Einführung
Im Sommersemester
2004 plante ich zusammen mit Studierenden am Seminar für Mittlere
und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität zu Göttingen
im Rahmen des Hauptseminars „Staat, Gemeinschaft und Religion. Zur
Bewegung des Alten Glaubens von den Anfängen bis in die heutige Zeit“ eine
Exkursion nach Lettland.
Im Seminar setzten wir uns mit dem Phänomen der russischen Kultur „ganz
eigener, anderer Art“ auseinander. Geht man von den neuesten Forschungsergebnissen
aus, dann stellt sich die Frage: Wie konnte aus dem heterogenen und so wenig
koordinierten Protest, dem „Krieg gegen die Kirche“, in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhundert, die Bewegung des Alten Glaubens entstehen,
die zwei Jahrhunderte später, Mitte des 19. Jahrhundert, mindestens 10%,
wenn nicht ein Viertel bis ein Drittel, der Gesamtbevölkerung an sich
band? – Anders gesagt: Wie konnte sich aus der marginalisierten Protestbewegung
in Russland eine Subkultur entwickeln, die wesentlich zur Herausbildung eines
positiven, Stadt und Land übergreifenden Gemeinschafts- und Geschäftssinns
beitrug sowie zur Entstehung einer modernen russischen Literatur und Kunst,
eines modernen kulturellen Selbstbewusstseins? – Auf der Suche nach einer
postsowjetischen bürgerlichen russischen Identität rückt der
Alte Glaube erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gesellschaftlich verankerte,
im Ansatz demokratische religiöse wie soziale Praxis besitzt hier eine
Tradition, auf die man zurückgreifen könnte.
Das Thema der Exkursion lautete „Auf den Spuren deutsch-russischer Nachbarschaften.
Die historische Minderheit der russischen Altgläubigen in Lettland“.
Eine internationale Konfe-renz zur Geschichte der russischen Altgläubigen
im Baltikum, die just um den Tag der Auf-nahme der drei baltischen Länder
in die Europäische Union am 1. Mai 2004 in Riga stattfand, diente mir
dazu, die Exkursion vor Ort vorzubereiten. Ich stellte mich den Gemeinden und
Experten vor, kündigte die Exkursion an und traf Verabredungen. Während
der Konferenzreise nahm ich in Riga auch mit dem Zentrum für deutsche
Geschichte, Kultur und Sprache an der Universität Lettland Kontakt auf
und traf mit dem Lektor der Robert Bosch Stiftung, die das Exkursionsprojekt
großzügig förderte, Vereinbarungen über ein gemeinsames
Seminar zur Geschichte der Altgläubigen in Lettland. Am 18. September
machte sich eine kleine Gruppe von insgesamt neun Personen auf den Weg, von
Göttingen mit dem Zug nach Hamburg, von dort mit dem Flugzeug nach Riga,
von Riga aus die Daugava (deutsch: Düna) entlang mit dem Zug Richtung
Latgale (deutsch: Lettgallen), der südöstlichen Region Lettlands.
Wir waren neun Tage unterwegs und hatten vier Reiseziele: die Grebenšcikov-Gemeinde des
Alten Glaubens in Riga, die Gemeinden der Altgläubigen im semgallischen
Jekabpils (deutsch: Jakobstadt), in der lettgallischen Provinzhauptstadt Daugavpils
(deutsch: Dünaburg) und in Rezekne (deutsch: Rositten), einer Bezirksstadt
Latgales. Geplant waren Besuche in den Gemeinden, Seminare an den Historischen
Fakultäten der Universität Lettlands in Riga und der Universität
Daugavpils, eine Begegnung mit der „Gesellschaft der Altgläubigen
in Lettland“ und Stadtspaziergänge, geführt von Ortskundigen
und Experten. Unser Plan war, in Lettland Orte aufzusuchen, an denen einst
russische Altgläubige neben protestantischen Deutschen und Letten, neben
Juden, katholischen Polen und Letten gelebt hatten und wo bis heute russische
Altgläubige neben Letten, Polen und Juden leben. Da die gesamte Region
während des Kalten Krieges von Westen her schwer zu bereisen war, herrscht
bis heute eine große Unkenntnis über sie und ihre Geschichte – angesichts
der Osterweiterung der Europäischen Union ein Zustand, dem abgeholfen
werden sollte.
