FALL 6

 

A möchte sich eine neue Hose kaufen. Er findet eine wunderschöne im Laden des L zum Preis von 150 €. Da ihn der Preis etwas abschreckt, will er zunächst weiter suchen, ob er nicht etwas günstigeres findet. Zugleich will er im Notfall doch diese Hose kaufen. Er fragt deshalb L, ob dieser ihm die Hose bis 15 Uhr zur Seite legen könne. L sagt A zu, dass er für ihn die Hose zurücklege, wenn er sich bis um 15 Uhr melde; er werde vorher die Hose nicht veräußern und die Entscheidung des A abwarten.

Als A anderweitig keine günstigere Hose gefunden hat, will er doch die Hose im Laden des L kaufen. Deshalb versucht er, dort anzurufen, um L mitzuteilen, dass er die Hose für 150 € kaufen wolle. L geht aber vor 15 Uhr nicht ans läutende Telefon, weil er inzwischen kein Interesse mehr an einem Vertragsschluss mit A hat. Erst um 15.15 Uhr meldet er sich am Telefon; als A ihm seinen Kaufentschluss mitteilt, erklärt ihm L, nun sei es zu spät, er wolle die Hose nicht mehr verkaufen.

Kann A Übereignung der Hose zum Preis von 150 € verlangen?

 

 

Dieser Fall wurde von Frau Prof. Veit im SS 2004 im Grundkurs BGB I in der 1. Klausur gestellt.


FALL 6 – Lösungsskizze

-         2-Personen-Verhältnisse bilden!

-         Begehren ermitteln!

-         AGL ermitteln!

-         WER will WAS von WEM WORAUS als Obersatz.

-         Prüfung der AGL: Subsumtion des Lebenssachverhalts unter den TB der Norm, um deren Rechtsfolge anzuwenden.

 

 

A) Vertraglicher Anspruch AàL auf Übereignung der Hose

A könnte einen Anspruch auf Übereignung der Hose gegen L aus § 433 I 1 BGB haben.

 

Dazu müssten A und L einen Kaufvertrag abgeschlossen haben.

Vertragsschluss setzt gem. §§ 145 ff. Angebot und Annahme als zwei in Bezug aufeinander abgegebene, korrespondierende WE voraus.

 

I.) Angebot

Dazu müßte A oder L ein entsprechendes Angebot abgegeben haben.

 

1.) Angebot des L durch Ausstellen der Hose im Schaufenster

L könnte ein Angebot dadurch abgegeben habe, dass er die Hose im Schaufenster ausstellte. [So nach Lösungsskizze von Prof. Veit, im SV nicht erwähnt]

Angebot ist empfangsbedürftige WE, durch die ein Vertragsschluss einem anderen so angetragen wird, dass das Zustandekommen des Vertrags nur noch von dessen Einverständnis abhängt. Daher muß es bereits alle wesentlichen Elemente des angestrebten Vertrages (essentialia negotii) enthalten.

Die Ware im Schaufenster ist eindeutig bestimmt und auch mit einem Preisschild zu 150 € versehen. Folglich sind Kaufpreis und Kaufsache als essentialia negotii eines Kaufvertrages gemäß § 433 BGB hinreichend bestimmt. Es könnte damit ein Angebot auf den Abschluß eines Kaufvertrages vorliegen.

Ein Angebot als WE bedarf des objektiven Erklärungstatbestandes.

Dazu muss sich das Verhalten des Erklärenden vom obj. Empfänger-horizont her als Äußerung eines Rechtsbindungswillens darstellen.

IdR will Verkäufer weder Haftungs-, noch Insolvenzrisiko übernehmen. Er möchte sich ggf. seinen Vertragspartner aussuchen und sich der Verfügbarkeit der Ware versichern. Daher stellt das Ausstellen im Schaufenster objektiv nicht eine Äußerung eines RBW durch L dar. Vielmehr handelt es sich um eine Aufforderung das Geschäft zu Betreten und ein eigenes Angebot abzugeben (invitatio ad offerendum).

à Somit WE (-) à Antrag (-)

 

2. Angebot des A in seiner Erklärung ggü. L

Soll die Erklärung des A ggü. L ein Angebot sein, müsste sich dieses Verhalten des Erklärenden vom obj. Empfängerhorizont her als Äußerung eines Rechtsbindungswillens darstellen.

