1. Antworten auf Fragen | 2. Fragen zur Antwort | 3. Die Kontinuität der Perspektive
"Heutzutage haben wir schon Bücher von Büchern", klagte einst Georg Christoph Lichtenberg. Und jetzt haben wir sogar Vorträge über einen Vortrag. Nicht jedem Vortrag kann soviel Ehre widerfahren. Aber diesem schon. Sein Verfasser, der damals 33jährige Schweizer Pfarrer Karl Barth, hielt ihn für eine "nicht ganz einfache Maschine, vorwärts und rückwärts laufend, nach allen Seiten schießend, an offenen und heimlichen Scharnieren kein Mangel"1. Und sein Freund Eduard Thurneysen meinte im Voraus: "Das ist ein großer Schlag! Er wird die eifrigen und beunruhigten deutschen Freunde seltsam zurückhaltend und doch zugleich umfassend radikal anschaun und uns paar Schweizer damit."2 Die damaligen Zuhörer des Vortrags, denen der Referent ein unbeschriebenes Blatt war, bemerkten das Neue und Anstößige des da Gesagten. Einer von ihnen, Günther Dehn, schrieb: "Ich fühlte mich während des Vortrages, der die Zuhörer in mächtigen Kaskaden überflutete, stark an Kutter erinnert ... Es wirkte auf mich als eine große Befreiung. Ich sah auf einmal eine wirklich freie Kirche vor mir, darum freier, weil sie allein an Gott in seiner Offenbarung gebunden war... Auf viele hatte der Vortrag starken Eindruck gemacht. Manche hatten an ihm aber Anstoß genommen."3
Unter der Wirkung des Vortrags begann der Schweizer Gottlob Wieser auf der Heimfahrt in ununterbrochener Intensität die Bibel zu lesen und dabei mit dem Buch Prediger zu beginnen. Otto Herpel schrieb, daß ihn die Botschaft getroffen habe, "daß (der) Auferstandene sich in der Welt durchsetzt".4 Der Religiöse Sozialist Karl Mennicke protestierte energisch: "Wir wollen gar nicht die Aufhebung der gegenwärtigen Weltsituation, wie Barth sie in der Eschatologie ersehnt. Jedenfalls hätte solcher Gewaltakt Gottes für uns nicht das mindeste Interesse." "Uns gilt es das gegenwärtige Leben."5 Und in Berlin fühlte sich Paul Tillich vom bloßen Hörensagen des Vortrags herausgefordert, das gegen ihn einzuwenden, was er seither stets gegen Barth auf dem Herzen hatte: dies, "als sei Gott etwas fest Umrissenes", "aus dem gesamten Lebensprozeß" Gelöstes6 usw. Splitter der Erinnerung an die Provokation dieses Vortrags! Von ihm gilt das Gleichnis Barths7, er habe unbeabsichtigt an einer Glocke gezogen, deren Ton dann weitum gehört wurde - in Zustimmung oder Widerspruch.
Einen Vortrag über diesen Vortrag zu halten, das ist eine heikle Angelegenheit. Zum einen deshalb, weil sich dabei eine fast unvermeidliche Unangemessenheit gegenüber diesem Vortrag ein stellt. Ich meine jetzt nicht nur, daß ich mir nicht anmaßen kann, mit seiner konzentrierten Dichte und seiner drängenden Stoßkraft auch nur von Ferne Schritt zu halten. Ich meine vor allem dies, daß schon dieser Vortrag ein Dokument für Barths theologischen Stil ist: nicht über etwas zu reden, sondern ohne Umschweife aus der 'Sache' heraus zu reden. Es liegt sogar eine Pointe des Vortrags darin, daß er schon damals, aufgefordert, ein "Wort zur Lage" zu sagen, es für "besser" hielt, "jetzt gerade nicht 'zur Lage', sondern ... 'zur Sache' (zu) reden", wie er es 1933 formulierte, in der Meinung, nur so auch recht zur Lage zu reden.8 Ein Vortrag über den Vortrag steht in der Gefahr, diese Pointe zu verfehlen. Und er hat sie verfehlt, wenn er darin bestünde, "der Propheten Gräber zu schmücken", statt sich selbst in die 'Sache' verwickeln zu lassen, aus der und zu der da geredet wurde. Es ist zwar unvermeidlich, daß solche ein Vortrag über diesen Vortrag von einer anderen stilistischen Gattung ist als dieser selbst. Aber es ist nicht unvermeidlich, daß wir uns dabei seiner Pointe entziehen. In aller Indirektheit, in der hier über den Vortrag zu handeln ist, wird das doch nur dann angemessen geschehen, wenn er dazu dient, uns zu beteiligen an seinem Denken und Sprechen zur Sache und 'aus der Sache heraus'.
Die andere Schwierigkeit liegt darin, daß dieser Vortrag doch nur eine Station auf dem Wege Barths darstellt. Er hat schon nach kurzer Zeit theologische Aussagen des Vortrags nicht unerheblich korrigiert. Das bedeutet, daß wir den Vortrag nicht als ein geschlossenes System (und sei es unter dessen Beziehung auf die damalige Situation) betrachten können, ohne auch seine Revision mit in den Blick zu nehmen. Es ist nun auch das für Barths Theologie bezeichnend, daß sie sich auf eine 'Sache", die Sache Gottes, bezieht, die kein habbares Objekt, kein einnehmbarer Stand-Punkt ist, sondern Bewegung, gleich einem "Vogel im Fluge", wie der Vortrag sagt (40), eine, von der wir je ein "Augenblicksbild" bekommen, das jedoch "außer dem Zusammenhang der Bewegung ganz und gar sinnlos" ist (ebd.). Die Theologie Barths hat dem zu entsprechen gesucht, indem sie - zwar nicht immer etwas Anderes, aber dasselbe immer wieder anders zu sagen suchte. Und das "immer wieder anders" heißt, daß er er sich immer wieder auch revidiert hat, wie es gerade in seinem späteren Verhältnis zum Tambacher Vortrag deutlich ist.
