Orientierungstext zum Begriff "kulturelle Skripte"
Was sind "kulturelle Skripte" ?
Vereinfacht gesprochen ist ein "kulturelles Skript" eine Art Drehbuch.
Dieses Drehbuch hat zwei Funktionen:
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Es schreibt uns vor, wie wir uns in einer bestimmten Situation "richtig"
verhalten müssen.
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Und es schreibt uns vor, wie wie eine bestimmte Situation "richtig" wahrzunehmen,
zu verstehen und zu interpretieren haben.
Denken wir einmal an unser kulturelles Skript für "Speisen im Restaurant".
Es besteht aus
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Anhaltspunkten: (z. B. Aushängeschild, Tische, Speisekarte, Essen,
Rechnung, Geld etc.);
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Rollen: (z. B. Kellner, Koch, Gast, Wirt);
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Eingangssituation: (z. B. Gast ist hungrig und hat Geld);
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Ergebnis: (z. B. Gast hat Hunger gestillt und weniger Geld, Wirt hat mehr
Geld);
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Handlungsabläufen: (z. B. betreten, Tisch wählen, bestellen,
essen, bezahlen, verlassen).
Denken wir an eine Situation, die uns in einem fremden Land begegnet:
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Anhaltspunkte: viele lachende ganz in gelb gekleidete Leute bewegen sich
auf einer Straße im Freien, tanzend und rufend;
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ein Wagen mit einigen Leuten und einem Berg von Blumen dazwischen;
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drei blau gekleidete Männer vorausgehend, drei grün gekleidete
Frauen am Schluß;
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vor einigen Gebäuden bleibt der Wagen etwa eine Minute lang stehen;
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ein Mensch aus der Menge zieht uns am Ärmel in den Zug mit hinein;
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andere Menschen fordern uns mit einer uns unbekannten Geste auf, etwas
zu tun. Was ?
Welches unserer kulturellen Skripte hilft uns, die Situation zu verstehen:
Eine Hochzeit ? Eine Art Karneval ? Eine Demonstration ? Ein Begräbnis
? Ein Frtühlingsfest ?
Was tun wir, um herauszubekommen, was läuft, wenn unsere kulturellen
Skripte versagen, um eine Situation zu verstehen ?
Zwei wissenschaftliche Definitionen
In denkpsychologischer Hinsicht sind kulturelle Skripte mentale
Repräsentationen (Modelle, Schemata) ursächlich verknüpfter
Tätigkeiten, Anhaltspunkte und Rollen, die in häufig auftretenden
Situationen vorkommen.
In wissenstheoretischer Hinsicht sind kulturelle Skripte Wissensstrukturen,
die aus kulturtypischen Assoziationen zu einer Situation bzw. Tätigkeit
gebildet werden. Es sind Verknüpfungen von
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Wissenselementen, (die in Alltagssituationen als Einheit verfügbar
sind, "wie eine Handlungsanweisung ohne ausgefüllte Details") mit
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Erwartungen (in bezug auf das, was passieren wird) und
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Schlußfolgerungen (wenn - dann - Verknüpfungen).
Welche Funktionen haben kultureller Skripte ?
Kulturelle Skripte haben im besonderen drei Funktionen:
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Speicherung und Wiedererinnerung, d.h. sie dienen dazu erworbene
Alltagsroutinen und andere Erfahrungen als komplexe Muster im Gedächtnis
zu speichern und zum späteren Abruf bereitzuhalten;
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Verstehen, Interpretieren und Erklären für neue Situationen,
d.h. mit ihrer Hilfe verstehe ich, "was hier läuft" bzw. ich mißverstehe
es, wenn ich ein zur Situation unpassendes Skript wähle;
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Tätigkeitsregulierung, d.h., mit Hilfe von kulturellen Skripten
plane ich die für die betreffende Situation im Rahmen meiner Rolle
erwarteten Tätigkeiten (Handlungen), führe sie durch und bewerte
sie.
Verschiedene Typen kultureller Skripte
Es lassen sich verschiedene Typen bzw. Arten kultureller Skripte unterscheiden,
je nachdem, von welchen Einstiegspunkten bzw. Schwerpunkten her sich das
Skript erschließen läßt:
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zielbezogene (z.B. wie man zu einer Wohnung kommt),
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themenbezogene (z.B. wie man über Arbeitslosigkeit redet),
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rollenbezogene (z.B. wie man sich als Lehrer im Klassenraum verhält),
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werkzeugbezogene (z.B. wie man mit einem Hammer umgeht),
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ortsbezogene (z.B. wie man sich auf einem Friedhof verhält),
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institutionenbezogene (z.B. wie man sich in einer Behörde verhält),
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personenbezogene (z.B. wie man sich Tante Berta gegenüber verhält),
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verfahrensbezogene Skripte (z.B. wie man sich die Zähne putzt),
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affektbezogene Skripte (z.B. wie man sich im Zorn verhält).
