Zur Nomenklatur: bei dieser Art (und einigen anderen Arten in den beiden betroffenen Publikationen) tritt das interessante Phänomen auf, dass die Art unter dem selben Namen und im selben Jahr, 1851, zweimal von zwei verschiedenen Autoren, nämlich Goureau (1851) und Robineau-Desvoidy (1851), beschrieben wurde. Damals war es durchaus üblich, dass Forscher unfertige Manuskripte untereinander austauschten und deshalb auch die Manuskriptnamen neuer Arten oft schon lange vor deren tatsächlicher Publikation kannten. Nicht selten kam es dann vor, dass Autoren solche Namen in ihren Veröffentlichungen bereits verwendeten, obwohl das Manuskript des "eigentlichen" Beschreibers noch gar nicht veröffentlicht war. Damals war dies unproblematisch, da die Prioritätsregel noch nicht existierte und die Autorenschaft einfach durch Hinweis auf den "eigentlichen" Autor kenntlich gemacht werden konnte, so wie auch hier in diesem Fall: Goureau (1851) wollte die Art gar nicht selbst beschreiben, er bezog sich lediglich auf den Manuskriptnamen, den er von Robineau-Desvoidy kannte, und hat dies auch durch das Zitat "R.-D." kenntlich gemacht und in einer Fussnote noch einmal ganz klar verdeutlicht: "Die in den vorliegenden Notizen erwähnten Dipteren wurden von Herrn Macquart begutachtet, der mir freundlicherweise mitteilte, welche er für neu hält. [...] Die gleichen kleinen Dipteren wurden 1851 von Herrn Robineau-Desvoidy untersucht, der sie freundlicherweise benannte. Dies betrifft alle, auf deren Namen die Buchstaben R.-D. folgen [übersetzt aus dem Französischen]". Allerdings haben solche "Gentlemen's Agreements" der damaligen Zeit heutzutage keine nomenklatorische Relevanz mehr, wir müssen heute die aktuellen Regeln des International Code of Zoological Nomenclature anwenden. Zunächst gilt es herauszufinden, wessen Publikation nach der Prioritätsregel zuerst erschienen ist. Hierzu gibt es die Ansicht, dass die Arbeit von Goureau bereits im Juli 1851 (angeblich am 23.07.1851) erschienen ist, die Arbeit von Robineau-Desvoidy aber erst ein paar Tage später, im August 1851 (siehe Papp (1984) und Spencer & Martinez (1987)). Danach hätte dann also die Arbeit von Goureau nach den heutigen Nomenklaturregeln Priorität. Leider erklären Papp (1984) und Spencer & Martinez (1987) die Datierung nicht. Ich habe im gesamten betreffenden Band der Annales de la Société Entomologique de France keinen Hinweis darauf entdeckt, wann die einzelnen Seiten (möglicherweise in separaten Lieferungen oder Heften) erschienen sind. Ich konnte bislang auch keine offiziell publizierte Arbeit zu diesem Thema finden, es gibt lediglich inoffizielle Internetseiten (z. B. http://hbs.bishopmuseum.org/dating/) auf denen das Erscheinen des "zweiten Heftes" auf den 23. Juli 1851 datiert wird. Da ich momentan keine Hinweise habe, der vorherrschenden Meinung zu widersprechen, schließe mich dieser vorherrschenden Meinung zunächst provisorisch an, wonach Goureau´s Arbeit dann also Priorität genießt. Wir können die Arbeit von Robineau-Desvoidy (1851) also ignorieren und uns ganz auf die Arbeit von Goureau (1851) konzentrieren. Nun wird jedoch zum Problem, dass er die vorliegende Art mit zwei Namen "gleichzeitig" beschrieben hat (siehe Abb. 1).
           Beide Namen hält Goureau (1851) nicht für neu: er schreibt
          den Namen Phytomyza primulae dem Manuskript von
          Robineau-Desvoidy zu, das zu diesem Zeitpunkt jedoch noch
          unveröffentlich war. Und er schreibt den Namen Phytomyza
          cinerella dem Entomologen Meigen zu, der aber in keinem seiner
          Werke einen solchen Namen publiziert hat. Beides sind also
          nach dem International Code of Zoological Nomenclature neue
          Namen, die Goureau hier zum ersten Mal publiziert und
          beschreibt, obwohl sich Goureau dessen gar nicht bewusst ist.
          Aber: welcher der beiden ist nun der "richtige" Name? Leider
          ist diese Frage nicht so einfach zu beantworten, wie es in der
          Vergangenheit gemacht wurde. So haben z. B. Spencer &
          Martinez (1987) einfach alle Namen in Goureau (1851) hinter
          denen das Kürzel "R.-D." steht, zu "Nomina nuda" erklärt, weil
          sie sich ja zum Zeitpunkt ihrer Publikation (i.e. der 23. Juli
          1851) auf das Manuskript von Robineau-Desvoidy beziehen, das
          aber erst in der Zukunft (August 1851) publiziert werden
          würde. Die Idee dahinter ist wohl eine Fehlanwendung des
          Konzepts der "Indication" (Article 12.2.). Ein Nomen nudum
          entsteht nämlich immer dann, wenn ein Name publiziert wird,
          dem weder eine Beschreibung noch eine Indication beigefügt ist
          (ein "nackter" Name, ohne jedes beschreibende Wort, zu welchem
          Taxon der Name eigentlich gehören soll). Eine Indication ist
          dabei z.B. der Hinweis auf ein anderes Werk, in dem die Art
          beschrieben ist, die genaue Formulierung im Code ist dabei
          "bibliographic reference to a previously published
          description"; und da wir hier ja quasi eine "bibliographische
          Referenz auf eine zukünftig noch zu publizierende
          Beschreibung" haben, sind Spencer & Martinez (1987)
          offenbar davon ausgegangen, dass es sich nicht um eine
          Indication handelt und die Namen deshalb Nomina nuda sein
          müssen. Was Spencer & Martinez (1987) dabei aber völlig
          übersehen haben ist, dass den Namen in Goureau (1851) stets
          eine kurze Diagnose und dann noch eine ausführliche
          Beschreibung folgen. Von Nomina nuda kann man hier also beim
          allerbesten Willen nicht sprechen.
          Einen anderen Weg haben Evenhuis & Pape im Nomenclator auf
          ihrer Internetseite "Systema Dipterorum" gewählt (Onlinequelle
          derzeit (Mai 2024) aufrufbar unter
          http://www.diptera.org/Nomenclator (Achtung: moderne
            Browser kennzeichnen diese Adresse als unsichere Verbindung)).
          Diese Autoren gehen ebenfalls zunächst von der Priorität der
          Publikation von Goureau (1851) aus, wählen dann aber als
          validen Artnamen stets denjenigen Namen, den Goureau als
          allerersten erwähnt. Dies ist eine recht eigenwillige
          Anwendung der Prioritätsregel, denn die Prioritätsregel wird
          im Code durch viele Articles eingeschränkt, die Evenhuis &
          Pape völlig unberücksichtigt lassen. Außerdem besteht eine
          Priorität ausschließlich in zeitlicher Hinsicht, aber nicht im
          Hinblick auf die Stelle in der Publikation an der der Name
          "zuerst" gedruckt wird. Diese gerne als "page priority"
          bezeichnete Regel existiert im Code überhaupt nicht und es ist
          deshalb völlig egal, in welcher Reihenfolge die Namen auf dem
          Papier der Publikation von Goureau (1851) gedruckt sind.
        
