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DIE WOCHE 25/01, 15. Juni 2001
WOCHE-Thema Evangelischer Kirchentag
Sollte er tatsächlich heute wiederkehren, würde er nicht
erkannt. GERD LÜDEMANN über die Umbildung des Menschen Jesus zum
himmlischen Christus durch die Kirchen
Fragen, die beginnen mit: "Was wäre, wenn ...?", regen
die Phantasie an. Was wäre beispielsweise aus Europa geworden, hätte
Luther sich kirchentreu verhalten und klein beigegeben? Die Frage
"Was würde Jesus dazu sagen?" ist mir noch in guter
Erinnerung von Martin Niemöllers ohnmächtigem Protest gegen die
Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in den 50er Jahren.
Und was würde Jesus heute sagen? Hätte er überhaupt noch eine
Chance, sich Gehör zu verschaffen? Oder eröffneten Globalisierung und
neue Medien nicht ungeahnte Chancen zur Verbreitung seiner Stimme und
Botschaft? Böte unsere Zeit ihm nicht die Möglichkeit, zu allen
Menschen dieser Welt zu reden, so wie er dies als Auferstandener
seiner Kirche im Missionsbefehl aufgetragen hat?
Nun ist der auferweckte Jesus dafür kein geeigneter Bezugspunkt,
denn man erkennt ihn bekanntlich nur im Glauben. Zudem wird der
Auferstandene jeden Sonntag von der Kanzel gepredigt und ist der
kirchlichen Lehre zufolge im verkündigten Wort gegenwärtig. Er redet
ja angeblich durch den Mund des hierfür ordinierten Personals. Die
Frage, ob Jesus heute eine Chance hätte, muss sich demnach auf den
Jesus zwischen Geburt und Tod, auf den historisch wirklichen Jesus,
beziehen und nicht auf den Jesus der Verkündigung.
Diesen historischen Jesus hat die Wissenschaft erst nach
erbitterten Auseinandersetzungen vom Christus des Dogmas befreien
können. Am vorläufigen Ende dieser Geschichte steht die Einsicht, dass
das meiste von dem, was in den Evangelien steht, Jesus erst
nachträglich in den Mund gelegt wurde. Gleichzeitig reicht der Rest
von ungefähr 15 Prozent aus, um den Umriss seines Tuns und seiner
Botschaft zu rekonstruieren.
Jesu Auftreten ist von seiner Erwartung des Reiches Gottes nicht
zu trennen. Er wirkte am Rande der Gesellschaft unter Ausgestoßenen.
Die von ihm vollzogenen exorzistischen Heilungen deutete er als
Zeichen des anbrechenden Reiches Gottes, denn in ihnen wurden der
Satan und die Dämonen bereits besiegt. Dies lief parallel mit einer
Auslegung des Willens Gottes, die er auf das Gebot der Feindesliebe
zuspitzte, und einer gleichnishaften Rede vom Reich Gottes. Alles in
allem war Jesus ein Rebell gegen Gewohnheit und Herrenmacht, ein
Unruhestifter. Sein Wirken war von einem unübersehbaren Zug nach unten
zu den Armen und Verachteten getragen, mit einem gleichzeitigen
Aufbegehren nach oben. Als Nonkonformist, der eine große Schar von
Jüngern um sich sammelte, ging er unbeirrt seinen Weg bis nach
Jerusalem, wo er aber, ans Kreuz geschlagen, in einem vorläufigen
Fiasko endete.
Ein solcher Jesus hätte in den beiden großen Kirchen, die beide in
der Nachfolge der Apostel zu stehen beanspruchen, keine Chance. Das
folgt notwendig aus ihrer Identität, denn sie sehen sich vom
auferstandenen Herrn her legitimiert. Außerdem hat - plakativ gesagt -
der Apostel Paulus, dem Jesus nie persönlich begegnet ist, das
Christentum gegründet.
Für diesen ehemaligen Pharisäer, der Christus in einer Vision
gesehen hatte, war Jesus der Messias nicht trotz, sondern wegen seines
Kreuzestodes. Paulus deutete den Terror des Kreuzes als Sühne für die
Sünden der Menschen, obwohl Jesus sich gerade nicht als Zahlmeister
für die Verfehlungen anderer verstand. Und derselbe Paulus gewann dem
Tod Jesu geradezu kosmische Dimensionen ab - er sollte die Sünde des
ersten Menschen Adam rückgängig machen.
