Römisch-katholische Perspektiven
auf die Corona-Pandemie

Nicolas Manuel Anders


            Kirche symbol

1) Die untersuchte religiöse Gemeinschaft


Die römisch-katholische Kirche gilt mit über einer Milliarde Mitgliedern als weltweit größte Religionsgemeinschaft und ihr gehören in Deutschland etwa 23,6 Millionen Menschen an. Auf Grund ihrer Größe und Bekanntheit soll sie hier nicht im Detail dargestellt werden (vgl. v.a. https://www.katholisch.de/kirche/deutschland für eine ausführliche Selbstvorstellung). Das hier untersuchte Feld beschränkte sich auf den Aufruf „Veritas liberabit vos“ („Die Wahrheit wird Euch befreien“, gem. Joh 8,32), der am 8.05.2020 von Erzbischof Viganò veröffentlicht (vgl. nachstehende Abbildung mit Verlinkung) und innerhalb wie außerhalb der katholischen Kirche kontrovers diskutiert wurde. Um dieser Debatte in Deutschland nachzuspüren, wurden darüber hinaus im Internet öffentlich zugängliche Äußerungen der Deutschen Bischofskonferenz, des Bistums Hildesheim und der St. Paulus Gemeinde in Göttingen zur Corona-Pandemie untersucht. Erwartbarer Weise hat sich hierbei ein Spannungsfeld verschiedener religiöser Deutungen der Pandemie und entsprechender unterschiedlicher Folgerungen für die religiöse Praxis ergeben. Interessant ist jedoch, dass keine der untersuchten Stellungnahmen explizit eine innerkirchliche Debatte zum Umgang mit Corona thematisiert. Vielmehr wird in allen Fällen der Eindruck erweckt, als seien die eigenen Positionen der unhinterfragte Grundkonsens einer einheitlich agierenden Glaubensgemeinschaft.



Logo von Veritas liberabit vos


2) Religiöse Deutung 


Alle untersuchten Texte formulieren den Gedanken, dass es sich bei der Corona-Pandemie um eine wissenschaftlich belegte Tatsache handelt, deren weitere Ausbreitung verhindert werden muss, auch wenn im Detail unter dem Terminus „Wissenschaft“ sehr Unterschiedliches verstanden wird. Die Autoren von „Veritas liberabit vos“ verbinden den Kampf gegen Corona jedoch auch mit dem Kampf gegen unsichtbare, oft teuflisch gezeichnete „fremde Mächte“. Die Maßnahmen gegen die Pandemie dürften nicht zur „Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht“, führen. Mit Hilfe des christlichen Gottes sollen die Menschen und insbesondere die legitimen Volksvertreter*innen die „Jahrhunderte christlicher Zivilisation“ gegen diese Mächte retten, welche die Gemeinschaft der Menschen untereinander zerstören wollen.

     Der Text des Aufrufs lässt zudem erkennen, dass diese „Mächte der Finsternis“ als unmittelbare Bedrohung der Kirche wahrgenommen werden, insbesondere, wenn staatliche Instanzen die zeitweilige Aussetzung von Gottesdiensten im Rahmen von Schutzmaßnahmen fordern: Demgegenüber müsse die Kirche ihr eigenes Selbstbestimungsrecht einfordern, sie dürfe sich jedenfalls nicht kampflos in den digitalen Raum abdrängen lassen. Insgesamt gelte es, den Kampf gegen eine „verabscheuungswürdige technokratische Tyrannei“ aufzunehmen, die es systematisch versuche, unter dem Vorwand der Pandemie nachhaltige „Formen der Kontrolle über Menschen“ einzurichten. Daher wird auch z.B. die Benutzung einer Corona-App abgelehnt („Systeme der Bewegungsverfolgung“). Insgesamt wird in dieser Stellungnahme tatsächlich eine deutlich verschwörungstheoretische Atmosphäre geschaffen, in der die Wiedergewinnung (verlorener) katholischer Deutungs-Autorität als politische Gegenstrategie angemahnt wird.


Die wenigen hier untersuchten Äußerungen innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland setzen sich nicht explizit mit dieser speziellen Deutung der Corona-Pandemie auseinander: Die entsprechend deutlichen Stellungnahmen aus unterschiedlichsten katholischen Organen gegen den o.a. „Aufruf“ werden auch nicht eigens aufgegriffen. Die hier stichprobenartig untersuchten katholischen (institutionellen) Kontexte bieten aber auch selbst kaum eigene religiös-spirituelle Deutungsangebote jenseits ethischer Appelle zum gegenseitigen Schutz. Eine prominente Ausnahme bildet der Text „Corona und die Suche nach der künftig gewesenen Zeit“, den der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Bätzing am 10.09.2020 veröffentlicht hat. Darin äußert er die Hoffnung, dass sich Corona und die damit verbundenen Maßnahmen im Rückblick als eine Art Sabbat interpretieren lassen. Zwar führt der die Pandemie nicht explizit auf göttliches Wirken zurück, wohl aber implizit, wenn er den Sabbat in diesem Kontext eine „von Gott verfügte Erfindung“ nennt, die den Menschen und die Gesellschaft wie auch die Corona-Pandemie in eine Ruhepause zwingt. – Pfarrer Haase bringt den Gläubigen der Göttinger St. Paulus Gemeinde die Deutung von Papst Franziskus näher, die dieser am 27.03.2020 in einer Predigt im Petersdom formuliert hat. Darin interpretiert er die Pandemie als einen Sturm, der die Schwächen und die Verletzlichkeit der Menschen aufdeckt, jedoch letztendlich von dem christlichen Gott gestillt wird, wie von dem irdischen Jesus nach dem Bericht des Markusevangeliums (Mk 4,35–41).