Der Alte Glaube, von seinen Gegnern auch einfach als Schisma (raskol) bezeichnet,
ist eine Protestbewegung in der russischen Geschichte, die sich aus dem Widerstand
gegen die „Ni-konsche Reform“ Mitte des 17. Jahrhunderts konstituierte.
Der raskol wird als die große Kir-chenspaltung in Russland angesehen.
Der Erklärung der „Protestanten“ zu Schismatikern (Kirchenkonzil
1666) bzw. zu Staatsfeinden (Dekret der Regentin Sofia 1685) folgten Äch-tung,
Märtyrertod und Flucht. Die Bewegung formte sich im Laufe der ersten drei
Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts im unwirtlichen, staatsfernen Gelände
der Reichsperipherie und auch jenseits der Staatsgrenze. Dort haben sich kleine,
beständige Dependancen gebildet, zu denen seit Ende des 17. Jahrhunderts
auch die Gemeinden in Lettland gehören. Trotz Zerstreuung und vielfältiger
Fraktionierungen entwickelte sich der Alte Glaube von einer spontanen, apo-kalyptisch
orientierten Gemeinschaft zu einem Netzwerk von in sich sozial und ökonomisch
stabilen, prosperierenden Eintrachten (soglasija) und Gemeinden, die bis auf
den heutigen Tag Relevanz haben.
Wie die Habsburger in der Bukovina und der polnische Adel in Polnisch Livland,
dem heuti-gen Latgale, so gewährten auch die Deutschbalten, die nach der
Einnahme Livlands und Rigas durch Peter den Großen weiterhin Land und
Stadt verwalteten, den Altgläubigen in Riga den nötigen Schutz, damit
sie ihr Gemeindeleben entfalten konnten. Besonders bemerkenswert ist, dass
der Alte Glaube in Lettland auch die Zeit der Sowjetherrschaft hindurch überdauern
konnte. Der Alte Glaube wurde von der orthodoxen Kirche erst 1971 offiziell
wieder rehabilitiert. Heute stellen die Altgläubigen eine der größten
Konfessionsgruppen Lettlands dar.
Die Altgläubigen in Latgale und Riga gehören zu den priesterlosen
pomorcy, und ein kleiner Teil von ihnen zu der radikaleren Untergruppe
der fedoseevcy. Riga, Daugavpils und Rezekne sind die Zentren des Alten Glaubens
in Lettland. Im Kreis Rezekne wurden bereits Ende des 17. Jahrhundert, im Zuge
der ersten Flüchtlingswelle, Altgläubigengemeinden gegründet.
Für die Stadt ist die Existenz einer Gemeinde jedoch nicht vor der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts verbürgt. Nach der offiziellen Zählung
von 1897 lebten im gesamten Gouvernement Vitebsk, zu dem Daugavpils und Rezekne
damals gehörten, etwa 83.000 Altgläubige (nach den Russisch-Orthodoxen
mit 825.000, den Katholiken mit 360.000 und den Juden mit 175.000 die viertgrößte
Konfessionsgruppe). Anfang der 1990er Jahre gab es insgesamt siebzig Bethäuser
für Altgläubige in ganz Lettland (Latgale und Riga). Nach einer fünfzigjährigen
Zwangspause sind die Altgläubigen in Lettland seit 1989 wieder auf Landesebene
organisiert. Im östlichen Landesteil Latgale bilden sie nach den Katholiken
die zweitgrößte Konfessionsgruppe.
In Nachbarschaft zu den Deutschbalten, Letten, Juden und Polen entwickelten
die Altgläubi-gen eine russische Kultur besonderer Art. Im Zweiten Weltkrieg
wurden sie von den Natio-nalsozialisten als potentielle russische Kollaborateure
betrachtet und verfolgt. Im russischen Kontext gelten sie als die „Protestanten“ gegen
die russisch-orthodoxe Kirche. Ein Anliegen der Exkursion war, nach der Vergleichbarkeit
von Altem Glauben und deutschem Protestan-tismus sowie nach möglichen
Einflüssen des Protestantismus auf den Alten Glauben in Lett-land zu fragen – eine
Hypothese, die die Forschung diskutiert.
