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Veröffentlichungen 2004
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Gerd Lüdemann sieht die Freiheit keineswegs als Konsequenz der
christlichen Lehre. Im Gegenteil: Unduldsamkeit ist ihr eingeschrieben
Die frühchristliche Botschaft sagt eine von Gott herbeigeführte
neue Epoche an. Sie begann mit dem Kommen seines Sohnes in die Welt,
hatte in der Auferstehung Jesu von den Toten einen vorläufigen
Höhepunkt und sollte sich bei dessen Wiederkunft am Ende der Zeit
vollenden. Das Evangelium, wörtlich übersetzt
"Frohbotschaft", hat Jesus Christus zur Mitte. Am Glauben
daran, daß Gott ihn zum Heiland bestimmt hat, entscheiden sich Heil
und Unheil der Menschen. "Wer da glaubt und getauft wird, der
wird selig werden, wer aber nicht glaubt, der wird verdammt
werden", heißt es griffig am Schluß des ältesten Evangeliums.
Die Frohbotschaft wandelte sich unversehens zur Drohbotschaft,
wenn das Angebot zur Rettung verweigert wurde. Kirchenführer setzten
bald Rechtgläubigkeit mit Gehorsam gleich. Sie projizierten ein an der
Unterdrückung orientiertes soziales Gefüge in den Himmel und zeigten
sich von einer Kultur der Unterordnung geprägt. Vor allem der
kanonische Status, durch den die Texte des Neuen Testaments zur ewigen
Norm für die Kirche erklärt wurden, hat den Blick dafür getrübt, daß
die "heiligen Schriften" aus massiven Machtkämpfen
hervorgingen und durch sie geprägt sind.
Am Ende des ersten Jahrhunderts - mit begünstigt durch die
Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 - hatte die Kirche sich über weite
Teile des Römischen Reiches verbreitet, und zweieinhalb Jahrhunderte
später war sie bereits Staatsreligion. Den Boden für ihren enormen
Erfolg hatte das Judentum bereitet. Ihm verdankte die Kirche die
hochstehende Ethik und das Alte Testament. Welch eine Ironie der
Geschichte, daß die christliche Religion ihrer jüdischen Mutter
keinerlei Dankbarkeit zeigte, sondern sie zusammen mit anderen
Widersachern in das Reich der Finsternis verstieß. Doch erwies sie
sich auch gerade darin als eine Tochter, die von der Mutter gelernt
hatte. Denn Erbe Israels war auch das Bewußtsein der Erwählung und vor
allem der exklusive Monotheismus, der alle anderen Formen der
Verehrung Gottes oder der Götter als Götzendienst verurteilte.
Bei ihrer Mission führten die Christen die religiöse Intoleranz
des Ersten Gebotes ("Ich bin Jahwe, dein Gott, du sollst keine
anderen Götter haben neben mir") in die griechisch-römische Welt
ein. Kein Wunder, daß die rivalisierenden heidnischen Religionen, die
eine große Duldsamkeit auszeichnete, der Kirche kein Paroli zu bieten
vermochten. Diese konnte sich fast ungehindert durch den römischen
Staat ausbreiten und war Nutznießerin von dessen toleranter
Religionspolitik.
Auch hielten sich die Christenverfolgungen in Grenzen. Von der
Sehnsucht nach dem Martyrium getrieben, schlugen sich die Christen oft
selbst die Köpfe blutig, weil viele römische Statthalter ihnen nicht
den Gefallen der Hinrichtung taten. Einmal an der politischen Macht
beteiligt, wußten Bischöfe das staatliche Schwert gegen Heiden, Ketzer
und Juden in einem Ausmaß zu lenken, das die Intensität bisheriger
Religionsverfolgungen weit übertraf. Bei dieser Unduldsamkeit blieb es
bis an die Schwelle der Neuzeit.
Entgegen der populären These, daß Luthers Freiheitsverständnis von
Toleranz geprägt war, steht die Unduldsamkeit des Reformators
gegenüber Katholiken, Juden, Türken, Heiden und evangelischen Ketzern
fest. Die Forderung nach Toleranz erhoben Humanisten und christliche
Minderheiten zunächst ohne Erfolg. Sie hat sich historisch gegen die
christlichen Kirchen durchgesetzt. Und nicht zufällig verlief der
Prozeß so und nicht anders. Denn die Gesamtrichtung der Heiligen
Schrift im Alten und Neuen Testament hat Gott und seine Herrschaft zum
Ziel.
Es mag mit dieser gewalttätigen Seite des christlichen Glaubens
zusammenhängen, daß im und vom christlichen Abendland aus so viele
Kriege geführt wurden, obwohl "Friede" ein Grundbegriff der
Heiligen Schrift ist. Indes kommt es darauf an, wie sich
"Friede" - der Bibel zufolge - ereignet. Und hier lautet
ihre Botschaft, daß der Herr Jesus Christus das Friedensreich durch
die Macht, die ihm seit seiner Auferweckung durch Gott zu eigen ist,
notfalls mit Zwang durchsetzt. Damit ist für die an ihn Glaubenden ein
Gewaltpotential zugänglich gemacht, das sie guten Gewissens gegen
Feinde des Evangeliums einsetzen dürfen.
