
Unterstützung und wechselseitigem Lernen bestimmt werden, sondern
von Konkurrenzdenken und von der Mehrung eigenen Besitzes.
Eine dritte Gruppe von Faktoren läßt sich in der Richtung
ihrer Wirkungen schwerer einschätzen. Es handelt sich um die wachsende
gesellschaftliche Nachfrage nach "interkultureller Kompetenz". Sie kann
einerseits fördernd wirken, da sie auch - wie am Beispiel der Zunahme
interkultureller Trainings erkennbar - Arbeitsplätze schafft. Sie
kann aber auch zur Folge haben, daß die kurzfristige Befriedigung
der entsprechenden Bedarfe die schnelle Improvisation, die aus dem Ärmel
geschüttelten Patentrezepte bevorzugt und die Entwicklung von Handlungswissen,
das durch wissenschaftliche Forschung gesichert ist, vernachlässigt
oder gar verdrängt.
Was die Zukunft der Menschen anbelangt, die das Fachgebiet Interkulturelle
Didaktik studieren, so lassen sich langfristige Vorhersagen in bezug auf
neu entstehende Praxisfelder nur schwer machen. Deshalb kommt den kurzfristigen
Perspektiven besondere Bedeutung zu. Die von dem Theologen und Erziehungstheoretiker
Schleiermacher formulierte Maxime, daß weder die Gegenwart der Zukunft,
noch diese jener aufgeopfert werden dürfen, gewinnt hier ihre Bedeutung:
Das Studium selbst muß bereits Gewinn bringen, nicht erst der Marktwert
der Examensbescheinigungen. Dieser Gewinn wird zum einen im wahrnehmbaren
Zuwachs an interkultureller Kompetenz zu suchen sein, zum anderen in befriedigenden
Tätigkeiten bei der Bearbeitung bedeutsamer Lernaufgaben und nicht
zuletzt auch in der Stiftung positiver menschlicher Beziehungen zu Kommilitonen,
Dozenten und Praktikern im In- und Ausland.
3.4 Vorblick auf Arbeitsformen
Einen wichtigen Beitrag dazu, daß bereits die Studienzeit als geistig
gewinnbringend und "bildend" erfahren und gelegentlich auch als lustvoll
erlebt wird, können die Arbeits- und Kommunikationsformen liefern,
die es bestimmen. Damit ist nicht nur die Gestaltung der Lehrver- anstaltungen
gemeint, sondern auch das Lernen an anderen Lernorten:
-
selbsttätiges Lernen, individuell, mit Partnern und in kleinen Gruppen,
-
Lernen durch Praktika, Auslandsaufenthalte und Begegnungen mit Ausländern,
-
Lernen im Rahmen kleinerer Forschungs- und Entwicklungsprojekte,
-
Lernen durch Massenmedien,
-
Lernen mit Hilfe von Netzwerken (z.B. "Internet") sowie
-
Lernen durch weiterbildende und flankierende Aktivitäten außerhalb
des Studiums.
Anders ausgedrückt: Wer damit rechnet, daß er sein Studium lustlos
und minimalistisch ("dünnbrettbohrerhaft") absolviert und darauf spekuliert,
später den großen Gewinn mit dem dadurch erreichten Zertifikat
einzufahren, wird mit Sicherheit enttäuscht werden.
Nicht nur unsere Gesellschaft verlangt "Neues Lernen", sondern auch
die Hochschule. Es gibt ein englisches Sprichwort, das besagt: "Man kann
Pferde zur Quelle führen, man kann sie aber nicht trinken machen".
In Abwandlung dieses Sprichworts könnte man sagen: "Man kann für
Lerner gute Lernbedingungen schaffen, man kann sie aber nicht lernen machen".
Dieser Philosophie entsprechend liegt die Verantwortung für das Lernbedürfnis,
den "Wissensdurst" beim Lerner, die Verantwortung für die Gestaltung
guter Lernbedingungen beim "Lernhelfer", in unserem Falle beim Dozenten.
Literatur:
Bochner, Stephen. Cultures in Contact. Oxford u. a., 1982.
Gay, J. & Cole, M. The New Mathematics and an old Culture. A Study
of Learning among the Kpelle of Liberia. New York, 1967.
Hart, C. W. M. . Contrasts between Prepubertal and Postpubertal Education.
In: Spindler, G. D. (ed.), Education and Cultural Process. New York, 1974,
S. 342-360.
Schäffter, Ortfried (Hrsg.), Das Fremde. Opladen, 1991.
Tätigkeitsfelder
--- Wissensgrundlagen
--- Perspektiven
Homepage
des Instituts für Interkulturelle Didaktik Göttingen, e-mail:
kflechs@gwdg.de