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Abschiedsvorlesung von Gerd Lüdemann, 29. Juni 2011
Theologie und Kirche sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil
unseres Staates mit einer soliden Absicherung selbst in unruhigen und
von knapper Kasse bestimmten Zeiten. In Deutschland erheben die
Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts Steuern von ihren
Mitgliedern, die vom Staat eingezogen werden, und die theologischen
Fakultäten sind durch Verträge zwischen Staat und Kirche geschützt.
Das Grundgesetz (Art. 7, Abs. 3) sieht die Erteilung von
Religionsunterricht "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der
Religionsgemeinschaften" vor. Doch die Dinge beginnen sich zu
ändern. Die Plausibilität der christlichen Religion nimmt langsam aber
sicher ab, und die theologischen Wissenschaften verspielen in
Öffentlichkeit und Universität zunehmend den Kredit als akademische,
staatlich bezahlte Disziplinen, auch wenn sie seit der Gründung der
europäischen Universitäten im 13. Jahrhundert zum Fächerkanon der
Wissenschaften gehören.
Alle in den Geistes- oder Naturwissenschaften Tätigen sind sich
darin einig, dass Forschung frei sein muss. Diese Freiheit der
Wissenschaft ist erst nach langen Kämpfen gegen Einsprüche der
christlichen Kirchen erkämpft worden. Sie gilt für alle Fächer und -
so sollte man meinen - auch für die akademische Theologie.
Konfessionelle Theologie
Der Schein trügt aber. Volle Wissenschaftsfreiheit kann es für die
Theologie schon deswegen nicht geben, weil Theologie in Deutschland
ausschließlich konfessionelle Theologie ist.
An deutschen Universitäten erforschen katholische und evangelische
Professoren institutionell voneinander getrennt das Christentum. An
vielen Orten, z.B. in Bochum, Bonn, Mainz, München, Münster und
Tübingen, existieren an derselben Hochschule zwei theologische
Fakultäten mit dem gleichen Forschungsobjekt, aber mit zwei
verschiedenen Seminargebäuden und -bibliotheken, zwei verschiedenen
Lehrkörpern und verschiedenen Prüfungsordnungen. Sie pflegen
Beziehungen zueinander, wie es zwischen verschiedenen Fakultäten
üblich ist.
Der Unterschiedenheit vor Ort entspricht die Differenz auf
nationaler Ebene: Im Rahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind
diese Fakultäten zwei verschiedenen Gutachtergremien mit zwei
verschiedenen Forschungshaushalten zugeordnet. Es versteht sich
angesichts dieser Lage fast von selbst, dass Leistungsscheine von
Studierenden gegenseitig nicht anerkannt werden. Dies gilt sogar dort,
wo innerhalb ein und desselben philosophischen oder
kulturwissenschaftlichen Fachbereichs evangelische und katholische
Professoren im Rahmen der Lehrerausbildung tätig sind.
Hier müssen künftige Lehrer evangelischer oder katholischer
Religion ihre Leistungsnachweise bei den entsprechenden evangelischen
oder katholischen Professoren beibringen. Immerhin steht es ihnen
frei, Veranstaltungen bei den Professoren anderer Konfession zu
besuchen.
Die theologischen Fakultäten in Deutschland sind demnach streng
konfessionell organisiert und strikt an die jeweilige Kirche gebunden.
Dies trifft nicht etwa nur auf die römisch-katholischen, sondern auch
auf die evangelischen Fakultäten zu. (Gleiches gilt für die
konfessionellen Abteilungen außerhalb der theologischen Fakultäten.)
Beide Fakultäten setzen voraus, dass ihre Prüflinge, sowohl die
künftigen Geistlichen als auch die künftigen Religionslehrer,
katholisch oder evangelisch getauft sind und Kirchensteuern bezahlen,
d.h. einer Kirche zugehören. An keiner theologischen Fakultät oder
Abteilung für katholische bzw. evangelische Religion kann jemand, sei
er wissenschaftlich auch noch so ausgewiesen, ohne Taufschein und ohne
Zustimmung der jeweiligen Kirchen eine Professur erhalten. Ein Jude
beispielsweise darf, ungetauft, weder auf einen Lehrstuhl der
katholischen oder evangelischen Fakultät bzw. der jeweiligen
Abteilungen für Lehrerausbildung berufen werden noch die dafür
notwendige Qualifikation der Habilitation anstreben. Ja, er kann
ungetauft nicht einmal ein Examen ablegen oder gar mit einer Arbeit
über Jesus, Paulus oder andere Juden aus der Frühzeit der Kirche
promovieren.