Ich versuche nun, mich der doppelten Schwierigkeit so zu stellen, daß ich mich an dem Satz orientiere, mit dem Barth acht Jahre später seinen Tambacher Vortrag einschätzte: "Hier fand ich... einen Kreis und Ausblick auf weitere Kreise von Menschen, zu deren Unruhe sich meine Versuche verhielten wie Antworten zu Fragen - Antworten, die mir doch gerade in dem nun anhebenden Verkehr mit diesen Zeitgenossen unter der Hand selber wieder zu Fragen wurden."9 Die Formulierung spielt auf einen Satz in dem Vortrag an, wonach "die richtig vernommene Antwort" uns allemal "zur neuen Frage" wird (60). Ich möchte also nun die Dialektik in diesen Wendungen beleuchten, um dann nach der Beziehung in der Polarität dieser Dialektik zu fragen.
1. Antworten auf Fragen
Das ist nicht so zu verstehen, als habe Barth in seinem Vortrag
bestimmten an ihn gerichteten Erwartungen direkt entsprochen.
Solche Erwartungen gab es dort wohl, gehegt von einer Schar in
der Tat Beunruhigter, die sich inmitten einer tiefen gesellschaftlichen
und religiösen Krise für eine grundlegend neue
Gesellschaft engagierten. Barth zitiert eine dieser Erwartungen,
formuliert im Vorfeld der Tagung vom Verein der "Freunde
des christlichen Demokraten"10: Es gehe um die Anwendung der
"Gesinnungsprinzipien Jesu als Maximen einer jeden öffentlichen,
völkischen, staatlichen, weltlichen Gesellschaftsgestaltung."
Eine weitere Erwartung sprachen die eigentlichen Veranstalter
der Tagung aus: Es gehe um die "Fühlungnahme" von
"Gesinnungsgenossen", um "die religiös-soziale Gedankenwelt in
größerem Maßstabe zu propagieren und öffentlich zu betätigen".11
Barth waren derlei Erwartungen an seinen Vortrag bekannt.
Sie waren ja auch in der ihm vorgegebenen Themenformulierung
verdichtet: "Der Christ in der Gesellschaft".
Wenn sich seine "Versuche" zur "Unruhe" seiner Hörer verhielten
"wie Antworten zu Fragen", so hieß das aber zuerst, daß er diese
Erwartungen enttäuschte. Auch eine Enttäuschung von Erwartungen
muß nicht bedeuten, daß Menschen Steine, statt Brot,
sondern kann erst recht bedeuten, daß ihnen, statt Steine, die
sie irrtümlich für Brot hielten, wirkliches Brot gegeben wird.
Jedenfalls bestand Barths Antwort zunächst in dem Negativen,
daß er "den deutschen Religiös-Sozialen... gründlich das Konzept
verdorben" hat.12
Freilich bereitete Barth seinen Hörern solche Enttäuschung
nicht vom hohen Roß. Er, der doch den Religiös-Sozialen zugezählt
und nur darum nach Tambach geladen war, vollzog da gegen
sein eigenes Fleisch einen Abschied von einer von ihm selbst
zuvor mit Eifer verfolgten Konzeption. Vielmehr er hatte diesen
Abschied soeben in seiner ersten Auslegung des Römerbriefs von
1919 vollzogen, als deren systematischer Ertrag der Tambacher
Vortrag anzusehen ist. Es ist die Konzeption, deren Schwäche er
jetzt darin sah, daß in ihr das Reich Gottes als eine Größe
gilt, die es erlaubt, sich an der Seite, wenn nicht an der
Stelle Gottes gegen eine alte Welt verkehrter Verhältnisse zu
stellen und dagegen eine neue, gerechte Friedenswelt heraufzuführen.
Eben dagegen wendet der 1. Römerbrief ein, daß, wer so
denkt und kämpft, "nicht das Reich Gottes" vertritt, sondern
immer nur "in neuen Formen das alte Reich des Menschen."14 Denn
seine Mittel, mit denen er ficht: die des Gegensatzes und des
Kampfes der Guten gegen die Bösen, sind die Mittel der alten,
verkehrten Welt und deren Anwendung kann diese Welt darum immer
nur weiter verlängern. Und das ist umso ärger, als dabei der
Name Gottes ideologisch verwendet wird, um das als göttlich
auszugeben, was doch nur in neuen Formen das alte Menschenreich
ist. Das Reich Gottes ist vielmehr das Reich des Friedens, der
Gerechtigkeit und der Freiheit, das Gott allein heraufführt. Es
ist darum die neue Welt, weil es nicht aus der alten Welt und
mit deren Mitteln heraufgeführt wird, sondern dieser Welt von
außen her begegnet, von Gott her, vor dem die Bösen und die
Guten miteinander solidarisch sind als die Nichthabenden,
Bedürftigen und Unvermögenden. Es ist das Reich, das in dem von
den Toten auferstandenen Christus schon in unsere Welt ohne
Gewalt und Krampf hineinwächst. Und wer da mithineingenommen
wird, wird bestimmt von seiner neuen Art, die anders ist als
die der alten Welt: frei von Gegensatz, Überhebung, Absonderung,
frei für den Frieden, für die Gemeinschaft, für die neue
Solidarität der Liebe. So war es im 1. Römerbrief zu hören.