Was ist also die korrekte Vorgehensweise nach dem
          International Code of Zoological Nomenclature? Gehen wir
          ebenfalls von der Priorität der Publikation von Goureau (1851)
          aus, so müssen wir zunächst feststellen, dass die beiden Namen
          ganz unzweifelhaft ordnungsgemäß publiziert worden sind,
          jedoch beide zu ein und derselben Artbeschreibung gehören.
          Beide Namen sind also das Synonym des jeweils anderen Namens.
          Solche Fälle, bei denen Namen von Arten "in Synonymie"
          publiziert wurden, regelt der Article 11.6. des International
          Code of Nomenclature (International Commission on Zoological
          Nomenclature 1999). Dort wird die "publication as a synonym"
          wie folgt definiert: "A name [...] when first published [...]
          treated as a junior synonym of a name then used as valid". Es
          gilt also: derjenige Name, den Goureau (1851) für die Art
          benutzt ("used as valid") ist also das "senior synonym",
          während der andere Name dann automatisch das "junior synonym"
          ist. Goureau (1851) nutzt in der gesamten Arbeit den Namen
          Phytomyza cinerella als Namen für die Art, und somit ist
          automatisch Phytomyza primulae nach Article 11.6. ein "junior
          synonym". Da der Name Phytomyza primulae vor 1961 jedoch
          häufig als valider Name behandelt wurde, ist der Name an sich
          verfügbar (available name) (Article 11.6.1.). Das ist wichtig,
          denn nicht verfügbare Namen (unavailable names) scheiden als
          valide Namen für Arten aus. Der Name Phytomyza primulae ist
          also noch nicht "aus dem Spiel", er verbleibt jedoch zunächst
          als "junior synonym" in der Synonymie von Phytomyza cinerella.
          
        
 Nun da wir die sog. precedence (Präzedenz) des Namens
          Phytomyza cinerella herausgearbeitet haben, der Name Phytomyza
          primulae aber nicht "excluded" oder "unavailable" ist, müssen
          wir noch prüfen, ob es Gründe gibt, diese Präzedenz
          einzuschränken bzw. umzukehren. Hier kommt Article 23.9. zum
          Tragen: da das senior synonym Phytomyza cinerella nach 1899
          nie als valider Name verwendet wurde und das junior synonym
          Phytomyza primulae häufig und kontinuierlich verwendet wurde
          (nach den Vorgaben von Article 23.9.1.2.), kann nach Article
          23.9. die Präzedenz tatsächlich umgekehrt werden, wodurch also
          Phytomyza primulae Goureau, 1851 der valide Name für diese Art
          ist.
        
Das gleiche nomenklatorische Problem tritt auch bei anderen
          Arten auf, die in den beiden Werken von Goureau (1851) und
          Robineau-Desvoidy (1851) publiziert wurden; diese werden dann
          gesondert, aber nicht mehr in dieser Ausführlichkeit wie hier,
          erläutert und besprochen (siehe: Amauromyza verbasci,
          Phytomyza
            aprilina, Phytomyza marginella, Phytomyza
            lappae, Phytomzya ilicis, Phytomyza
            horticola, Cerodontha iraeos,
          Phytomyza
            scolopendri, Phytomyza plantaginis, Phytomyza
            ranunculi, und Phytomyza spondylii)