Hier: Wer Ware zurücklegen lässt, will sich idR gerade noch nicht binden (sonst würde sofort gekauft).

Objektiv RBW (-) à Somit WE (-) à Antrag (-)

 

3. Angebot durch L mit seiner Erklärung die Hose zurückzuhalten

Allerdings könnte die Erklärung des L ggü. A, die Hose bis 15 Uhr zurücklegen zu wollen, ein Angebot darstellen.

 

a) Vorliegen einer WE

Dazu müsste eine WE, dazu wiederum ein objektiver ErklärungsTB vorliegen. Der objektive Erklärungstatbestand liegt vor, wenn sich das Verhalten des Erklärenden vom objektiven Empfängerhorizont her als Äußerung eines Rechtsbindungswillens darstellt.

Hier: Wenn ein Verkäufer Ware zurücklegt, insb. um diesen Kunden für sich zu gewinnen, darf sich Kunde wohl darauf verlassen, dass Kaufgegenstand für ihn reserviert ist. Objektiv RBW (+).

Nach meiner Ansicht könnte man hier zur bloßen Gefälligkeit abgrenzen.

 

Auch der subjektive Tatbestand einer WE,

bestehend aus Handlungswille, Erklärungsbewusstsein und Geschäftswille,

liegt vor.

à WE (+)

 

b) Inhaltliche Anforderungen an einen Antrag

Soll die WE des L einen Antrag darstellen, muss sie auch inhaltlichen Anforderungen an einen Antrag genügen.

Notwendig für Antrag ist hinreichende Bestimmtheit: Die Annahme muss durch bloße Zustimmung, durch bloßes „Ja“ erfolgen können; dafür müssen wesentliche Punkte des Vertrags („essentialia negotii“) im Antrag enthalten sein.

-         Kaufgegenstand: Hose (+)               -    Kaufpreis: 150 € (+)

à Inhaltliche Anforderungen (+).

 

c) Zwischenergebnis

Die Erklärung des L ggü. A, die Hose bis 15 Uhr zurücklegen zu wollen, stellt einen Antrag auf Abschluss eines Kaufvertrags dar.

II.) Annahme

Um den Kaufvertrag abzuschließen, müsste A den Antrag des L annehmen.

 

Die Annahme ist eine grds. empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die der Antragsempfänger dem Antragenden sein Einverständnis mit dem angebotenen Vertragsschluss zu verstehen gibt.

Kaufentschluß zunächst gefaßt aber erst um 15.15 Uhr als WE mit dem Inhalt „Kaufentschluss“ abgeben und zugegangen à (+)

 

Rechtzeitigkeit der Annahme S C H W E R P U N K T

Die Annahme müßte rechtzeitig erfolgt sein.

Grundsätzlich gilt: Regelfall des § 147 I 1: Der einen Anwesenden gemachte Antrag kann nur sofort angenommen werden. à (-)

Sonst § 150

Ausnahme § 148: Bestimmung einer Annahmefrist; hier in der Erklärung des L, bis 15.00 Uhr auf die Entscheidung des A zu warten. (+)

Die Annahme hätte demnach bis 15.00 Uhr wirksam erklärt sein müssen.

 

a) Zugang der Annahmeerklärung bis 15.00 Uhr?

Eine empfangsbedürftige WE – wie grds. die Annahme – wird wirksam mit Zugang. Zur Festlegung, welche Anforderungen an den Zugang zu stellen sind, ist zu differenzieren zwischen WE unter Abwesenden und unter Anwesenden, des Weiteren danach, ob verkörpert oder nicht.

Hier: Annahme bei Telefonat = WE unter Anwesenden, vgl. § 147 I 2.

         WE in keiner Form gespeichert, also nicht verkörpert.

 

Zugang einer nicht verkörperten WE unter Anwesenden ist nach der reinen Vernehmungstheorie erfolgt, wenn Empfänger die WE vernommen hat,

 

nach der eingeschränkten Vernehmungstheorie, wenn der Erklärende davon ausgehen kann, dass der Empfänger die WE richtig und vollständig vernommen hat.

Hier: Versuch des Anrufs (-)

         Klingeln des Telefons wegen der Möglichkeit der Kenntisnahme (-),

         da L nicht wissen kann, ob Anruf von A

Meines Erachtens: Keine abgegebene Erklärung vor 15.15 Uhr, daher kann auch keine zugegangen sein; es läge höchstens eine ABGABEVEREITELUNG vor, die aber ähnlich einer Zugangsvereitelung behandelt werden könnte

A erklärt um 15.15 Uhr seine Annahme. Diese Erklärung könnte aber, weil sie verspätet abgeben wurde, ein neuer Antrag sein, § 150.