Der historische Jesus selbst bleibt somit die gewaltigste Macht
gegen das Christentum. Dies lässt sich eindrücklich am Apostolischen
Glaubensbekenntnis erweisen, das jeden Sonntag in allen Kirchen
gesprochen wird. Darin heißt es: "Ich glaube an Jesus Christus,
seinen (Gottes) eingeborenen Sohn, unseren Herrn, empfangen durch den
Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius
Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das
Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten." In
diesen Sätzen fehlt der Jesus aus Fleisch und Blut zwischen Geburt und
Tod - aus gutem Grund. Er hatte, so wie er als Mensch war, keinerlei
Bedeutung. Der Verdacht drängt sich auf: Nicht um dessen willen, was
er war, sondern um dessen willen, was er nicht war, haben Paulus und
seine Nachfolger Jesus zum Mittelpunkt der Kirche, eines Kultus
gemacht.
Nun besteht die Ironie dieses Vorgangs religiöser Selbsttäuschung
darin, dass die Bibel selbst die Mittel für seine Aufdeckung
bereitstellt. Denn die Kirche musste ein Interesse daran haben,
Weltenherr und Wanderprediger als ein und dieselbe Person dingfest zu
machen. Ohne diese begriffliche Fixierung und historische Verankerung
des mythischen Christus keine Autorität und Macht für die Kirche auf
dieser Erde! Daher bewahrte sie in ihren Reihen auch die Traditionen
vom historischen Jesus und nahm sie - dogmatisch geschönt - in den
Kanon heiliger Schriften auf. Das gereichte ihr in der Neuzeit unter
den Gebildeten zur Schande, weil man erkannte: Jesus hat diese Kirche
nicht gewollt. Er hat ihr nicht die Bindegewalt zugeschrieben, die
ihre Vertreter für sich beanspruchen.
Nun gibt es den Versuch, den historisch widerlegten Glauben als
"Religion light" zu vermitteln. Der evangelische Kirchentag
in Frankfurt liefert dafür ein Beispiel. Seine Losung "Du stellst
meine Füße auf weiten Raum" (Psalm 31, Vers 9) soll angeblich
Freiheit verheißen und Hoffnung auf Orientierung zu Beginn des dritten
Jahrtausends. Doch der Kontext in Psalm 31 ist völlig anders.
"Weiter Raum" heißt dort Rettung vor den Feinden, und ihnen
wünscht der Beter: "Die Gottlosen sollen zu Schanden werden und
hinabfahren zu den Toten und schweigen" (Vers 18). Das ist etwas
anderes als das, was die Kirchentags-Losung suggeriert. Jesus fände in
dieser Mischung von "Religion light" und Ahnungslosigkeit
keinen Raum.
Ein weiterer Vermittlungsversuch und zugleich ein Weg, das Image
der Kirche aufzuputzen, wird unter der Überschrift "Kirche mit
Zukunft" beschritten. Hier geht es aber nicht um die Nachfolge
Jesu als des Rebellen, sondern darum, eine flexible und effektive
Organisation zu schaffen. Man will so aus der defensiven Haltung
herauskommen, ein neues Wir-Gefühl erzeugen und gegen den Trend
wachsen. Also Orientierung an der Mitgliederzahl statt am Priestertum
aller Gläubigen. Die "Kirche der Zukunft" beschwört ihren
eigenen Auftrag, ihre eigene Botschaft, die dann an der
Durchsetzungskraft des Evangeliums orientiert ist. Zu Deutsch: Der
auferstandene Herr sendet seine Kirche in die Welt. Der nachdenkliche
Mensch sieht sich düpiert, sobald er erkennt, dass wieder nur alte
Inhalte angeboten werden, diesmal nur in neuen Kleidern.
Da für das Christentum schlechthin aller Halt in Fiktionen liegt,
muss der Mensch im Augenblick ihrer Aufdeckung in ein solches Nichts
sinken, wie er es noch nie erlebt hat. Als Verteidiger dieser
fingierten Welt werden kirchliche Theologen mitschuldig an einer Krise
des Nihilismus, der den Westen seit über einem Jahrhundert ergriffen
und Nietzsche zu dem prophetischen Ausspruch getrieben hat: Gott ist
tot.
Gerd Lüdemann (54) ist Professor für Neues Testament an der
Universität Göttingen
© DIE WOCHE Zeitungsverlag 2001