Wie die Beispiele zeigen, sind die einzelnen Arten in hohem Maße
abhängig vom kulturellen Kontext: "andere Länder, andere Sitten"
- "andere Länder - andere Skripte".
Kulturelle Skripte und kulturspezifische "Weltbilder"
Kulturelle Skripte schweben nicht unverbunden nebeneinander in einem gesellschaftlich-kulturellen
Vakuum. Sie sind eingebettet in übergeordnete Einheiten, die gelegentlich
als "Weltbilder" ("Weltanschauungen") bezeichnet werden. Sie heben sich
als "Figuren" vor einem "Hintergrund" ab, wobei dieser tragende Hintergrund
zugleich die Bedingung für Sinngebung und Verstehen ist. Diese Erkenntnis
wurde in neuerer Zeit vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung von
Expertensystemen und künstlicher Intelligenz bestätigt. Computer
lassen sich mit hochkomplexen Skripten programmieren, die jedoch nur in
jeweils eng vorgegebenen Kontexten funktionieren. So würde ein Expertensystem
zur Flugzeugerkennung zu Fehlschlüssen gelangen, wenn es mit einem
durch die Luft geschleuderten Bohrturm konfrontiert wäre. Offensichtlich
ist jeweils Hintergrundwissen erforderlich, um feststellen zu können,
"was überhaupt läuft".
Zu ganz ähnlichen Fehlschlüssen würde ein Marsmensch
gelangen, der auf die Erde käme mit dem Programm, das Paarungsverhalten
von Menschen zu untersuchen und in eine Apotheke geriete. Wenn man kulturelle
Skripte als Routinen bezeichnet, so kann man solches Hintergrundwissen,
mit dessen Hilfe man herausfindet, "was da läuft", als Metaroutinen
bzw. Heuristiken bezeichnen. Im Zusammenhang interkulturellen Lernens kommt
dem Aufbau solchen Hintergrundwissens ebensolche Bedeutung zu wie den kulturellen
Skripten selbst.
Warum wir uns mit kulturellen Skripten beim interkulturellen Training befassen
Jeder Mensch wird in einen kulturellen Kontext hineingeboren, den er sich
nicht aussuchen kann. Dort erlernt er seine ersten kulturellen Skripte,
z.B. wie Vater und Mutter miteinander umgehen, wie man mit Messer und Gabel
ißt, wie man sich in der Kirche verhält oder wie man Konflikte
mit Geschwistern löst. Diese kulturellen Skripte haben für den
Menschen eine wichtige Entlastungsfunktion, denn er muß nicht in
jeder Situation immer wieder neue Interpretations- und Verhaltensmuster
zu entwickeln - was er ohnehin nicht leisten könnte - sondern er kann
auf vielfältige Routinen zurückgreifen.
Diese Routinen werden zunächst als "kulturelle Selbstverständlichkeiten"
betrachtet, die sich weitgehend dem Bewußtsein entziehen. Bewußt
werden sie in der Regel erst, wenn Menschen - beispielsweise im Ausland
- mit kulturellen Skripten anderer konfrontiert werden, die sie nicht kennen.
Sie können die anderen dann nicht verstehen. Und sie wissen nicht,
wie sie sich "richtig" verhalten sollen. Diese Verhaltensunsicherheit ist
dann oft mit entsprechenden emotionalen Begleitumständen (Unsicherheit,
Angst, aggressive Abwehr etc.) verbunden.
Nun entstehen in der modernen Lebenswelt zahlreiche Situationen, in
denen solche Kontrast- erfahrungen sozusagen "naturwüchsig" zustandekommen,
bei Begegnungen mit Ausländern im eigenen Land, bei Ferienaufenthalten
im Ausland, oder auch durch Vermittlung der Massenmedien. Wie weit dabei
Prozesse kulturellen Lernens stattfinden oder (emotional) abgewehrt werden,
hängt vom Einzefall ab.
Bei dieser Kontrast- und Konflikterfahrung geht es nun nicht einfach
darum, neue kulturelle Skripte zu erlernen. Es geht gleichzeitig auch darum
zu lernen, daß es eigene und "fremde" Skripte gibt, daß also
die "eigenen" nicht allgemeingültig sind, sondern daß sie ihre
Gültigkeit nur in bestimmten Kontexten haben, nichtsdestoweniger aber
dort ihre Gültigkeit besitzen. Es entsteht das Bewußtsein von
kultureller Identität, genauer, kulturelle Identität wird so
von der selbstverständlich er- und gelebten kulturellen Praxis zur
einer bewußten.
