Daugavpils,
Mittwoch 22. September |
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Von
der idyllischen Daugava zum „Hämorrhoiden-Schock“ (protokolliert von Ronald Pokoyski) |
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Nach dem Seminar, gegen 13.30 Uhr, wartete auf uns vor der Universität ein Bus. Ein Bus? Na ja, man brauchte einen weitreichenden Horizont des Begriffes Bus (Foto). – Nein, so schlimm war es gar nicht. Es handelte sich um einen Kleinbus, der auch schon bessere Tage gesehen hatte und bei dem der deutsche TÜV einem, nebst einem mitleidigen Lächeln, gleich den Preis für Altmetall mitgeteilt hätte. | |
Dieser Bus nun hatte die Aufgabe, unsere Gruppe, samt I. Saleniece, einer Studentin, der Boschlektorin Andrea Stritz und ihrem russischen Ehemann, mit auf eine Exkursion in das Umland von Daugavpils zu nehmen. Auf dem Weg aus der Stadt hielten wir noch einmal kurz am Straßenrand, um unsere einheimische Führerin Evita einzusammeln. Es war fast unmöglich sie zu übersehen, mit ihrem roten Haar, durchzogen von einigen orangen Strähnen. Wir setzten unsere Fahrt Richtung Dorfgemeinde Naujene | |
fort, die sich im Naturpark „Daugavas loki“ (die Windungen der Daugava) befindet, wo wir uns auf einem 1996 angelegten Wanderpfad mit steilen Treppen, hinauf und hinab, der alten Dinaburg näherten. Halt machten wir kurz auf einer kleinen hölzernen Brücke, zu der Evita auch eine kleine Legende parat hatte. Es handelte sich bei diesem Brückchen demnach um eine „Brücke der Verliebten“. Stellt man sich auf die Brücke, denkt an etwas Schönes und bringt es gleichzeitig fertig, der Stimme der Natur zu lauschen, so geht der Wunsch in Erfüllung. |
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Die alte Dünaburg liegt bzw. lag auf einer Anhöhe direkt an der Daugava. Heute ist von ihr allerdings fast nichts mehr zu sehen. An ihrer Stelle steht nun ein Modell (Foto links) der 1275 vom Deutschen Orden erbauten Burg. Die Burg soll in ihrem vorderen Teil eine katholische Kirche gehabt haben. Daneben soll sie außerdem bereits über eine Toilette und einen Keller verfügt haben (und über einen Schlossgeist, der sich aber strickt weigerte, in das Modell überzuwechseln.) | |
Bereits
in frühester Zeit bildete die Daugava einen Teil eines alten Handelsweges,
weshalb es nicht verwundert, dass die strategisch
günstig gelegene Burg schnell das Verlangen anderer Herrscher weckte. So auch das des litauischen Fürsten Treuben, der mit hölzernen Belagerungstürmen versuchte, die Burg zu erobern, was ihm wegen der guten Befestigung der Burg jedoch nicht gelang. Ihre Mauern beispielsweise waren zweieinhalb Meter dick. |
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Treuben
sollte nicht der
Einzige
bleiben, der sich an ihrer Eroberung versuchte. Ivan Groznyj (der Schreckliche) schließlich bezwang ihre Mauern, zerstörte die Burg und ließ sie nicht wieder aufbauen, da sie ihre strategisch wichtige Stellung mittlerweile verloren hatte. Ungenutzt blieben die Reste der Burg jedoch nicht. Ihre Steine wurden zum Bau der Stadt an der Stelle des heutigen Daugavpils verwendet. Im 19. Jahrhundert beauftragte Graf Plastor einen Archäologen, der die Reste der Burg entdeckte und daraus die Lage und ihr Aussehen rekonstruierte. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, wurden bei Ausgrabungen abermals Teile der Burg wieder entdeckt, sowie ein Teil der Siedlung, die sich im Schutze der Burg entwickelt hatte. Im Jahr 2000 kam es dann zur vorläufig letzten Grabung, an der die Universität Daugavpils sowie das Rigaer Institut für Geschichte beteiligt waren. Alle damals gemachten Funde befinden sich heute in einem Museum in Riga. |
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Nach der
Besichtigung der ehemaligen Burganlage führte uns unser Weg zu
dem achtzehn Meter hohen Aussichtsturm von Vasargališki, an den
Windungen
der Daugava gelegen. Wenn der