 

b) Verspätet zugegangene Annahmeerklärung, § 149          [kein Schwerpunkt]

Gleichwohl könnte die Annahme gem. § 149 S. 2 als nicht verspätet gelten. Dazu hätte A iSd § 149 S. 1 seine Annahme dergestalt absenden müssen, dass diese bei regelmäßiger Beförderung dem Antragenden rechtzeitig zugegangen sein würde, der Antragende hätte dieses erkennen müssen und die Verspätung nicht unverzüglich angezeigt haben.

-         Absenden“: Transport der Erklärung, somit Verkörperung à (-)

-         Jedenfalls hat L Verspätung unverzüglich angezeigt. à (-)

 

c) Verhinderung eines Bedingungseintritts, § 162 I             [kein Schwerpunkt]

Die Annahme könnte gem. § 162 1 als nicht verspätet gelten.

Dazu müsste die Annahme eine Bedingung iSd § 158 I sein, deren Eintritt L wider Treu und Glauben verhindert haben könnte. Bedingung iSd § 158 ist eine Nebenbestimmung, die an ein bestehendes Rechtsgeschäft geknüpft wird. Annahmeerklärung bringt Rechtsgeschäft aber erst zum Entstehen, fällt nicht unter § 158 I. à Damit auch § 162 I (-)

 

d) Fiktion rechtzeitig erklärter Annahme aufgrund Zugangsvereitelung

Die Annahme könnte aber dennoch als nicht verspätet gelten, da L den Zugang der Annahmeerklärung vereitelte,

Herleitung umstritten.

e.A.: Analogie zu §§ 162, 149, 815 gebietet Abwägung

-         Gedanke des § 149: Rechtzeitigkeit des Zugangs kann fingiert wer-den, wenn Empfänger Obliegenheit (rechtzeitige Anzeige) verletzt.

-         Gedanke des § 162: Fehlverhalten desjenigen, zu dessen Lasten der Bedingungseintritt gehen würde, geht zu Lasten dieser Person.

-         Gedanke des § 815: Fehlverhalten desjenigen, zu dessen Lasten der Bedingungseintritt gehen würde, geht zu Lasten dieser Person.

Hier: Vorverhandlung begründet Obliegenheit, rechtzeitigen Zugang zu gewährleisten; Obliegenheit verletzt. à Fiktion rechtzeitigen Zugangs (+)

a.A.: § 242 gebietet Abwägung

Allgemeiner Rechtsgrundsatz: Im Rechtsverkehr ist sich so zu verhalten, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

§ 242 begründet daher Obliegenheit: Wer mit Eingang rechtsgeschäftlicher Erklärungen rechnen muss, muss durch geeignete Vorkehrungen sicherstellen, daß ihn die Erklärung (jedenfalls rechtzeitig) erreichen kann.

Abwägung:

Wurde Obliegenheit berechtigt/unberechtigt, fahrlässig/vorsätzlich verletzt? Wurde Zugang vereitelt oder „nur“ Rechtzeitigkeit des Zugangs?

Hier: WE ist um 15.15 Uhr zugegangen, „nur“ Rechtzeitigkeit des Zugangs wurde vereitelt. Nach Vorverhandlung bestand Obliegenheit, ans Telefon zu gehen. Diese Obliegenheit wurde vorsätzlich und unberechtigt verletzt.

à Fiktion rechtzeitigen Zugangs (+)[1]

 

e) Zwischenergebnis

L muss sich so behandeln lassen, als hätte A die Annahme rechtzeitig erklärt.

 

3.) Zwischenergebnis

Mittels seiner telefonisch gemachten Erklärung, sich zum Kauf entschlossen zu haben, hat A den Antrag des L angenommen. Damit haben A und L einen wirksamen Kaufvertrag geschlossen.

 

III.) Ergebnis

A hat gegen Zahlung von 150 € einen Anspruch auf Übereignung der Hose gegen L aus § 433 I 1.

 

B) Weitere Ansprüche des A sind nicht ersichtlich.



[1] Ergebnis gleichlautend, Streitentscheid in solchen Fällen entbehrlich.