Interkulturelles Lernen als Erweiterung des Inventars kultureller Skripten
Als zentrale Aufgabe interkulturellen Trainings gilt wohl nach wie vor
die Aneignung neuer kultureller Skripte, die in kulturell unterschiedlichen
Kontexten Gültigkeit besitzen. Im einfachen Falle geht es dabei um
neue Skripte des Begrüßens und der "Etikette", die Respekt vor
und Akzeptanz von anderen Lebensgewohnheiten ebenso beinhaltet wie die
Aneignung neuer Wissenselemente und Verhaltensmuster. Im komplexeren Fall
ist interkulturelles Training integriert mit längerfristiger Sprachaneignung
und ausführlichen landes- und kulturkundlichen Studien. Dabei werden
die zunächst "oberflächlich" angeeigneten kulturellen Skripte
in der gleichen Weise mit kulturspezifischem Hintergrundwissen angereichert
und zur Konstruktion eines (zweiten) Weltbildes herangezogen wie dies im
Falle des kulturellen Lernens geschieht.
Dieser Prozeß der Aneignung kultureller Skripte in kulturverschiedenen
Kontexten führt zu Beginn verständlicherweise zunächst zum
Aufbau von wenig differenzierten Skripten, da noch wenig Information verarbeitet
wurde. Wird er nicht weitergeführt, so kommt es zur (Hetero-)Stereotypenbildung
(z.B. National- oder Milieu-Stereotypen). Wird er jedoch weitergeführt,
werden also ständig neue Informationen verarbeitet, so wird zum einen
das Inventar kultureller Skripten erweitert und die einzelnen Skripten
werden ausdifferenziert. Zum anderen wird das Hintergrundwissen und das
Verständnis für "fremde" Weltbilder oft bis zu dem Grad erweitert,
daß es man in diesem zweiten kulturellen Bezugsrahmen ebenso denken
und leben kann wie im ersten.
Damit wird auch eine höhere Stufe interkulturellen Lernens verfügbar,
die auf die Erweiterung nicht nur der kulturellen Skripten, sondern auch
der Meta-Routinen gerichtet ist. Diese erlauben es einer Person, sich in
neuen kulturverschiedenen und/oder interkulturellen Kontexten rasch zu
orientieren, Hypothesen zu bilden, um herauszufinden, welche Bedeutung
ein Ereignis haben könnte und wie man sich verhalten sollte, um möglichst
wenige Fehler zu machen.
Interkulturelles Lernen ist jedoch auch mit Risiken und Gefahren verbunden.
Auf die Gefahr von Hetero-Stereotypenbildung wurde bereits hingewiesen.
Darüber hinaus kann es jedoch auch zu "Totalrelativismus" und damit
zu Verhaltensunsicherheit und Verhaltensbeliebigkeit führen, wenn
(vor allem naive Menschen) dabei zu dem Schluß kommen: "Alles ist
irgendwie erlaubt". Der gegenteilige Schluß sollte vielmehr erreicht
werdem: "In jeder Kultur sind bestimmte Dinge erlaubt oder erwünscht,
andere hingegen nicht". Interkulturelles Lernen dient nicht zuletzt auch
dazu herauszufinden, welches diese Dinge sind.
Eine zweite Gefahr, ein zweites Risiko ist die Überbetonung von
Unterschieden und das Vergessen von Gemeinsamkeiten. Interkulturelles Lernen
sollte das Inventar kultureller Skripte um neue Skripte erweitern, ohne
daß vorhandene Skripte aufgegeben werden; d.h. einige Skripte gelten
auch im kulturverschiedenen Kontext, sei es weil sie auf den gemeinsamen
(z.B. europäischen) Kulturkreis verweisen, sei es, weil sie mit global
verbreiteten Lebensstilen zusammenhängen.
Da sich mit den Ereignissen, in denen die Routinen jeweils angewandt
und ggf. leicht abgewandelt werden, immer auch mannigfaches Hintergrundwissen
aufbaut, wird zugleich gelernt, Situationen daraufhin zu interpretieren,
welche Routinen / Skripten sinnvollerweise angesagt sind ("Meta-Routinen").
Und schließlich baut sich allmählich ein "Weltbild" auf, ein
kultureller Bezugsrahmen, der es erlaubt, Ereignisse und Routinen, Hintergrundwissen
und Meta-Routinen zu ordnen und aufeiander zu beziehen.