Beobachter die richtige Position einnimmt und flussaufwärts
schaut, kann er die Windun-gen der Daugava entdecken, die sich auf der Rückseite
des Zehn-Lati-Scheines befinden (Foto links). Als nächstes Ziel stand das Altgläubigendorf Slutiški, welches als Freiluft-Museum fungiert, auf unserem Tourplan. |
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Im Jahre 1765 kamen die ersten Altgläubigen in die Umgebung des heutigen Daugavpils. Sie wurden freundlich aufgenommen, hauptsächlich weil aufgrund der Zerstörungen des Nordischen Krieges gute Arbeitskräfte benötigt wurden. Zudem sagte das Land auch den Altgläubigen zu, war es doch so weitläufig, dass sie unter sich bleiben konnten. | |
Unterwegs zu dem Dorf erzählte uns I. Saleniece noch die Geschichte über das Wasserkraftwerk, das Ende der 1980er Jahre in der Gegend gebaut werden sollte. Dieses Vorhaben der Regierung wurde aber durch das Engagement einflussreicher lettischer Publizisten verhindert; die Diskussion in der Presse über die Erhaltung und den Schutz der Natur gilt heute als Anstoß der Nationalbewegung Lettlands. Ende des 19. Jahrhunderts bestand das Dorf Slutiški aus einundzwanzig Häusern und nur einem Brunnen, der heute noch als einziger seiner Art im Dorf zu finden ist. Charakteristisch für altgläubige Dörfer war, dass sich der Brunnen immer am Haus des Ältesten befand. So-bald dieser starb, zog der nun Älteste in das Haus mit dem Brunnen. Vor dem Brunnen stand stets ein Krug, dessen sich Ungläubige bedienen sollten, weil sie unter keinen Umständen dieselben Gefäße wie die Altgläubigen benutzen durften. | |
Eines der Häuser im Dorf, es stammt aus dem 19. Jahrhundert, ist für Touristen in ein Muse- | |
um verwandelt worden. Beim Eintritt fällt die für Altgläubigen-häuser typische niedrige Tür und die hohe Schwelle auf, die einen dazu bringen soll, den Kopf zu neigen, will man sich nicht aus mangelndem Respekt und fehlender Gottesfurcht ein kleines Mitbringsel auf der Stirn einfangen. Von dem zentralen Flur führt rechts eine Tür in das Wohn- und Schlafzimmer. Die Decken sind niedrig und das Zimmer ist für unsere Verhältnisse klein. Überraschend war deshalb die Information, | |
dass dieses Zimmer mit Hilfe von Schränken früher noch weiter unterteilt war. Links neben | |
dem Eingang befindet sich ein großer russischer weißer Ofen, auf dem man in kalten Winternächten schlief. Auf einem Tisch liegt Werbematerial. Dahinter, in der rechten Ecke hängt eine Ikone. Darunter steht eine schmale Bank mit einem podrušcnik oben drauf. Daneben, auf einem Nähmaschinentischchen, befindet sich ein alter Koffer-plattenspieler. Er gibt einen Hinweis, wozu dieser Raum neben Schlafen und Arbeiten noch genutzt wurde – zum Feiern und gemütlichen Beisammensein. Bei diesen „Partys“ konnte schon mal das ganze Dorf zusammen-kommen. Die Älteren brachten bei diesen Gelegenheiten den Jüngeren das Singen, Tanzen und auch – das Küssen bei. Wir fanden auf dem Flur, der Tür zum Wohnraum gegenüber, einen weiteren Raum, in dem sich Arbeitsgeräte, unter anderem ein Spinnrad, befinden. Neben diesem Raum liegt die Speisekammer, auch „kalte Kammer“ genannt. |
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Trotz aller interessanter Austellungsobjekte waren die Leblosigkeit des Hauses und die schwere Luft dicker Staubschichten auf dem Boden und den Regalen spürbar. | |
Im Laufe der Besichtigung machte sich zusätzlich großer Hunger bemerkbar, da unser Mittagessen der dichten Tagesplanung aller Beteiligten zum Opfer gefallen war. Die Verheißung eines typisch altgläubigen Gerichtes sollte uns nun zurück nach Daugavpils treiben. Es handelte sich um eine Sauerkrautsuppe mit Fleischeinlage und Sauerrahm, die normalerweise vierundzwanzig Stunden vorbereitet werden muss. Genau eine solche bekamen wir nämlich |