Das erste Ziel der Exkursion war, sich die Nachbarschaft zwischen den russischen
Altgläubi-gen und den verschiedenen anderen ethno-konfessionellen Gruppen
hinsichtlich der Ge-schichte, der Sprache, der Religion und der Mentalität
in Lettland zu vergegenwärtigen. Die Altgläubigen waren bzw. sind
dort – wie die Deutschen und die Juden – historische Minder-heiten.
Das zweite Ziel war, die Bethäuser der Altgläubigen in ihrer Nachbarschaft
vor allem zu protestantischen Glaubensgemeinschaften im heutigen Lettland zu
sehen. Die Vergegen-wärtigung der Verantwortung für die nationalsozialistischen
Verbrechen im Namen Deutsch-lands war ein drittes Ziel der Exkursion. In der
Nähe von Rezekne wurde im Zweiten Welt-krieg ein ganzes Altgläubigendorf
vernichtet.
Angeregt zu der Exkursion wurde ich von der Studentin der Osteuropäischen
Geschichte
Diana Krastina, die im Semester zuvor eine Seminararbeit über die Minderheitenrechte
in der Ersten Republik Lettland und über die besondere Situation der jüdischen
Minderheit ge-schrieben hatte und deutsche Studierende gern mit Lettland und
seiner Geschichte bekannt machen wollte. Diana Krastina stammt aus Kurland
und lernte auf der Exkursion Latgale und damit eine neue Facette Lettlands
kennen. Als ortskundige Sprachbegleiterin lud ich Natalija Ignatjeva, Studentin
der Osteuropäischen Geschichte an der Universität Mainz, ein, an
der Exkursion teilzunehmen. Natalija Ignatjeva stammt aus einer Altgläubigenfamilie
in Rezekne und hat ihre Bachelor-Arbeit an der Historischen Fakultät der
Universität Lettland über die Gemeinden der Altgläubigen in
Latgale während der Sowjetzeit verfasst. Diana Krastina und Natalija Ignatjeva
haben uns Deutschen während der Exkursion sehr geholfen, sich zurechtzufinden.
Sie haben nicht nur übersetzt und so die Kommunikation mit den Gastgebern
gewährleistet, sondern uns auch auf unterschiedliche Weise die Vielfalt,
die Eigenarten und Schönheiten Lettlands vor Augen geführt und uns
zu einem sensibleren Verständnis für die politisch und wirtschaftlich
schwierige Situation verholfen. Natalija Ignatjeva hat in der Regel gedolmetscht,
während Diana Krastina uns mit wichtigen Gepflogenheiten des Landes und
den Spezialitäten der lettischen Küche bekannt machte. Ohne ihre
Hilfe wären die Selbstversorgung in den Supermärkten und die Menüwahl
in den Selbstbedienungsrestaurants nicht so reibungslos verlaufen.