Wir verstehen von da aus die entscheidende Weichenstellung, mit
der - für Barth steht das Entscheidende immer am Anfang! - der
Tambacher Vortrag einsetzt: Der Christ in der Gesellschaft - "
wir sind wohl einig darin, daß damit nicht die Christen gemeint
sein können: weder die Masse der Getauften, noch etwa das erwählte
Häuflein der Religiös-Sozialen, noch auch die feinste
Auslese der edelsten frömmsten Christen... Der Christ ist der
Christus" (34). Also: die Hoffnung liegt hier allein in Christus -
und nicht in den Christen; aber in ihm ist ganz und gar
Hoffnung für die ganze Gesellschaft, nicht bloß für einen
binnenkirchlichen Bereich. Im Grunde besteht der Tambacher
Vortrag in einem Durchbuchstabieren dieses einen Satzes mit
seinem doppelten Akzent.
In Christus ist die Hoffnung. Also a) Er steht der Gesellschaft
gegenüber und nicht die Christen als deren alles zum Guten
wendende Revolutionäre. Sie sind vielmehr genauso wie alle
Anderen in der Not, angewiesen wie sie auf eine Verheißung, die
sie sich nicht selbst geben können; sie verderben alles nur,
wenn sie das doch meinen sollten. Indem Er allen
"gegenübersteht" (42), begegnet in ihm, wie es schon in Tambach
heißt, "das ganz Andere", der, vor dem wir in Furcht die Schuhe
von den Füßen zu ziehen haben (43). Aber in Christus ist die
Hoffnung für die ganze Gesellschaft verbürgt, weil er nun b)
der Gesellschaft nicht nur gegenübersteht, sondern als ihr
Gegenüber "Bewegung" ist. "Damit meine ich nun freilich weder
die sozialistische, noch die religiös-soziale Bewegung, noch
die allgemeine, etwas fragwürdige Bewegung des sog. Christentums,
sondern die Bewegung, die sozusagen senkrecht von oben
her durch alle diese Bewegungen hindurchgeht, als ihr verborgener...
Sinn und Motor" (40). Hier die weitere berühmte, von
Friedrich Zündel übernommene (67) Formel "senkrecht von oben",
die die von allen menschlichen Unternehmungen verschiedene, sie
erst recht begründende Zuwendung Gottes zum Menschen bezeichnen
will. "Um Gott handelt es sich, um Bewegung von Gott her" (41).
Diese Zuwendung schafft in uns "Gotteserkenntnis", in der wir
Anteil an jener Bewegung bekommen und die uns so mitnimmt, daß
wir am selben heiligen Ort, an dem wir die Schuhe ausziehen
müssen, die Botschaft hören: "Ich habe gesehen das Elend meines
Volkes in Ägypten... und bin herniedergefahren, daß ich sie
errette" (43). Diese Zuwendung ist das Gericht über diesem
Elend, das Nein zu ihm, aber sie ist es, indem sie Auferstehung,
eine neue Welt ist. "Positiv ist die Negation, die von
Gott ausgeht, während alle Positionen, die nicht auf Gott
gebaut sind, negativ sind" (48).So ist diese Zuwendung "die
Revolution des Lebens gegen die es umklammernden Mächte des
Todes" (45).
Jener eine Satz in seiner doppelten Akzentuierung bestimmt
durchgehend den Vortrag. Auf der einen Seite bedeutet dies, daß
Christus - als der Durchbruch der neuen Welt Gottes in die
Menschenwelt - der Gesellschaft gegenübersteht, seine Fremdheit,
seine Andersartigkeit ihr gegenüber und bedeutet so das
kritische Urteil ihrer gänzlichen Erlösungsbedürftigkeit und
bedeutet den Protest gegen ihre Unerlöstheit, den Protest gegen
das Bestehende, weil es die Welt in ihrer Unerlöstheit bestehen
läßt. Das Neue begegnet im Nein zum Alten, die Gnade im
Gericht. Und dieses Gericht trifft namentlich auch die Gutmeinenden,
die sich dieser Welt gegenüberstellen, das Bestehende
anklagen und dagegen eine neue Welt herbeiführen wollen. Barth
nennt ihren Versuch das "Bindestrich"-Christentum (christlich-
sozial, religiös-sozial), das im Anspruch einer Mittlerstellung
zwischen Gott und Mensch vermitteln zu können glaubt. In Wahrheit
laufe das immer nur darauf hinaus, das Göttliche dem
Menschlichen zu "amalgamieren", darauf, "Christus zum soundsovielten
Male zu säkularisieren, heute z.B. der Sozialdemokratie,
dem Pazifismus, dem Wandervogel zu Liebe, wie ehemals den
Vaterländern, dem Schweizertum und Deutschtum, dem Liberalismus
der Gebildeten zu Liebe." Denn "das Göttliche ist etwas Ganzes,
in sich Geschlossenes, etwas der Art nach Neues, Verschiedenes
gegenüber der Welt. Es läßt sich nicht... aufkleben und anpassen.
Es läßt sich nicht teilen und austeilen... Es läßt sich
nicht anwenden, es will stürzen und aufrichten" (35f.). Wo man
sich aber von der bestehenden alten Welt in ihren verkehrten
Verhältnissen desolidarisiert, sich also von ihrer beklagten
Erlösungsbedürftigkeit ausnimmt und ihr so als ein Parteigänger
Gottes und so mit dem vermeintlichen Besitz der Mittel zu ihrer
Erneuerung gegenübertreten zu können meint, gerade da bietet
man der ja alten Welt nichts Neues, weil deren Un-Wesen eben in
Desolidarisierung besteht. Da begegnet dieser Welt nur noch
einmal in neuen Formen dieselbe verkehrte Welt. Da wird eben
Christus säkularisiert. Er wird paradoxerweise erst da nicht
säkularisiert, wo wir von der Desolidarisierung gegenüber dem
säkularen Menschen lassen, wo wir begreifen, daß der von Gott
allein heraufgeführten Erneuerung nicht nur die Anderen,
sondern wir selbst bedürfen. "Wir (!) müssen ganz hinein in die
Erschütterung und Umkehrung, in das Gericht und in die Gnade,
die die Gegenwart Gottes für die jetzige und jede uns vorstellbare
Welt bedeutet. Wir (!) müssen Gott gegenüber in unsrer
sichern Kreatürlichkeit einmal aus dem Gleichgewicht kommen"
(6l3).