Man muss schon lange in der theologisch-kirchlichen Welt gelebt
und davon profitiert haben, um nicht sofort gegen einen solchen
unhaltbaren Zustand zu protestieren. Denn was haben solche
konfessionellen Machtspiele und Erkenntnisprivilegien auf der
staatlichen Universität zu suchen? Merken die Damen und Herren
Theologen nicht selbst, dass eine solche Theologie Wissenschaft und
Konfession unheilbar verquickt? Und das Schlimmste: All dies sägt der
Wahrhaftigkeit dieses Faches den Ast ab.
Doch es hilft nichts. Die theologischen Fakultäten in ihrer
jetzigen Gestalt entsprechen weitgehend den heute geltenden Normen des
Staatskirchenrechts. Evangelische und katholische Rechtsgelehrte
füllen - unterstützt durch Lobbyarbeit der großen Kirchen -
entschlossen jede noch vorhandene juristische Lücke aus;
Kirchenrechtler beider Konfessionen fungieren so als Wächter
antiquierter Regelungen. Sie sorgen auch dafür, dass künftige und
berufene Professoren sich mit einem Gelöbnis verpflichten, nach den
Grundsätzen der jeweiligen Kirche zu unterrichten.
Ein Beispiel für viele: Das Hochschullehrer-Collegium der
theologischen Fakultät in Göttingen beschloss am 1. November 1995
einstimmig, die sogenannte Gieselersche Formel (seit 1848 im Gebrauch)
beim Amtsantritt als Göttinger Professor und bei Habilitationen (seit
1892, erneuert 1925 und 1961) als Gelübde zu verwenden. Ihr Wortlaut:
"Ich verpflichte mich, die theologischen Wissenschaften in
Übereinstimmung mit den Grundsätzen der evangelisch-lutherischen
Kirche aufrichtig, deutlich und gründlich vorzutragen."
Wenn es nach den Staatskirchenrechtlern oder den kirchenleitenden
Organen geht, wird sich an dem gegenwärtigen Stand der Dinge nichts
ändern.
Klar ist aber: Bereits der konfessionelle Charakter der
theologischen Fakultäten in Deutschland widerlegt den Anspruch der
Theologie, eine Wissenschaft zu sein.
Nun bearbeiten Theologen der beiden christlichen Konfessionen in
derselben Weise die überlieferten Texte: philologisch,
historisch-kritisch und religionsvergleichend. Mehr als drei Viertel
der Kurse haben denselben Gegenstand. Eine solche gemeinsame
Bezogenheit auf dieselbe Tradition bei gleichem methodischem Vorgehen
ist ein starkes Argument zugunsten der Zusammenlegung der beiden
Fakultäten.
Doch die Wurzel des Übels liegt noch tiefer. Obwohl der Ruf nach
Aufhebung der konfessionellen Schranken der Theologie in regelmäßigen
Abständen laut wird und teilweise auf verhaltene Zustimmung stößt, hat
er bisher nie zu Reformen geführt. Ein wichtiger Grund hierfür liegt
darin, dass der Theologie, einem allgemeinen theologischen Konsens
zufolge, eine kirchliche Funktion zukommt.
Klerikale Theologie
Die gegenwärtige Lage und ihre Vorgeschichte im 19. Jahrhundert
Durchweg setzen nicht nur katholische, sondern auch evangelische
Theologen voraus, Theologie sei eine kirchliche Wissenschaft. Dies
entspricht der Auffassung fast spiegelbildlich, Theologie sei eine
konfessionelle Disziplin. Die enge Anbindung der Theologie an die
Kirche verstärkte sich nach dem Ersten Weltkrieg. Sie bewährte sich in
Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus und trägt inzwischen auch
der wachsenden Bedeutung der sich weltweit entwickelnden Kirchen
Rechnung.
Diese Zuordnung von Kirche und Theologie hat ihre Wurzeln bereits
im 19. Jahrhundert. So dekretierte Friedrich Schleiermacher
(1768-1834): "Auch die wissenschaftliche Wirksamkeit des
Theologen muß auf die Förderung des Wohles der Kirche abzwecken, und
ist also klerikalisch". Ähnlich bemerkte Albrecht Ritschl
(1822-1889), dass "die Theologie überhaupt nur im Dienste der
religiösen Gemeinschaft des Christenthums denkbar ist".