Intoleranz scheint notwendig ein Wesensmerkmal der christlichen
Religion zu sein. Das bekennt ein so renommierter Theologe wie Karl
Barth auch ganz offen: "Kein gefährlicherer, kein
revolutionärerer Satz als dieser: daß Gott Einer, daß Keiner ihm
gleich ist! Wird dieser Satz so ausgesprochen, daß er gehört und
begriffen wird, dann pflegt es immer gleich 450 Baalspfaffen
miteinander an den Leib zu gehen. Gerade das, was die Neuzeit Toleranz
nennt, kann dann gar keinen Raum mehr haben." Es wäre daher
verfehlt zu meinen, die Freiheit im allgemeinen und die
Religionsfreiheit im besonderen liege in der Konsequenz der
christlichen Lehre - auch wenn die "aufgeklärten"
Funktionäre der Volkskirche es gern anders hätten, da nur unter dieser
Voraussetzung die weitere Mitarbeit der Kirchen im säkularen Staat
möglich ist.
Tatsächlich können Theologie und Kirche, welche die Bibel als
Richtmaß nehmen, die Religions- und Gewissensfreiheit - Toleranz -
ohne taktische Hintergedanken schwerlich gutheißen. Denn Toleranz
bedeutet, die Menschenwürde auch ohne ausdrückliche oder
stillschweigende Berufung auf Gott unbedingt anzuerkennen. Damit wird
sich der eifernde, Gehorsam fordernde Jahwe der Bibel nie abfinden.
- Gerd Lüdemann ist Professor für Geschichte und Literatur des
frühen Christentums in Göttingen. Sein Buch "Die Intoleranz des
Evangeliums" erschien soeben im Verlag zu Klampen.
Artikel erschienen am 5. Dezember 2004
© WAMS.de 1995 - 2004
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Leserbriefe
Schiefes Pauschalurteil
Zum Thema: "Intolerantes Evangelium" vom 5. Dezember in
der Welt am Sonntag
Aus welcher Stelle im Neuen Testament kann Herr Lüdemann ableiten,
daß Unduldsamkeit der christlichen Lehre eingeschrieben ist? Scharf
spricht Jesus nur mit den Mächtigen seiner Zeit. In der
Auseinandersetzung seiner Jünger nach der Brotrede (Joh. 6,22 ff.)
fällt kein böses Wort über die, die weggehen. Jesus stellt den Zwölfen
die Frage: "Wollt ihr auch weggehen?" (Joh. 6, 67). Heilige
Freiheit! Mag sein, daß viele Christen nicht nach diesem Motto
gehandelt haben und handeln. Ein Professor für Geschichte und
Literatur des frühen Christentums müßte wissen, daß sich für eigene
unlautere Absichten immer ein frommes Mäntelchen findet und man am
liebsten im Namen Gottes handelt.
Dr. Josef Sellmair, 85356 Freising
Ich danke Ihnen für diese Veröffentlichung, der ich absolut
zustimme. Besonders in dieser Jahreszeit, wo von allen Kanzeln und in
den Kirchen wieder vom "Frieden auf Erden" gepredigt und
gesungen wird, ist es wohltuend zu lesen, wie das Toleranzverständnis
der Kirche in Wirklichkeit aussieht. Je mehr man sich übrigens mit der
2000jährigen Geschichte beschäftigt, desto größer wird das Erstaunen
darüber, welchen Einfluß die Kirche trotz Aufklärung und
Säkularisierung auch heute noch hat. Basis der "Volkskirche"
ist eben Nietzsches trefflicher Satz: "Glauben heißt
Nicht-wissen-Wollen"!
Walter Nagorni, 30655 Hannover
Die These, der zufolge das Evangelium im Kern intolerant sei, ist
sowohl richtig als auch falsch. Richtig ist, daß die Bibel von der
Existenz absoluter Wahrheit ausgeht. Gemessen an dieser Wahrheit ist
zunächst jede gegenteilige Behauptung anderer Religionen als unwahr
abzulehnen. Gleichzeitig jedoch geht die Bibel von einem negativen
Menschenbild aus. Da jeder Mensch unvollkommen ist, kann sich kein
Mensch anmaßen, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Diese Idee
wurde zur Grundlage des modernen Toleranzbegriffs.
Simon Wunder, 41849 Wassenberg
Wer nicht differenzieren kann oder mag, kommt zu solchen schiefen
Pauschalurteilen. Ist Gleichgültigkeit schon Toleranz? Ist Eifer für
die Wahrheit schon Intoleranz? Sind Worte Jesu wie "Liebet eure
Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch
beleidigen" oder "Selig sind die Sanftmütigen, sie werden
die Erde besitzen" intolerant? Daß die Christenheit über weite
Strecken der Geschichte Jesu Worte ignoriert hat, ist bekannt.
Trotzdem erwartet man von einem Historiker eine differenziertere
Betrachtung der Kirchengeschichte. Bedeutende Leute außerhalb unseres
Kulturkreises, wie Mahatma Gandhi und Dr. Vishal Mangalwadi sehen mit
schärferem Blick die Wurzeln von Toleranz und Menschenrechten im Neuen
Testament.
Gotthold Karrer, Pfarrer i.R., 83022 Rosenheim