Auf der anderen Seite heißt dies, daß Christus - als der Durchbruch
der neuen Welt Gottes in die Menschenwelt - in Bewegung
ist und sich der menschlichen Gesellschaft zuwendet, ihre große
Verheißung und darin auch ihre Bejahung als sein Eigentum und
die Einklammerung ihrer Eigengesetzlichkeit. Und diese der
ganzen Gesellschaft geltende Verheißung bedeutet besonders für
die Christen ihre Befreiung von ihrer Neigung, sich gegenüber
dieser Gesellschaft abzusondern, für sie in ihrer alltäglichen
Wirklichkeit blind zu sein oder gar sie in den eigenen Zirkel
einzuspannen, von der Neigung, nun umgekehrt, "die Gesellschaft
zu klerikalisieren" (38). Diese Klerikalisierung besteht nach
Barth wieder paradoxerweise in einer Lehre, in der man einesteils
die übrige Welt im Schatten ihrer Eigengesetzlichkeit
sieht, anderenteils in kirchlicher Selbstzwecklichkeit immer
wieder "mit neuer Begeisterung den alten Weg" geht (38). Ja,
mag diese Gesellschaft uns als "ein ... in sich geschlossenes
Ganzes für sich - ohne Fenster gegen das Himmelreich" erscheinen
(37), die um jenen Durchbruch der neuen Welt Gottes in die
Menschenwelt wissende "Gemeinde Christi ist ein Haus, das nach
allen Seiten offen ist; denn Christus ist immer auch für die
Andern... gestorben" (34). Und das heißt für die Gemeinde
anderes als bloß "Kirche für andere". Das heißt, daß die Erkenntnis
des "Gott in der Welt... zugleich unsere Kraft (ist),
uns in die Welt ohne Gott nicht zu schicken" (52). Das heißt,
zu "begreifen", daß Gott in Christus schon bei denen da draußen
schon wirksam ist und daß darum im Profanen und in den profanen
Beunruhigungen verheißungsvolle Gleichnisse des Gottesreichs,
Spiegel ihrer göttlichen Bejahung zu erkennen sind
(46f., 54). Und das heißt, sich nicht "als Zuschauer neben den
Lauf der Welt", sondern in einer "solidarischen Verantwortlichkeit"
in ihn zu stellen (57), bereit zum "mitleidend Tragen der
Beschwerden der ganzen Zeitgenossenschaft" (45), aber auch frei
für eine "lächelnde, verstehende Geduld", die es sich leisten
kann, "romantischer als die Romantiker", "humanistischer als
die Humanisten" zu sein (53).
Also, was sollen wir nun eigentlich tun angesichts der problematischen
Wirklichkeit? Das war ja die Frage der Hörer. Barth
schließt seinen Vortrag mit den Sätzen: "Wir können ja doch nur
eines tun... Und das eine tun wir gerade nicht. Denn was kann
der Christ in der Gesellschaft anderes tun, als dem Tun Gottes
aufmerksam zu folgen?" (69). Das sagt nicht, daß wir nichts tun
können, aber sagt, daß es es für unser Tun entscheidend ist,
daß das Entscheidende Gott tut. Dieses Entscheidende ist das
Reich Gottes, das nicht die Fortsetzung unseres Tuns, sondern
der Anbruch des Tuns Gottes, des neuen Himmels und der neuen
Erde, so wie sie in der Auferstehung Christi von den Toten
angebrochen sind. In diesem Tun Gottes ist der Protest gegen
die bestehende Gesellschaft und Verheißung für sie eins. Und wo
wir dessen gewärtig sind, da wird uns das, "je mehr es uns
wirklich um Gott und um Gott allein zu tun ist, desto weniger
stecken lassen", weder in einem verbohrten Ja noch in einem
verbohrten Nein zur bestehenden Gesellschaft. "Wir werden
dann... die Freiheit haben, jetzt Ja und jetzt Nein zu sagen
und beides nicht nach äußerem Zufall und innerer Willkür,
sondern nach dem wohlgeprüften Willen Gottes jeweilen 'das
Gute, das Wohlgefällige, das Vollkommene' (Röm. 12,2)". Das war
denn damals die Antwort auf die Frage jener Unruhigen. Sie war
es gegenüber dem Gemisch aus Selbstüberschätzung des eigenen
guten Wollens und Skepsis gegenüber einer unverbesserlichen
Wirklichkeit, gegenüber dem Taumeln zwischen blindwütigem
Aktivismus und müder Resignation, gegenüber solcher unbeholfenen
Ambivalenz, die sich bei einem Kämpfenwollen für eine neue
gegen eine alte Welt zwangsläufig einstellt. Sie war es, indem
sie demgegenüber das geltend macht: daß unsere Hoffnung ganz
auf Gott zu setzen ist, daß uns aber gerade so ganze Hoffnung
gegeben wird, die uns eine nicht erlahmende Geduld und Ungeduld
verleiht und so zu einem ebenso nüchternen wie kritischen Tun
befreit.