Der einflussreichste Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Barth
(1886-1968), schrieb die Abzweckung der Theologie bereits im Titel
seines Hauptwerkes fest. Er lautet: "Die kirchliche
Dogmatik". In ihr wird auf der Grundlage der kirchlichen Lehre
den Predigern förmlich untersagt, der Gemeinde im Rahmen der Predigt
historische Einsichten mitzuteilen. So antwortet Barth beispielsweise
auf die "populär-theologische Frage: ob 'man' denn, um wirklich
christlich zu glauben, durchaus an die Jungfrauengeburt glauben
müsse": Zwar sei es nicht ausgeschlossen, dass jemand auch ohne
die Bejahung dieser Lehre "das Geheimnis der Person Jesus
Christus erkennen und also wirklich christlich glauben" könne -
denn es stehe "in Gottes Rat und Willen, dies zu möglich zu
machen". "Aber damit ist nicht gesagt, dass die Kirche die
Freiheit habe, die Lehre von der Jungfrauengeburt zu einem
Fakultativum für besonders starke oder auch für besonders schwache
Gemüter zu machen." Falls unter den Dienern der Kirche solche
sein sollten, die an der Jungfrauengeburt zweifeln, so ist von ihnen
zu verlangen, "dass sie ihren Privatweg als Privatweg behandeln
und also nicht etwa ihrerseits zum Gegenstand von Verkündigung machen,
dass sie das Dogma, wenn sie es persönlich nicht bejahen können und
also (leider!) auch ihren Gemeinden vorenthalten müssen, wenigstens
durch Schweigen respektieren". Angesichts dessen, dass Barth als
Schüler Adolf Harnacks wusste oder zumindest hätte wissen müssen, dass
die Jungfrauengeburt mit Sicherheit kein historisches Ereignis ist,
sind diese Aussagen befremdlich. Sie leiten geradezu zur Heuchelei an.
Bisherige Fragen und ein vorläufiges Fazit
Bei Barth wie bei vielen anderen Vertretern der sogenannten
dialektischen Theologie tut sich ein Gegensatz zwischen dogmatischer
und historischer Methode auf. Wenn historische Arbeit noch gar nicht
weiß, ja nicht wissen darf, was sie findet - wie soll sie da von
vornherein wissen, dass sie eine positive kirchliche Funktion hat?
Wenn ferner unwiderruflich feststeht, dass, wie im Falle der
Jungfrauengeburt, Dogma und Geschichte sich widersprechen - wie kann
der Historiker anders handeln, als die Unwahrheit der kirchlichen
Behauptung zu konstatieren? Diese und ähnliche Fragen sind seit dem
Aufkommen der historischen Kritik immer wieder gestellt worden. So
rief Gustav Krüger vor einem Jahrhundert in Erinnerung, dass die
historische Arbeit insofern unkirchlich ist, als "sie
schlechterdings und überall mit Maßstäben arbeitet, die gänzlich
außerhalb der kirchlichen Sphäre gewonnen sind. Unkirchlich auch in
dem Sinne, dass ich nirgends bei meiner Arbeit nach der Kirche frage:
ob ihr meine Ergebnisse behagen oder nicht ... ich suche die
eigentliche Arbeit des akademischen Lehrers in Etwas, das die Kirche
zunächst erschrecken muss."
Gustav Krügers Zeitgenosse William Wrede attackierte in einer
programmatischen Schrift ausdrücklich die These, die Theologie habe
der Kirche zu dienen. Er schreibt: "Allein diese so häufig
gebrauchte, auf Schleiermacher zurückweisende Formel ist jedenfalls
für alles in der Theologie, was der Geschichte angehört, also auch für
das gesamte biblische Gebiet, entweder durchaus unhaltbar oder äußerst
inhaltsleer."
Schließlich schrieb Walther Köhler, einer der Redakteure der
ersten Auflage des Lexikons "Religion in Geschichte und
Gegenwart" in einem Brief an den Verleger Paul Siebeck: "...
ich möchte doch meinerseits daran festhalten, dass das Lexikon ein
solches werden soll, in dem die Jungen - und zwar auch die Radikalen -
zum Worte kommen sollen, ein Lexikon, das mit vollem Bewusstsein den
Standpunkt der jungliberalen, religionsgeschichtlichen Schule zum
Ausdruck bringt ... Das beständige Schielen auf die Kirche ist mir in
der Seele zuwider."
Ein Nachfahre der Religionsgeschichtlichen Schule, der Schweizer
Pfarrer und Psychoanalytiker Oskar Pfister, bemerkte zum Thema:
"Eine Wissenschaft vom christlichen Glauben ist sowenig
christlich wie die Wissenschaft vom Verbrechen verbrecherisch ist.
Nicht die kirchliche Brauchbarkeit, sondern lediglich die Wahrheit an
sich muss das Ziel bilden ... Wissenschaft mit von der Kirche
bestellten Resultaten ist Scholastik."