Die Teilnahme der beiden Lettländerinnen an den Begegnungen mit Repräsentanten
der Ge-meinden und der „Gesellschaft der Altgläubigen“ in
Lettland, mit Kollegen und Experten der Geschichte des Alten Glaubens auf der
Frühjahrskonferenz wirkten vertrauensbildend. Sie öffneten unserer
Gruppe Türen zu uns unbekannten und fremden Welten. Am Rigaer Flughafen
wurden wir von der Historikerin Nadeda Pazuchina und dem Vorsitzenden
der „Gesellschaft der Altgläubigen“ Illarions Ivanovs in
Empfang genommen. Den Einstieg in die Exkursion bildete der Gottesdienst am
Sonntagmorgen im Bethaus der Grebenšcikov-Gemeinde, dem wir von
der Galerie aus folgen durften. Am
Montag half uns der Robert-Bosch-Lektor Holger Böckmann
am Zentrum für deutsche Geschichte, Kultur und Sprache an der Historischen
Fakultät der Universität Lettland ein Seminar zum Thema „Deutsch-Lettisch-Russische
Nachbarschaften. Russische Minderheiten in Lettland. Der Alte Glaube in Geschichte
und Gegenwart“ zu organisieren. Daran nahmen der Historiker, Professor
für die Kirchengeschichte Lettlands Aleksandrs Gavrilins, als Vertreter
des Integrationsministeriums Ivans Michailovs, die Nachwuchswissenschaftlerin
Nadeda Pazuchina, der Doktorand an der
Sorbonne, Paris, Yván Leclere und die Postgraduierte Viktorija Aleksandrova
teil. Zwei Tage später veranstalteten Kollegen vom Robert-Bosch-Weiterbildungszentrum
und von der Historischen Fakultät der Universität Daugavpils (Andrea
Stritz, Irena Saleniece, Dmitrijs Olehnovics) ein ähnliches Seminar,
dieses Mal unter dem Motto „Geschichte und Gegenwart Lettlands von
Latgale her betrachtet“. Die mangelnde Beteiligung von lettischen Studierenden
wie Anschubschwierigkeiten der Diskussion bei beiden Seminaren zeigten an,
dass Forschung und Lehre zur Geschichte der russischen historischen Minderheit
der Altgläubigen in Lettland ein Nischenthema ist, wie Professor Ilgvars
Misans, der Leiter des Zentrums für deutsche Geschichte in Riga, später
eingestand, denn die Letten beschäftigten sich noch vorwiegend mit sich
selbst. Die Kommunikationsschwierigkeiten waren auch ein Hinweis darauf,
dass es nicht angeraten ist, Seminare ohne Personenkenntnis von Ferne zu
planen.
Lebendiger ging es bei den Erkundungen zu. Viktorija Aleksandrova begleitete
uns durch die Moskauer Vorstadt. Nadeda Pazuchina führte uns durch
das hauptstädtische Riga. Im semgallischen Jekabpils organisierte der
Gemeindevorsitzende Valerijs Plotnikovs kurzfristig eine Exkursion für
uns. Zusammen mit der Lehrerin im Ruhestand Zinaida Zimova trieb er uns zur
Eile an. Er wollte uns in den wenigen Stunden, die wir zur Verfügung
hatten, so viel wie möglich von seiner Stadt zeigen. In Rezekne wurden
wir von dem Regionalhistoriker und Gemeindevorsteher Vladimirs Nikonovs liebevoll
betreut
und kompetent durch die Stadtgeschichte wie durch die Geschichte der Altgläubigen
in Stadt und Umgebung geführt. In Riga, Jekabpils und Daugavpils stellten
uns die nastavniki ihre Bethäuser vor. Jeden Tag und an jedem
Ort setzte sich die Gruppe zusätzlich zu Vortragsrunden über Landes-,
Orts- und Stadtgeschichte, Geschichte des Minderheitenrechts in der Ersten
Republik
Lettland, über die Geschichte und Kultur der Altgläubigen etc.
zusammen, ob es nun bei den „Küchengesprächen“ in der
Etagenküche
unseres kleinen Hotels in der Moskauer Vorstadt war, in einem Altstadtcafé von
Riga oder im größten der Zimmer im Studentenwohnheim in Daugavpils.
Nur die Unterkunft im Motel „Nakts zvaigzne“ (Nachtstern) an
der Chaussee drei Kilometer vor Rezekne verbot sich dafür. Der Höhepunkt
der Begegnungen und des Meinungsaustausches war sicherlich die Diskussionsrunde
in der „Gesellschaft der Altgläubigen in Lettland“ am letzten
Exkursionstag in Riga, wo wir von in Gemeinde und Gesellschaft engagierten
Altgläubigen, unterstützt durch Nadeda Pazuchina, eindringlich
nach unserem Interesse und unseren Eindrücken be-fragt wurden und offen
Fragen stellen konnten, wo Missverständnisse ausgeräumt, aber auch
Grenzen des Verstehens aufgezeigt wurden und wir alle miteinander Möglichkeiten
und Per-spektiven einer nachhaltigen Zusammenarbeit deutscher, russischer
und lettischer Studierender und Forschender zum Alten Glauben erörterten.
Die Eindrücke und Erfahrungen der Teilnehmenden werden im vorliegenden
Reisetagebuch dokumentiert.
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