2. Fragen zur Antwort
So wenig die Antworten in diesem Vortrag einfach den an ihn
gerichteten Erwartungen entsprochen hat, so wenig sind Barth
seine Antworten bald darauf einfach durch aufgeworfene Fragen
in der Reaktion auf seinen Vortrag fraglich geworden. Im Vorwort
zum 2. Römberbrief, den er ein Jahr nach Tambach begann
und in der er seine Revision an der dortigen Theologie vollzog,
bemerkt er erstaunt, "daß die eigentliche Schwäche" seiner
damaligen Position von Anderen bislang gar nicht bemerkt worden
sei.15 Und also, nicht das, worin Andere bisher etwa eine
Schwäche sahen, bewog ihn zur Korrektur. Eher war es so, daß
ihm durch die Art, in der sein Vortrag Zustimmung fand, Zweifel
kamen, ob er seine Sache recht gemacht habe.
Zwei Monate nach Tambach bemerkt er angesichts des Wegs, den
angeblich im Einklang mit dem Vortrag die Schlüchterner Neuwerk-Leute
einschlugen: "Es kann uns ja bei unserer Klarheit
über das Problematische, Zweideutige unseres Redens nicht
wundern, wenn sie uns... trotz allem Hören immer noch überhören."16
Und etwas später erklärt er aus Anlaß der Marburger
Nachfolgekonferenz zu Tambach: er selbst habe offenbar zu
"Mißverständnissen und Irrungen Anlaß" gegeben.17
Ich deute einiges aus dem Reaktionen auf den Vortrag an: Der
sozialistische Pfarrer Hans Hartmann lobte, in ihm "das Gute
und Tiefe im Menschen so deutlich" gezeigt bekommen zu haben.1
Otto Herpel bekannte, dadurch zu der Erkenntnis erweckt worden
zu sein: "Wo wir Menschen um Gerechtigkeit, Liebe, Freiheit und
Wahrheit ringen sehen, sind wir gewiß, daß in ihnen der Auferstandene,
der lebendige Gott ringt und arbeitet." Ja, Gott zerschlage
Kirche und Staat "um seines Reiches willen - durch
uns".19 Hans Ehrenberg, Haupt des Patmoskreises und Herausgeber
von Barths Vortrag, sah sich durch ihn beflügelt zur Ineinssetzung
der Wende vom Alten zum Neuen mit dem deutschen
Jetzt.20 Wiederum sahen K. Mennicke und T. Tillich beim Barth
des Tambacher Vortrags das Fehlen einer Einbindung Gottes in
den "gesamten Lebensprozeß" und in das darin erfahrbare
"Gotteserlebnis".21
Nun, es gab etwas in dem Vortrag, was die Konsequenzen zuließ,
die Hartmann, Herpel, Ehrenberg daraus zogen - etwas, was die
Kritik von Mennicke und Tillich übersah, obwohl es ihren Wünschen
ganz entgegenkam - etwas, das im vorhin Vorgetragenen
unerwähnt blieb und das nun nachzutragen ist. Der Rede vom
Christus als dem Durchbruch des Reiches Gottes ins Menschliche
ist nämlich die Präzisierung hinzugefügt: Es handle sich dabei
um den "Christus in uns" (34). Zwar wird weiter gesagt, gemeint
sei damit "keine psychische Gegebenheit", sondern eine
"Voraussetzung" über, hinter, "jenseits uns". Und doch beharrt
Barth auf das "in uns". Das hat einen Grund, der praktisch
diese Einschränkung ihrerseits wieder einschränkt.
Denn wohl betont er, daß der Mensch von sich aus der Welt Gottes
gegenüber verschlossen ist. Aber er bleibt es nicht. Indem
vielmehr in Christus die Lebensbewegung in die Welt hineinströmt,
bekommt er teil, ja, wird selbst Teil dieser Lebensbewegung.
So daß er nun "selber ein Lebendiger" zu sein vermag
(44), während umgekehrt auch Gott in dieser selben Lebensbewegung
enthalten ist. Denn - das entspricht dem nur zu sehr, was
Tillich wollte - "ein selbständiges Leben neben dem Leben ist
nicht Leben" (45). Darum kann nun auf einmal das, was von der
Gottesbewegung in Christus gesagt wird, auch von dem bewegten
menschlichen Subjekt gesagt werden. Nun ist das "Erwachen"
seiner Seele "die Bewegung im Leben unf aufs Leben hin" (45).
Nun heißt es: "Wir stehen in der Wende der Zeiten, in der
Umkehrung von der Ungerechtigkeit des Menschen zur Gerechtigkeit
Gottes.. Wir stehen in der Gesellschaft als die Begreifenden,
also als die Eingreifenden, also als die Angreifenden...
Die großen Synthesen des Colosserbriefs... - wir selbst vollziehen
sie"(50). Nun kann von daher gedacht und gekämpft werden:
"Es ist etwas in uns, was sie (die Mächte des Todes)
grundsätzlich in Abrede stellt" (45). Und "es ist mindestens
etwas in uns uns, was hier (beim Aufstand des Lebens) mitgeht"
(49). Und "es ist in uns... ein kritisches Nein und ein schöpferisches
Ja gegenüber allen Inhalten unseres Bewußtseins,
eine Wendung vom alten zum neuen Äon" (34).