Wir ziehen ein vorläufiges Fazit: Theologie als Wissenschaft sucht
nach der Wahrheit und ist hierin mit allen anderen Disziplinen an der
Universität verbunden. Eine kirchliche Theologie als wissenschaftliche
Disziplin kann es aus diesem Grund nicht geben. Sie geht in ihrer
Arbeit ja von einer geoffenbarten Wahrheit aus.
Die missliche Lage der Gegenwart: Drei eklatante Beispiele
Freilich kommt diese rücksichtslose Wahrheitsfrage in der neueren
Theologie fast gar nicht mehr vor, weil man dem in der Bibel
enthaltenen Anruf Gottes gehorsam sein will. Das ist daran
ersichtlich, dass heutzutage viele Beiträge auf den theologischen
Sinn, die Aussagerichtung der Texte abzielen, während das Verhältnis
von biblischem Bericht und geschichtlichem Hergang kaum oder gar nicht
thematisiert wird. Auch die Kanonfrage bleibt häufig stillschweigend
unerörtert, so, als ob die Bibel nicht eine frühchristliche
Schriftensammlung, sondern ein vom Himmel gefallenes Buch wäre, das
seine Leser damals wie heute belehren soll. Solche und ähnliche
Ausführungen setzen oft voraus, die Vernunft sei durch die Offenbarung
bzw. durch die Anrede der biblischen Zeugen zu begrenzen oder gar zu
erleuchten. Das bedeutet aber in der Praxis nichts anderes als
Klerikalismus. Denn Vernunft gilt entweder ganz oder gar nicht.
Dem halten Theologen zuweilen entgegen, die Vernunft habe ihre
Grenzen. Außerdem sei Bibelauslegung ein Akt des Gehorsams.
Ich möchte das an drei Beispielen illustrieren, die sich in den
Vorworten von theologischen Werken befinden. (Vorworte sind oft eine
Fundgrube für die Werturteile, die ihre Verfasser leiten.)
1. Der langjährige Professor für Neues Testament an der
Universität Göttingen, Joachim Jeremias (1900-1979), wendet sich im
Vorwort zur dritten Auflage seines klassischen Buches "Die
Abendmahlsworte Jesu" dagegen, in den Text das hineinzulesen,
"was man in ihm zu finden wünscht". Er schlägt stattdessen
vor, "die Welt, in der Jesus lebte und in deren Worten er sprach,
lebendig werden zu lassen", und ruft dann emphatisch aus:
"Exegese ist Sache des Gehorsams!", denn, so dürfen wir aus
einem anderen Buch von Jeremias ergänzen: "Niemand als der
Menschensohn selbst und Sein Wort kann unserer Verkündigung Vollmacht
geben." Ein eventueller Widerspruch gegen Jesus ist also
ausgeschlossen.
2. Der ehemalige Professor für Neues Testament an der Universität
Hamburg und spätere Lübecker Bischof Ulrich Wilckens schreibt im
Vorwort zu seiner Römerbriefauslegung, dass man Paulus erst verstehe,
wenn man mit ihm mitbete: "Wer im Durchgang durch den Römerbrief
gewahr wird, wie alle Gedankenlinien des Paulus auf das 'ingens
miraculum' dieses Geschehens in Tod und Auferstehung Christi zulaufen
und so die begriffliche Struktur seiner ganzen Denkbewegung ein
Umdenken in dieser Richtung fordert und ermöglicht, der wird mitten in
solchem Nachdenken immer wieder ins Beten, in die Anbetung
fallen." Was aber sollen die armen Menschen tun, die zu einem
solchen frommen Akt nicht in der Lage sind?
3. Gerhard Sellin, Professor für Neues Testament an der
Universität Hamburg, bemerkt im Vorwort seiner Habilitationsschrift
über 1Kor 15: "Der korinthische Idealismus wird entlarvt als eine
Spielart der sich Ewigkeit bescheinigenden menschlichen
Selbstherrlichkeit." Wer wagt dann noch, Paulus eventuell zu
widersprechen und Partei für die Gegenseite zu nehmen, die auch aus
Christen bestand? Um nicht missverstanden zu werden: Ich respektiere
die Frömmigkeit, die hinter den zitierten Sätzen steht, meine aber,
dass sie mit wissenschaftlicher Erforschung von Texten der
Vergangenheit nichts zu tun hat und von vornherein eine klerikale
Tendenz in die Textauslegung einfließen lässt.
Wissenschaftliche Theologie
Im Folgenden werden zunächst zwei unzureichende Bestimmungen der
Theologie als Wissenschaft zurückgewiesen; sodann begründe ich
positiv, wie Theologie fortan als wissenschaftliche Disziplin zu
betreiben ist, und werfe abschließend einen Blick auf mögliche
persönliche Konsequenzen für den Theologen.