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gegen 16 Uhr in der Medizinischen Fachschule in Daugavpils serviert. Als erstes Gericht gab es Sauerkrautsuppe mit Pellkartoffeln und einem selbstgebrannten Schnaps. Dann folgten gebratene Kartoffelplätzchen mit Möhren gefüllt, wozu Sauerrahmsoße gereicht wurde. Zum Nachtisch wurden wir mit ausgezeichnet schmeckendem Klosterkuchen überrascht, den wir zusammen mit heißem schwarzem Tee, wieder gut gelaunt, genossen. Die Museumsleiterin, die uns freundlich durch das Essen führte, betonte extra noch einmal, dass die Gerichte traditionell seien und zu dem Köstlichsten gehörten, was die Küche der Altgläubigen zu bieten habe. Dem stimmten wir alle zufrieden zu. | |
An dieser Stelle eine kleine Anekdote über ausrangierte Bücher und den zweiten Bildungsweg: Nun ist es rein menschlich, mal dem Ruf der Natur folgen zu müssen, und manchmal kann das, was man dann an gesuchtem Ort vorfindet, auch recht interessant sein. Wenig überraschten die fehlenden Türen; Trennwände waren ja vorhanden (Foto). Zum Grübeln brachte mich erst der Papiereimer neben der Toilette, der dazu diente, Verstopfungen der dünnen Abflussrohre zu vermeiden. Besagter Eimer enthielt kein Toilettenpapier. Also doch Papier in die Toilette? Aber wo war überhaupt das Papier? – Ja, es dauerte noch eine weitere Millisekunde, bis mir diese Art des direkten Recycelns bewusst wurde. Man vermeidet einfach den Umweg über die Altpapierentsorgung. Hier landen u. a. ausgediente Lehrbücher, womöglich aus der Bibliothek, direkt auf dem Klo (siehe rechts). | |
Nachdem wir gegessen hatten, waren wir im Zeitplan ziemlich zurück und trotz unserer Eile geschah das, was irgendwann immer mal auf einer Exkursion passieren kann. Wir verpassten einen Termin, nämlich den mit Aleksejs ilko, dem nastavnik der Gemeinde „Kirche der Geburt der Heiligen Gottesmutter und des Heiligen Nikola” (Foto siehe unten), der bis 17 Uhr auf uns gewartet hatte und nun, zu unserer großen Bestürzung, anderen Verpflichtungen nachging. | |
Obwohl
das Abendgebet bereits begonnen hatte, gestattete man uns, eine Zeitlang
leise den hinteren Teil des Bethauses anzusehen. Die Frage war, was jetzt tun? I. Saleniece hatte versprochen, uns um halb sechs wieder vor dem Bethaus zu treffen. Da sie jedoch kurz vor 18 Uhr noch nicht wieder auftaucht war und der Busfahrer sich bereit erklärt hatte, uns zurück zur Universität zu bringen, nahmen wir sein Angebot an. Zur Debatte stand nun die weitere Abendgestaltung. Noch einen kleinen Stadtrundgang? Etwas trinken und ein Referat über Daugavpils hören? Wir entschlossen uns zunächst zu einem Stadtspaziergang im regnerischen und windigen Daugavpils, bei dem wir unter anderem eine der Synagogen zu Gesicht bekamen (siehe Exkurs zum jüdischen Daugavpils). Mittlerweise dann doch etwas müde und vom Regen geplagt, kam Verena plötzlich und aufgeregt mit einer neuen Nachricht nach vorne gestürmt. |
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Sie
hätte mit dem nastavnik telefoniert, um sich bei ihm zu entschuldigen,
und er hätte uns wohlwollend angeboten, das Bethaus zu zeigen
und erwartete
uns. Also hieß es, schnell in die nächste richtige Straßenbahn
zu springen, um ihn nicht abermals warten zu lassen (Foto rechts). Kurz nach
19 Uhr trafen wir, ganz außer Atem nach unserem Lauf durch die Hinterhöfe
und Seitengassen zum Bethaus, auf Aleksejs ilko, der dort bereits wartete. |
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Der
Grund dafür, dass am heutigen Tag nur ein Mann zum Beten kam,
liege daran, dass am vorhergehenden Tag der Feiertag Marias Geburtstag
war, erklärte uns A. ilko. |
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Wie
Aleksejs ilko
berichtete, nehmen viele Jugendliche aktiv am Gemeindeleben teil, besuchen
den Gottesdienst, singen zum Teil im Chor oder besuchen die Sonntagsschule.
Zudem unterstützt die Gemeinde aktiv Alte und Kranke. |
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