Dergleichen Sätze sind kein Zufall. Barth geht in seinem Vortrag
davon aus: "Wir möchten eine andere Gesellschaft. Aber
noch möchten wir bloß" (33). Das meint: Was von uns aus zwar
rechter, also mit Gottes Willen im Einklang stehender, aber
bloßer Wunsch ist, wird durch die Kraft des lebendigen Christus
in uns erfüllbar, so daß wir das, was wir da möchten, auch
können. Was von uns aus, weil wir selbst auch Glieder des alten
Äons sind, richtig erkannte, aber unerfüllte Forderung ist,
wird durch die Kräfte der in unsere alte fließenden neuen Welt
zur Gabe eines Vermögens und einer Kraft in uns, das zuvor bloß
Geforderte selbstverständlich zu vollbringen. Im 1. Römerbrief
formulierte er das so: "Die Eigenkraft der Gnade ist der freie,
gute, aus Gott strömende und an Gott orientierte Wille des
Menschen." Dieser Mensch hat nun "Gottes Lust und Macht des
Guten. Er hat die Gabe der Aktivität des guten Willens".22
Konnte, mußte Barth von da aus nicht wie Herpel die Identität
unseres Tuns - der um Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit Ringenden
und dabei Kirche und Staat Zertrümmernden - mit dem Tun
Gottes aussagen?
Indem er diese mögliche Konsequenz seiner Tambacher Sätze im
Spiegel von ihnen Zustimmenden vor Augen gehalten bekam, wurden
ihm seine dort gegebenen Antworten "unter der Hand selber
wieder zu Fragen." Zwar hatte er dort das "ganz Andere" des
Reiches Gottes hervorgehoben, und das, gerade auch um des
rechten Tuns willen, mit der Absicht, daß die Hoffnung ganz auf
Gott zu setzen sei und daß erst so alles ganz kritisch, aber
auch ganz hoffnungsvoll werde. Aber dieses "ganz Andere" des
Reiches Gottes hat er, wie wir sahen, dann doch so ausgelegt,
daß es auf die Ausstattung von bestimmten Menschen mit einem
"ganz anderen", eigentlich göttlichen Vermögen hinauslief: mit
einem Vermögen zur Umkehrung der Ungerechtigkeit der Menschen
zur Gerechtigkeit Gottes.
Bedeutet das nicht, daß damit auf einer höheren Stufe jenes
Gegenüber von gutmeinenden Kämpfern für eine neue Gesellschaft
und einer erlösungsbedürftigen alten Welt wiederkehrte, obwohl
doch Barth das zu beseitigen ausgezogen war? Bedeutet das
nicht, daß in diesen Menschen das, was Gott will, und das, was
sie wollen, so eins wird, daß sie darin der Kritik durch den
Willen Gottes entzogen sind? Bedeutet das nicht, daß über den
Umweg der doch allein auf Gott zu setzenden Hoffnung schließlich
doch wieder auch auf Menschen die Hoffnung zu setzen ist?
Bedeutet das dann nicht aber auch die Rückkehr auf jene Schaukel,
die zwischen Selbstüberschätzung und Resignation hin und
her wippt? Bedeutet das nicht, daß das Leben, das das alte
Leben in den Tod führt und so zu neuem Leben erweckt, zusammenfällt
mit unseren Unternehmungen angesichts der Schäden einer
unversöhnten Welt zusammenfällt? Das sind die Fragen, die Barth
im Blick auf seine in Tambach vertretene Theologie sich zu
stellen begannen: die Fragen, die ihm gerade durch das positive
Echo auf den Vortrag kamen.
Gut einen Monat nach Tambach schrieb er seinem Freund Thurneysen:
Es weise nun, "während in Deutschland die Trompeten blasen,
für uns alles auf einen Rückzug in die Stille hin."23 In
dieser Stille suchte er radikal das da Drohende auszuschließen.
In dieser Stille vollzog er seine Revision an seiner in Tambach
vertretenen Theologie und an ihrer zuletzt sichtbar gewordenen
Linie. Diese Revision fand Ausdruck in seiner zweiten Auslegung
des "Römerbriefs". So wie dessen 1. Auslegung und deren Zusammenfassung
in Tambach sein Abschied von seinem Religiösen
Sozialismus war, so blieb im 2. Römerbrief von der 1919 vorgetragenen
Konzeption "sozusagen kein Stein auf dem Andern".24
Man darf nicht übersehen, daß der nach allen Seiten so kritische
2. Römerbrief zu einem erheblichen Teil auch solche
Selbstkritik ist, noch einmal ein Schneiden auch ins eigene
Fleisch.
Die Revision verstärkte nur noch mehr das Anliegen, daß unsere
Hoffnung ganz und allein auf Gott zu setzen ist, und verstärkte
es, indem sie die Hoffnung des Menschen auch nur ein wenig auf
sich selbst ausschließt, ja, indem sie die Armut, die Anspruchslosigkeit
des Menschen vor Gott so herausstellt, daß nur
in der Furcht Gottes unsere Hoffnung auf ihn zurecht besteht.
Hoffnung ist für uns in Gott nur am Ende, im Tode aller Hoffnung,
die wir uns machen. So ist uns Gott wohl die Hoffnung,
so, daß er gegenüber all unseren Möglichkeiten für uns das, der
Neue ist. Doch jetzt kommt erst der Schritt über die frühere
Sicht hinaus: Gott ist für uns das und der Neue nicht so, daß
dieses Neue in uns übergeht als eine in uns gegebene Lebenskraft,
die dann durch uns weiterströmt, und nicht etwa so, daß
dieses Neue in uns ein Vermögen, ein Besitz von Leben und
Gerechtigkeit ist. Genau da, wo Barth zuvor von solchem durch
Gott in uns gelegte Haben spricht, redet er nun von einem
dadurch in uns erzeugten "Hohlraum", der uns nur erst recht auf
Gott angewiesen macht. Gott ist nicht nur, Gott bleibt in
seiner Freiheit gegenüber all unseren Möglichkeiten und als
deren Ende das und der Neue. Darum geht dem, der dessen gewahr
wird, vor allem das auf: Gott ist - Gott und nicht etwas in
uns, auch kein durch Gott in uns Hineingelegtes in uns, das in
Wahrheit doch immer nur und sei es in verbesserter, ja, vergöttlichter
Weise ein Menschliches ist. Darum geht ihm zugleich
auf: Der Mensch ist - Mensch, den Gott aus seiner angemaßten
oder eingebildeten Himmelsstürmerei entläßt, damit er endlich
und erst recht Mensch, human werde. Und was dieser Mensch tun
kann, ist immer nur ein Menschliches, Wahl zwischen relativen
Möglichkeiten und darin ein Warten darauf und ein Gleichnis
dessen, daß das wirklich Heilsame Gott allein tut.