Die Theologie und die Bibel als Wort Gottes
Eine Auffassung geht davon aus, die Theologie sei eine auf die
Bibel als Wort Gottes bezogene Wissenschaft. So schreibt ein moderner
Systematiker: "Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments ist
das Wort des Dreieinigen Gottes, in dem er sich zu erkennen gibt,
durch das er gegenwärtig ist, spricht und handelt." Doch findet
diese Meinung in der evangelischen wissenschaftlichen Theologie
überwiegend keine Zustimmung mehr. Man hilft sich vielmehr mit
Aussagen wie der, die Bibel enthalte Gottes Wort in menschlicher Rede.
Dies erlaubt dann die Anwendung historischer Kritik und gleichzeitig
die Annahme, in der Heiligen Schrift spreche Gott uns an. Zur
Verhältnisbestimmung von menschlicher und göttlicher Seite der Bibel
dient besonders häufig der Satz, die Bibel sei Gottes Wort in, mit und
unter Menschenwort.
Jedoch führen solche Ausführungen zu Schwierigkeiten. Denn welcher
Teil der Bibel stellt Menschen- und welcher Gotteswort dar? Überdies
wird dabei nicht beachtet, dass Gott immer nur in menschlich
vermittelter Rede und Tat erscheint. D.h., wir haben es immer nur mit
Gottesbildern zu tun, mit menschlichen Ansprüchen, dass Gott hier und
da gehandelt oder geredet habe. Wer sagt, die Bibel enthalte
Menschenwort und Gotteswort, bedient sich derselben unklaren
Ausdrucksweise, wie sie auch in der gedankenlosen Rede von "Kreuz
und Auferstehung Jesu" begegnet. In beiden Fällen sind
Menschenwort und Gotteswort sowie Kreuz und Auferstehung, um die
Begrifflichkeit Ludwig Wittgensteins zu gebrauchen, nach der
Oberflächengrammatik parallel gebildet, nach der Tiefengrammatik aber
unterschiedlich. Menschenwort und Kreuz bezeichnen historische
Gegebenheiten, Gotteswort und Auferstehung aber jeweils die Deutungen.
Die beiden Ausdrucksweisen "Menschenwort und Gotteswort"
sowie "Kreuz und Auferstehung" suggerieren demnach eine
Entsprechung, die gar nicht besteht. Der unvoreingenommene Hörer sieht
sich schlichtweg getäuscht, sobald er über den wahren Sachverhalt
aufgeklärt wird.
Zudem ist zu beachten, dass die Auffassung, die Bibel sei Gottes
Wort, erst Ergebnis eines langen historischen Prozesses ist. Dann gilt
aber: In dem Moment, in dem die Kirche die biblischen Dokumente
kanonisierte, wurden sie als Einzelzeugnisse ausgelöscht und auf eine
höhere Ebene gehoben. Daher türmen sich vor der Rede von der Theologie
als einer auf die Bibel als Wort Gottes bezogenen Wissenschaft von
vornherein große Hindernisse auf.
Man muss sich beispielsweise einmal klarmachen, wie viele
Dokumente in der Bibel nebeneinander stehen, die ursprünglich einander
geradezu widersprechen. So hat wahrscheinlich ein Fälscher den Zweiten
Thessalonicherbrief des Neuen Testaments als Ersatz für den Ersten
Thessalonicherbrief geschrieben und diesen echten paulinischen Brief
seinerseits dreist eine Fälschung genannt. Ferner kommt hinsichtlich
der vier Evangelien der begründete Verdacht auf, dass das
Johannesevangelium die ihm bekannten Evangelien, Markus und Lukas,
nicht ergänzen, sondern ersetzen wollte. Lukas und Matthäus wiederum
haben das Markusevangelium benutzt, nicht etwa, damit es fortan
mehrere Evangelien nebeneinander gebe, sondern um ihrer jeweiligen
Kirche die eine gültige Evangelienschrift zu bieten. Einige
nachfolgende christliche Generationen haben dies richtig verstanden,
denn die Benutzung des Markusevangeliums nach Abfassung und
Verbreitung des Matthäus- sowie des Lukasevangeliums geschah
außerordentlich selten. Dies änderte sich erst, als das
Markusevangelium Bestandteil des Viererevangeliums und anschließend
des Kanons wurde.
