Orientierungstext zum Begriff "kulturelle Skripte"

Was sind "kulturelle Skripte" ?

Vereinfacht gesprochen ist ein "kulturelles Skript" eine Art Drehbuch. Dieses Drehbuch hat zwei Funktionen:

Denken wir einmal an unser kulturelles Skript für "Speisen im Restaurant". Es besteht aus Denken wir an eine Situation, die uns in einem fremden Land begegnet: Welches unserer kulturellen Skripte hilft uns, die Situation zu verstehen: Eine Hochzeit ? Eine Art Karneval ? Eine Demonstration ? Ein Begräbnis ? Ein Frtühlingsfest ?

Was tun wir, um herauszubekommen, was läuft, wenn unsere kulturellen Skripte versagen, um eine Situation zu verstehen ?

Zwei wissenschaftliche Definitionen

In denkpsychologischer Hinsicht sind kulturelle Skripte mentale Repräsentationen (Modelle, Schemata) ursächlich verknüpfter Tätigkeiten, Anhaltspunkte und Rollen, die in häufig auftretenden Situationen vorkommen.

In wissenstheoretischer Hinsicht sind kulturelle Skripte Wissensstrukturen, die aus kulturtypischen Assoziationen zu einer Situation bzw. Tätigkeit gebildet werden. Es sind Verknüpfungen von

Welche Funktionen haben kultureller Skripte ?

Kulturelle Skripte haben im besonderen drei Funktionen:

Verschiedene Typen kultureller Skripte

Es lassen sich verschiedene Typen bzw. Arten kultureller Skripte unterscheiden, je nachdem, von welchen Einstiegspunkten bzw. Schwerpunkten her sich das Skript erschließen läßt: Wie die Beispiele zeigen, sind die einzelnen Arten in hohem Maße abhängig vom kulturellen Kontext: "andere Länder, andere Sitten" - "andere Länder - andere Skripte".

Kulturelle Skripte und kulturspezifische "Weltbilder"

Kulturelle Skripte schweben nicht unverbunden nebeneinander in einem gesellschaftlich-kulturellen Vakuum. Sie sind eingebettet in übergeordnete Einheiten, die gelegentlich als "Weltbilder" ("Weltanschauungen") bezeichnet werden. Sie heben sich als "Figuren" vor einem "Hintergrund" ab, wobei dieser tragende Hintergrund zugleich die Bedingung für Sinngebung und Verstehen ist. Diese Erkenntnis wurde in neuerer Zeit vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung von Expertensystemen und künstlicher Intelligenz bestätigt. Computer lassen sich mit hochkomplexen Skripten programmieren, die jedoch nur in jeweils eng vorgegebenen Kontexten funktionieren. So würde ein Expertensystem zur Flugzeugerkennung zu Fehlschlüssen gelangen, wenn es mit einem durch die Luft geschleuderten Bohrturm konfrontiert wäre. Offensichtlich ist jeweils Hintergrundwissen erforderlich, um feststellen zu können, "was überhaupt läuft".

Zu ganz ähnlichen Fehlschlüssen würde ein Marsmensch gelangen, der auf die Erde käme mit dem Programm, das Paarungsverhalten von Menschen zu untersuchen und in eine Apotheke geriete. Wenn man kulturelle Skripte als Routinen bezeichnet, so kann man solches Hintergrundwissen, mit dessen Hilfe man herausfindet, "was da läuft", als Metaroutinen bzw. Heuristiken bezeichnen. Im Zusammenhang interkulturellen Lernens kommt dem Aufbau solchen Hintergrundwissens ebensolche Bedeutung zu wie den kulturellen Skripten selbst.

Warum wir uns mit kulturellen Skripten beim interkulturellen Training befassen

Jeder Mensch wird in einen kulturellen Kontext hineingeboren, den er sich nicht aussuchen kann. Dort erlernt er seine ersten kulturellen Skripte, z.B. wie Vater und Mutter miteinander umgehen, wie man mit Messer und Gabel ißt, wie man sich in der Kirche verhält oder wie man Konflikte mit Geschwistern löst. Diese kulturellen Skripte haben für den Menschen eine wichtige Entlastungsfunktion, denn er muß nicht in jeder Situation immer wieder neue Interpretations- und Verhaltensmuster zu entwickeln - was er ohnehin nicht leisten könnte - sondern er kann auf vielfältige Routinen zurückgreifen.

Diese Routinen werden zunächst als "kulturelle Selbstverständlichkeiten" betrachtet, die sich weitgehend dem Bewußtsein entziehen. Bewußt werden sie in der Regel erst, wenn Menschen - beispielsweise im Ausland - mit kulturellen Skripten anderer konfrontiert werden, die sie nicht kennen. Sie können die anderen dann nicht verstehen. Und sie wissen nicht, wie sie sich "richtig" verhalten sollen. Diese Verhaltensunsicherheit ist dann oft mit entsprechenden emotionalen Begleitumständen (Unsicherheit, Angst, aggressive Abwehr etc.) verbunden.