3. Die Kontinuität der Perspektive
Sollen wir nun etwa sagen: Die im Tambacher Vortrag vorgetragene
Theologie und schon die des 1. Römerbriefs sei darum nun zu
den Akten gelegt, weil durch den 2. Römerbrief eines Irrtums
überführt? Diese Theologie sei also nur eine Vorstufe zu einer
eigentlichen Erkenntnis, die dann im nächsten Buch stehe? Diese
Theologie sei also nur noch für historische Untersuchungen und
historische Gedenktage gut, aber im übrigen für uns nichtssagend
geworden? Wir müßten dann wohl sagen, wie es ein Rezensent
des 2. Römerbriefs spöttisch bemerkte, daß Barth "sein Bedauern
hätte ausdrücken sollen, daß er (zuvor) den Leser so falsch
über Gott und Welt belehrt hat."25
Nun, Barth hätte bald erneut ein Bedauern auch über seinen 2.
Römerbrief aussprechen müssen, weil er seine da vorgetragene
Erkenntnis dann auch einer Revision unterzog - nicht an dem
Punkt des Habens des neuen Lebens, an dem er sich nun korrigiert
hatte, aber an einem anderen Punkt, der doch auch jenen
kritisierten in ein neues Licht rückte. Franz Rosenzweig, der
jüdische Theologe, schrieb noch im Jahr des Erscheinens dieses
Buches an Martin Buber: Er lese es "mit Bewunderung für diese
Fähigkeit, aus der reinen Negation so viel zu machen, daß das
Buch an keiner Stelle... gleichgültig wird. Aber verstehen Sie,
warum er nun eigentlich Christus und überhaupt eine Offenbarung
noch anerkennt?"26 Rosenzweig traf damit den wunden Punkt in
diesem Werk, den zu korrigieren Barth in der Tat sodann ansetzte.
So wären dann die Fragen im Blick auf die Revision
seiner früheren Erkenntnis im 2. Römerbrief auch auf diesen
selbst zu übertragen?
Aber wenn wir so weiterfragen, wo ist dann der unrevidierte,
maßgebliche Text bei Barth? Wir werden ihn nicht nennen können.
Denn er ist auch seinen weiteren Weg in weiteren Revisionen von
zuvor Gesagtem gegangen. Es wäre dann aber offenbar auch ein
Unfug, solche Revisionen einfach nur als ein Beiseitelegen des
zuvor Gesagten zu verstehen, einmal abgesehen davon, daß es
natürlich auch ein Recht gibt, erkannte Irrtümer zurücknehmen
zu dürfen. Im Vorwort zum 2. Römerbrief bemerkt er zu dem
Problem: "Nur Vorarbeit ist alles menschliche Werk und ein
theologisches Buch mehr als jedes andere Werk!"27 Eben weil
alles Vorarbeit bleibt, darum bleibt alles, das Frühere und das
Spätere, auch immer wieder auf dem Nenner von "Vorarbeit"
beieinander, geht das Frühere neben dem Späteren nicht verloren
und kann übrigens auch einmal das Spätere durch das Frühere
revidiert werden.
Darin spiegelt sich aber nun die Erkenntnis wieder, daß eine
Theologie in solchem dauernden Revisionsprozeß nicht beliebig
wandlungsfähig sein kann, daß es in ihr bleibende Kontinuitäten
gibt und geben muß - Kontinuitäten, die man besser nicht mit
der Vorstellung von bleibendem Kern und zeitbedingtem, auswechselbarer
Schale beschreibt. Barth fügt in jenem Vorwort dem
zitierten Satz hinzu: "Für die Kontinuität zwischen hier und
dort hat die Einheit des historischen Gegenstandes (die Heilige
Schrift) und der Sache selbst (das in ihr Bezeugte) gesorgt
und wird auch bei den Lesern dafür sorgen ..."28 Ähnlich erklärte
Barth 1947: "Wenn ich fortgefahren hätte,... immer
wieder dasselbe zu sagen, wie ich es einmal getan habe: ich
wäre dann wohl, wie man sagt, 'meiner Sache', meinem System,
treu geblieben. Es handelt sich aber nicht darum, 'seiner'
Sache..., sondern dem Worte Gottes treu zu bleiben, das ein
lebendiges Wort ist."29
Ich greife das jetzt so auf: Die rechte Bewegungsfähigkeit
einer Theologie, ihre Bereitschaft, sich, statt immer zu wiederholen,
revidieren zu können, gründet in der durch das Wort
Gottes eröffneten und gebotenen Treue gegenüber diesem Wort.
Weil es ein lebendiges Wort ist, schließt gerade die Treue
gegenüber Gottes Wort solche Bewegungsfähigkeit nicht aus. Aber
sie schließt eine Bewegungsfähigkeit aus, die in Treulosigkeit
gegenüber diesem Wort bestünde. Darum müssen in aller theologischen
Bewegungsfähigkeit auch Strukturen der Treue gegenüber
dem Wort Gottes erkennbar sein. Ein Text, dem solche Strukturen
definitiv fehlen würden, wäre, und mag man in noch so historisch
würdigen, für die Kirche Christi ein verlorenes Wort.