Was heißt es also, wenn man ernsthaft die Theologie als eine auf
die Bibel als Wort Gottes bezogene Wissenschaft bezeichnet? Die
Einzeldokumente lesen und zu verstehen suchen? Dann aber verlieren sie
unweigerlich den ihnen zugeschriebenen Charakter als Wort Gottes für
uns, das zu sein sie ja gar nicht beansprucht haben, und der Kanon
müsste abgeschafft werden. Bedeutet es, die Dokumente im Rahmen des
Kanons zu lesen? Dann betrieben wir eine Auslegung gegen die einzelnen
Zeugnisse, was aus Respekt vor den damals schreibenden und sprechenden
Personen auszuschließen ist.
Die Voraussetzung, die Theologie sei eine auf die Bibel als Wort
Gottes bezogene Wissenschaft, scheitert also an der schlichten
Tatsache, dass die Bibel gar nicht Gottes Wort ist. Sie ist
Menschenwort, und dies gilt für jede ihrer Schriften, jedes Kapitel
und jeden Vers.
Die Theologie und ihre christlichen Rede von Gott
Eine andere Auffassung von Theologie bestimmt ihre Aufgabe so,
dass sie den Wahrheitsanspruch der christlichen Rede von Gott
voraussetzt und gedanklich ausführt.
Ein Theologe schreibt: "Die Theologie geht von der
Voraussetzung des Glaubens an Gott aus und muss dies von ihrem
Erkenntnisgegenstand her tun. Gott ist unvordenklich. Gott ist vor der
Wissenschaft von Gott."
Ein anderer führt aus: Theologie ist "Reflexion in Bezug auf
christlichen Glauben, die den Grund dieses Glaubens in Gottes
Selbstbekundung in Jesus Christus voraussetzt und danach fragt, wie
solcher Glaube in Entsprechung zu seinem Grund inmitten heutiger
Wirklichkeitserfahrung zu vertreten ist".
Ich frage: Welcher Gott ist gemeint, wenn vom Glauben an ihn die
Rede ist?
Welcher Gott?
Die Bibel enthält - schon sichtbar an ihren verschiedenen
Gottesbezeichnungen - eine Unzahl von verschiedenen Gottesbildern. So
haben Juden und Christen jedenfalls dasselbe heilige Buch, das Erste
bzw. das Alte Testament, und damit denselben (!) Gott. Wie aber
verhält sich dieser zum Gott des Neuen Testaments, der dem
christlichen Bekenntnis zufolge seinen Sohn in die Welt gesandt hat?
Ist nicht schon die Existenz verschiedener Religionen - Judentum
einerseits, Christentum andererseits - mit derselben Bibel und
demselben Gott ein starkes Argument gegen den Wahrheitsanspruch der
christlichen Religion? Als Einwand gegen die Absolutheit des
Christentums und seines Gottes kommt schließlich die Existenz des
Islam hinzu, dessen Gottesgedanke einerseits auf der Bibel fußt und
andererseits arabische Elemente enthält.
Der christliche Theologe mag angesichts dieser Schwierigkeiten mit
einer höheren Einsicht oder Offenbarung argumentieren. Aber dasselbe
werden der jüdische und der muslimische Theologe auch tun, und beide
werden nachdrücklich die christliche Lehre von der Dreifaltigkeit
Gottes zurückweisen.
Zusätzlich kompliziert sich die Sache für Kirche und Israel mit
Blick auf Gnostiker jüdischen und christlichen Ursprungs, die in den
ersten beiden Jahrhunderten kurzerhand den alttestamentlichen Gott
degradierten. So heißt es etwa in einer Schrift aus der im Jahre 1945
entdeckten Bibliothek von Nag Hammadi:
"Und dann ertönte eine Stimme des Weltherrschers zu den
Engeln: 'Ich bin Gott, und es gibt keinen außer mir' (Jes 45,5). Ich
aber lachte voller Freude, als ich seine eitle Herrlichkeit prüfte. Er
aber fuhr fort zu sagen: 'Wer ist der Mensch?' Und das ganze Heer
seiner Engel, die Adam und sein Haus gesehen hatten, lachten über
seine Kleinheit"
(Zweiter Logos des großen Seth 53,27-54,4).
Stattdessen führten diese Gnostiker göttliche Wesen ein, die über
dem alttestamentlichen Gott stehen, der sich durch den Ausspruch aus
Jes 45,5 als dieser zu erkennen gibt. Dies haben sie mit genauso
großer Plausibilität getan wie diejenigen Juden und Christen, die am
Gott des Alten Testaments festhielten, so dass wissenschaftliche
Urteile zum Wahrheitsanspruch der drei genannten Gruppen schwerlich
möglich sind.