Anmerkung. – Hier finden sich Gedanken wieder, die auch in anderen Religionskontexen ganz analog formuliert wurden: → die zwangsverordnete Pause solle in religiöser Hinsicht geradezu als „Chance“ zur Besinnung und Einkehr angenommen und zur spirituellen Resilienzstärkung genutzt werden. Vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag zu buddhistischen Perspektiven und Reaktionen bzgl. der COVID19-Pandemie, etwa die zen-buddhistischen Empfehlungen zum meditativen „Stubenhocken“.



3) Religiöse Praxis


In Bezug auf die religiöse Praxis hat die Untersuchung insbesondere das Verbot von gemeinschaftlicher Gottesdienstfeier als kontrovers diskutierten Punkt ausgemacht. Die Autoren von „Veritas liberabit vos“ lehnen staatliches Eingreifen in die liturgische Praxis der Kirche auch zur Bekämpfung der Pandemie entschieden ab. Sie begründen dies interessanterweise nicht etwa mit Bezug auf die Religionsfreiheit, sondern mit einem von Christus gegebenen Grundrecht der Kirche. Erst wenn der Staat dies akzeptiere, könnte es wieder zu einer Kooperation der Kirche mit dem Staat kommen.

     Die offiziellen Stellungnahmen der katholischen Kirche in Deutschland hingegen akzeptieren ausdrücklich die staatlich verordneten Einschränkungen bis hin zum Verbot von Gottesdiensten in Präsenz, auch wenn immer wieder auf den Schmerz und den Ausnahmecharakter solcher Maßnahmen hingewiesen wird. Allerdings wird auch die Hoffnung geäußert, dass gerade diese schwierige Situation dazu führen wird, dass sich die Kirche auf ihre Grundlagen besinnt und gestärkt daraus hervorgeht. Dies könne etwa dadurch geschehen, dass die Menschen erkennen, was ihnen fehlt, wenn keine Gottesdienste stattfinden können. Die genaue Ausgestaltung der religiösen Praxis wird in Deutschland streng an die Vorgaben der jeweiligen Landesregierungen gebunden, weshalb sich die Umsetzung primär auf der Ebene des Bistums und der einzelnen Gemeinden zeigt. So gibt es sowohl im Bistum Hildesheim als auch in der St. Paulus Gemeinde in Göttingen viele Versuche, möglichst viel religiöses Leben in Einklang mit den Schutzmaßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu ermöglichen. – Eine Ausnahme in der Region Göttingen/Hannover bildete zu Beginn der Pandemie allerdings die „Polnische Katholische Mission“ in Hannover-Buchholz, die in der Kirche Maria Frieden im März 2020 trotz der Gottesdienstverbote einen Gottesdienst mit bis zu 40 Personen abhielt. Gegen den Pfarrer und die GottesdienstbesucherInnen wurden daher mit Wirkung vom September 2020 entsprechende Bußgelder verhängt (1000 Euro und je 180 Euro).



4) Fazit


In der römisch-katholischen Weltkirche findet sich naturgemäß eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen zu und Umgangsweisen mit der Corona-Pandemie. Dies kann von Ansätzen reichen, die an sog. Verschwörungstheorien erinnern, während die offiziellen Vertreter in Deutschland versuchen, die Realität der Pandemie auf wissenschaftlichen Grundlagen in ihre Theologie zu integrieren und möglichst viel religiöse Praxis in Einklang mit den staatlichen Vorgaben zu ermöglichen. So zeigt sich, dass es für eine derartig große Religionsgemeinschaft in dieser die ganze Welt verändernden Situation kaum einheitliche Positionen geben kann, sondern das religiöse Leben den jeweiligen regionalen und kulturellen Gegebenheiten angepasst wird – und zwar in einem breiten Spektrum von aufgeklärten und ethisch konsequenten Einstellungen (so auch die Einlassungen der Institution selbst) bis hin zu individuellen, anders akzentuierten fromm-spirituellen und wundergläubigen Deutungen, die dann etwa auch Weihwasser oder Quellwasser von Lourdes als nachhaltige Schutzvorkehrungen anempfehlen. Letztere bilden allerdings erkennbar die Ausnahme, jedenfalls in unseren Breiten – und die Aktion des Erzbischofs von Concepción (Chile), vom Helikopter aus mit Gebet und Weihwasser eine exorzistische Desinfektion gegen die Corona-Pandemie für seine Stadt zu bewirken, bleibt dann doch eher ein spektakulärer Einzelfall.
     Insofern wird die Pandemie hierzulande von katholischer Seite vor allem sachlich adressiert – und zwar unter Beachtung realitätshaltiger wissenschaftlich-medizinischer Erkenntnisse, sowie mit daran anschließenden christlich-ethischen Konsequenzen zum Schutz und Beistand – und sie wird, abgesehen von der Nutzung der Zwangspause zur spirituellen Neu-Besinnung, eher nicht eigens spirituell deutend interpretiert.




    Quellen (in Auswahl):

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EKD und Lutherische Perspektiven