Auch der Tambacher Vortrag ist für uns heute von sachlichem
Interesse nur, wenn wir in ihm solche Strukturen versuchter
Treue gegenüber dem Wort Gottes erkennen können. Ich möchte
einige Punkte nennen, worin ich in ihm solche Strukturen erkenne.
Natürlich kann es dabei nur um eine Erkenntnis gehen, so
wie sie sich mir darstellt.
Soweit einige Punkte, die verdeutlichen sollen, wie die Erkenntnis
des Tambacher Vortrags heute noch redet. Sie redet,
nicht weil sie zufällig gerade heute aktuell oder weil sie an
sich zeitlos ist. Ich habe sie hervorgehoben, weil ich darin
Momente der Treue gegen das lebendige Wort Gottes erkenne. Und
sofern sie das sind, sind sie auch heute aktuell. Im Begreifen
dieser ihrer spezifischen Aktualität gedenken wir des Tambacher
Vortrags vor 75 Jahren nicht umsonst.
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Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen des Buches, in dem der Vortrag von Karl Barth abgedruckt ist: Das Wort Gottes und die Theologie, München 1924, S. 33-69.
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1 Karl Barth - Eduard Thurneysen, Briefwechsel 1, Zürich 1973, 344.
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Dieser Vortrag wurde veröffentlicht in: Der Christ in der Gesellschaft. Tambach 1919-1994, Reinhardsbrunn 1994, S. 9-21
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© Eberhard Busch 1994
Für das Haupt der Schweizer Religiös-
Sozialen, Leonhard Ragaz, der den Vortrag ursprünglich halten
sollte, aber verhindert war, war das ein Unglück: daß "Viele
der Deutschen", die hier "zum ersten Male" "die Hauptelemente
unserer religiös-sozialen Botschaft" kennen lernen sollten, sie
in ihrer "dialektischen... Entstellung" wahrnahmen, wodurch
"ihre revolutionäre Wirkung paralysiert" worden sei.13
Das ist in Kürze nun die Antwort auf jene Fragen, die sich
Barth im Blick auf seine Tambacher Antworten stellten. Mit
dieser weiteren Antwort ist genau jenes Fragwürdige im dortigen
Vortrag, das da drohende Umdeuten der neuen Welt Gottes in ein
menschliches Haben von göttlichen Lebenskräften ausgeräumt.
Genau da kann der Menschen nicht mehr auf sich blicken - er
könnte da nur noch sein Ende sehen. Genau da kann er nur eben
in der Furcht Gottes auf Gott hoffen.
Diese Rückfragen sind der erkenntnismäßige Versuch,
der dauernd lauernden Gefahr zu widerstehen,
den Namen Christi zur Sanktionierung der von uns ohnehin gefaßten
Absichten zu mißbrauchen. Die berühmte Wendung im Tambacher
Vortrag ist also nicht bloß eine geistreiche Pointe: Der Christ
in der Gesellschaft ist der Christus. Diese Wendung hat den
Charakter einer solchen Rückfrage: Bestimmt denn wirklich Jesus
Christus das, was die Christen reden und tun? Oder verhält es
sich faktisch umgekehrt? Diese Art Rückfrage ist sachgemäß; und
nur indem Christen sich ihr stellen und ihr Denken so umkehren
lassen, daß sie die Frage in der ersteren Weise stellen, wird
ihr Denken sachgemäß.
2 AaO, 345.
3 G. Dehn, Die alte Zeit - die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen, München, 220-222.
4 In: Vertrauliche Mitteilungen des Neuen Werks, nach: F.-W. Marquardt, Der Christ in der Gesellschaft: 1919-1979. Geschichte, Analysen und aktuelle Bedeutung von Karl Barths Tambacher Vortrag, TEH 206, München 1980, 25.
5 Aa0, 37, 36.
6 Aa0, 32f.
7 K. Barth, Die Christliche Dogmatik im Entwurf, München 1927, IX.
8 Barth, Theologische Existenz heute! (1), München 1933, 3f.
9 Karl Barth - Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922 - 1966, Zürich 1971, 308.
10 Marquardt, 9.
11 AaO 10.
12 K. Barth, Abschied, ZZ 10 (1933), 542.
13 Markus Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie, Bd. 2, Zürich 1968, 255f.
14 K. Barth,Der Römerbrief, Bern 1919, 24.
15 K. Barth, Der Römerbrief (2), München 1922, 3. Aufl. 1923, VII.
16 Barth - Thurneysen, Briefwechsel, 1, 356f.
17 AaO, 436.
18 AaO 355.
19 Marquardt, 25f.
20 Barth - Thurneysen, Briefwechsel 1, 421.
21 Marquardt, 32-35.
22 K. Barth, Der Römerbrief 1, 169.
23 Barth - Thurneysen, Briefwechsel 1, 350.
24 Barth, Der Römerbrief 2, VII.
25 G. Heinzelmann, Rez. zum Römerbrief Karl Barths, in: Neue kirchliche Zeitschrift 35, 539f.
26 F. Rosenzweig, Ges. Schr. I. Briefe und Tagebücher, Bd. 2 1918-1929, hg. von R. Rosenzweig/ E. Rosenzweig-Scheinmann, Haag 1979, S. 875f.
27 K. Barth, Der Römerbrief 2, VII.
28 Ebd.
29 K. Barth, "Der Götze wackelt". Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hg. v. K. Kupisch, Berlin 1961, 113.
30 K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Frankfurt/M 1977, 547.
31 E. Jüngel, Barth-Studien, Gütersloh u.a. 1982, 114.
32 K. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV,4. Fragmente aus dem Nachlaß, Vorlesungen 1959-1961, Zürich 1976, 214-7.
33 Vgl. Marquardt, 26ff.
34 KD IV/2, 754
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