Es gilt also: Der Wahrheitsanspruch der christlichen Rede von Gott
erliegt ebenso wie der der jüdischen, der muslimischen und der
gnostischen Rede von Gott historischer Relativität. Er ist
ausschließlich ein Urteil oder Bekenntnis der jeweiligen
Glaubensgemeinschaft. Das muss energisch gesagt werden, da
"wissenschaftliche" Theologen in der westlichen Welt, wenn
sie "Gott" sagen, unter der Hand immer den christlichen Gott
meinen und sofort einen Wahrheitsanspruch der Rede von ihm entfalten.
Die Theologie als wissenschaftliche Disziplin
Historische Methode
Die Theologie ist insofern eine geschichtliche Disziplin, als sie
das Christentum mit Hilfe der historisch-kritischen Methode
untersucht. Für die historische Methode sind drei Voraussetzungen
grundlegend: die Kausalität, die Berücksichtigung von Analogien und
die Erkenntnis von der Wechselbeziehung (Korrelation) der historischen
Phänomene. Ihre Arbeitsweise folgt dem methodischen Atheismus der
neuzeitlichen Wissenschaft (der freilich von einem dogmatischen
Atheismus zu unterscheiden ist). Befreit von metaphysischen
Voraussetzungen und ausgerüstet mit dem Instrumentarium historischer
Kritik hat die Theologie als wissenschaftliche Disziplin geradezu eine
kopernikanische Wende für alle Kirchen- und Religionsgemeinschaften
zur Folge. Ihr Siegeszug durch die Universitäten der letzten drei
Jahrhunderte ist eindrücklich. Sie hat sich in den
geisteswissenschaftlichen Disziplinen behauptet und völlig neue
Einsichten geliefert.
Die historische Methode ist Teil des emanzipatorischen Prozesses
wissenschaftlicher Neugierde. Sie möchte Sinngebungen nachvollziehen,
d.h. verstehen, muss sich aber, will sie denn Objektivität anstreben
und die Welt entzaubern, gerade deshalb von allen ihr begegnenden
fremden Ansprüchen emanzipieren:
¥ vom Anspruch des kanonischen Status bzw. der Heiligkeit
bestimmter Schriften, denn "es gibt für wissenschaftliche Exegese
keinen Unterschied heiliger und unheiliger Schriften. Alle sind
gleichen Schutzes gegen die Attentate ungewaschner Subjektivität ihrer
Ausleger bedürftig und würdig";
¥ vom Anspruch einer Offenbarung, da Offenbarung kein
wissenschaftlicher Begriff ist;
¥ vom Anspruch, zwischen Rechtgläubigkeit und Ketzerei in einem
über die Prüfung historischer Ansprüche hinausgehenden Sinn zu
unterscheiden, denn hier stehen essentiell nicht entscheidbare
dogmatisch-theologische Urteile einander gegenüber.
Die historische Methode verweigert eine Antwort auf die religiöse
Wahrheitsfrage und kann nur verschiedene Wahrheitsansprüche
registrieren und miteinander vergleichen. Sie ist darin
ideologiekritisch. Als geschichtswissenschaftliches und philologisches
Instrument ist sie den Methoden der Geisteswissenschaften in all ihren
Ausprägungen verpflichtet. Entscheidend bei der Übernahme neuer
Methoden aus den Nachbardisziplinen, Soziologie, Psychologie und
Ethnologie, ist deren Überprüfbarkeit und Effizienz in der Aufhellung
geschichtlicher Phänomene. Ihre Voraussetzungen "müssen
revidierbar bleiben und können immer nur durch ihre erklärende und
deutende Wirkung, aber nicht durch einen kirchlichen Machtwillen in
Geltung gehalten werden". Dabei folgt Methodenbewusstsein
organisch arbeitender Methode immer nach.
Die neue theologische oder religionswissenschaftliche Fakultät
Die Forderung der Stunde ist daher eine neue theologische oder
religionswissenschaftliche Fakultät, in der alle Religionen nach den
oben genannten Grundsätzen erforscht werden. Sie würde sich
zusammensetzen aus den Mitgliedern der herkömmlichen evangelischen und
katholischen Fakultäten - allerdings in erheblich reduzierter Zahl -
sowie aus Inhabern religionsgeschichtlicher,
religionswissenschaftlicher und philosophischer Lehrstühle, sofern
letztere die Religion zum Thema haben. Demgegenüber sind sowohl die
sog. Systematische Theologie als auch die praktische Ausbildung der
Geistlichen Aufgaben der christlichen Kirchen und der anderen
Religionsgemeinschaften. Sie sind nicht Sache der Universität. Doch
werden die Religionsgemeinschaften ein Interesse daran haben, dass
ihre Geistlichen diese neue Fakultät besuchen, um eine gründliche
Einführung in ihre eigene Religion und die anderer Menschen zu
erhalten. Sie könnten beispielsweise auch einzelne Professuren
finanzieren, wenn klargestellt bleibt, dass damit keine
Eingriffsbefugnisse in die Angelegenheiten der Fakultät verbunden
sind.