Nun entstehen in der modernen Lebenswelt zahlreiche Situationen, in denen solche Kontrast- erfahrungen sozusagen "naturwüchsig" zustandekommen, bei Begegnungen mit Ausländern im eigenen Land, bei Ferienaufenthalten im Ausland, oder auch durch Vermittlung der Massenmedien. Wie weit dabei Prozesse kulturellen Lernens stattfinden oder (emotional) abgewehrt werden, hängt vom Einzefall ab.

Bei dieser Kontrast- und Konflikterfahrung geht es nun nicht einfach darum, neue kulturelle Skripte zu erlernen. Es geht gleichzeitig auch darum zu lernen, daß es eigene und "fremde" Skripte gibt, daß also die "eigenen" nicht allgemeingültig sind, sondern daß sie ihre Gültigkeit nur in bestimmten Kontexten haben, nichtsdestoweniger aber dort ihre Gültigkeit besitzen. Es entsteht das Bewußtsein von kultureller Identität, genauer, kulturelle Identität wird so von der selbstverständlich er- und gelebten kulturellen Praxis zur einer bewußten.

Interkulturelles Lernen als Erweiterung des Inventars kultureller Skripten

Als zentrale Aufgabe interkulturellen Trainings gilt wohl nach wie vor die Aneignung neuer kultureller Skripte, die in kulturell unterschiedlichen Kontexten Gültigkeit besitzen. Im einfachen Falle geht es dabei um neue Skripte des Begrüßens und der "Etikette", die Respekt vor und Akzeptanz von anderen Lebensgewohnheiten ebenso beinhaltet wie die Aneignung neuer Wissenselemente und Verhaltensmuster. Im komplexeren Fall ist interkulturelles Training integriert mit längerfristiger Sprachaneignung und ausführlichen landes- und kulturkundlichen Studien. Dabei werden die zunächst "oberflächlich" angeeigneten kulturellen Skripte in der gleichen Weise mit kulturspezifischem Hintergrundwissen angereichert und zur Konstruktion eines (zweiten) Weltbildes herangezogen wie dies im Falle des kulturellen Lernens geschieht.

Dieser Prozeß der Aneignung kultureller Skripte in kulturverschiedenen Kontexten führt zu Beginn verständlicherweise zunächst zum Aufbau von wenig differenzierten Skripten, da noch wenig Information verarbeitet wurde. Wird er nicht weitergeführt, so kommt es zur (Hetero-)Stereotypenbildung (z.B. National- oder Milieu-Stereotypen). Wird er jedoch weitergeführt, werden also ständig neue Informationen verarbeitet, so wird zum einen das Inventar kultureller Skripten erweitert und die einzelnen Skripten werden ausdifferenziert. Zum anderen wird das Hintergrundwissen und das Verständnis für "fremde" Weltbilder oft bis zu dem Grad erweitert, daß es man in diesem zweiten kulturellen Bezugsrahmen ebenso denken und leben kann wie im ersten.

Damit wird auch eine höhere Stufe interkulturellen Lernens verfügbar, die auf die Erweiterung nicht nur der kulturellen Skripten, sondern auch der Meta-Routinen gerichtet ist. Diese erlauben es einer Person, sich in neuen kulturverschiedenen und/oder interkulturellen Kontexten rasch zu orientieren, Hypothesen zu bilden, um herauszufinden, welche Bedeutung ein Ereignis haben könnte und wie man sich verhalten sollte, um möglichst wenige Fehler zu machen.

Interkulturelles Lernen ist jedoch auch mit Risiken und Gefahren verbunden. Auf die Gefahr von Hetero-Stereotypenbildung wurde bereits hingewiesen. Darüber hinaus kann es jedoch auch zu "Totalrelativismus" und damit zu Verhaltensunsicherheit und Verhaltensbeliebigkeit führen, wenn (vor allem naive Menschen) dabei zu dem Schluß kommen: "Alles ist irgendwie erlaubt". Der gegenteilige Schluß sollte vielmehr erreicht werdem: "In jeder Kultur sind bestimmte Dinge erlaubt oder erwünscht, andere hingegen nicht". Interkulturelles Lernen dient nicht zuletzt auch dazu herauszufinden, welches diese Dinge sind.

Eine zweite Gefahr, ein zweites Risiko ist die Überbetonung von Unterschieden und das Vergessen von Gemeinsamkeiten. Interkulturelles Lernen sollte das Inventar kultureller Skripte um neue Skripte erweitern, ohne daß vorhandene Skripte aufgegeben werden; d.h. einige Skripte gelten auch im kulturverschiedenen Kontext, sei es weil sie auf den gemeinsamen (z.B. europäischen) Kulturkreis verweisen, sei es, weil sie mit global verbreiteten Lebensstilen zusammenhängen.

Da sich mit den Ereignissen, in denen die Routinen jeweils angewandt und ggf. leicht abgewandelt werden, immer auch mannigfaches Hintergrundwissen aufbaut, wird zugleich gelernt, Situationen daraufhin zu interpretieren, welche Routinen / Skripten sinnvollerweise angesagt sind ("Meta-Routinen"). Und schließlich baut sich allmählich ein "Weltbild" auf, ein kultureller Bezugsrahmen, der es erlaubt, Ereignisse und Routinen, Hintergrundwissen und Meta-Routinen zu ordnen und aufeiander zu beziehen.