Eine Klarstellung: Die möglichen persönlichen Konsequenzen für den
Theologen
Werden die christliche Kirche und die anderen Religionen in der
vorgeschlagenen Weise erforscht, so mag hier für die persönlichen,
individuellen Konsequenzen des wissenschaftlichen Theologen ein Zitat
von Émile M. Cioran (geb. 1911) stehen. Denn was dieser über einen
"Spezialisten der Religionsgeschichte" sagt, nämlich dass es
unmöglich sei, sich diesen beim Gebet vorzustellen, lässt sich ebenso
auf den wissenschaftlichen Theologen übertragen:
"... wenn er tatsächlich betet, dann verrät er seine Lehre,
widerspricht sich selbst, schadet seinen Abhandlungen, in denen es
keinen wahren Gott gibt, da alle Götter als gleichwertig behandelt
werden. Es ist müßig, sie zu beschreiben und scharfsinnig zu
kommentieren; er kann ihnen kein Leben einhauchen, nachdem er ihnen
das Mark ausgesogen hat, sie miteinander verglichen und, um ihr Elend
voll zu machen, so lange gerieben und poliert hat, bis nur noch
blutleere, für den Gläubigen nutzlose Symbole übriggeblieben sind. Es
ist müßig, noch anzunehmen, dass in diesem Stadium der Gelehrsamkeit,
Desillusionierung und Ironie noch irgend jemand da wäre, der wahrhaft
glaubt. Wir alle ... sind Möchtegern-Gläubige; wir sind alle religiöse
Geister ohne Religion."
Mögen die persönlichen Konsequenzen in den Biographien der
einzelnen Religionswissenschaftler auch verschieden ausfallen - in
jedem Fall ist klar, dass es nur eine Wissenschaft geben kann, die
sich mit Religionen der Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt. Alle
Versuche, an dieser Stelle die Wahrheitsfrage zu ermäßigen oder gar zu
"pluralisieren", setzen sich dem Verdacht aus, es mit der
wissenschaftlichen Aufgabe nicht ernst zu meinen. Dazu gehören auch
alle Versuche, den persönlichen Glauben in die Wissenschaft einfließen
zu lassen, indem man die Erforschung nichtchristlicher Religionen zu
dem apologetischen Zweck missbraucht, ihre Unvollkommenheiten
aufzuweisen, oder indem man allgemein einer Religionswissenschaft des
Verstehens das Wort redet, was auf eine Gleichsetzung mit
offenbarungsgläubiger Theologie hinauslaufen würde.
Abschließend möchte ich zwei weitere Argumente zugunsten meiner
Vorschläge zur Umwandlung der theologischen Fakultäten anführen.
Das erste ist gesellschaftspolitischer Art: Deutschland wird in
den nächsten Jahren zunehmend zur Heimat von Angehörigen anderer
Religionen werden. Folgt man der Logik der Juristerei, müssten die
Mitglieder dieser Religionsgemeinschaften als Körperschaften
öffentlichen Rechts ebenfalls eigene theologische Fakultäten erhalten.
Dann hätten wir in der Zukunft also nicht nur evangelische und
katholische, sondern auch muslimische, jüdische und buddhistische
Fakultäten - vielleicht sogar solche der Zeugen Jehovas und der
Mormonen. Dass diese finanziell nicht zu realisieren sind, dürfte
allgemein einleuchten. Und wissenschaftlich wären sie aus denselben
Gründen überholt wie die heutigen christlichen Fakultäten.
Das zweite Argument ergibt sich auch aus dem Zusammenwachsen
Europas. Der deutsche Zustand ist ein Unikum und lässt sich auf Dauer
keinesfalls in die europäische Gemeinschaft hinüberretten. In anderen
europäischen Ländern, aber auch in Nordamerika verfolgt man die
Diskussion in Deutschland, einst das Mekka der wissenschaftlichen
Theologie, mit Staunen. Der unhaltbare Status der Theologie an
deutschen Universitäten verlangt nach Politikern, die - unbeeindruckt
von kirchlicher Lobbyarbeit - den alten Zopf abschneiden und so der
Wissenschaft zum Zuge verhelfen.
Nachweise: Gerd Lüdemann: Im Würgegriff der Kirche. Für die
Freiheit der theologischen Wissenschaft, zu Klampen, 1998. Siehe auch:
http://www.zeit.de/1998/41/Im_Wuergegriff_der_Kirche