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Veröffentlichungen 1998
erschienen in: SPIEGELspezial 7/1998, Seiten: 122-127
Gerd Lüdemann über den Schmerz-Mythos in der christlichen Religion
Religionen sind von Menschen gemacht. Deswegen ist es legitim, sie
danach zu befragen, auf welche Weise sie grundlegende menschliche
Erfahrungen wie den Schmerz ihrem Glaubensgebilde einverleiben. In der
christlichen Religion umkreist eine Vielzahl von Vokabeln das Phänomen
Schmerz: weinen, klagen, Angst oder Furcht empfinden. Auch das Wort
Schmerz kommt vor. Zentraler Terminus ist jedoch ein anderer Ausdruck:
das Leiden. Er bezieht sich sowohl auf Jesus, der am Kreuz gelitten
hat, als auch auf seine Nachfolger, die sich im Leiden befinden. Wie
die ältesten Dokumente des Neuen Testaments zeigen, die Briefe des
Apostels Paulus, wurde den Christen offenbar von Anfang an das Leiden
vorausgesagt.
Inwieweit und in welchem Umfang das als historische Tatsache zu
bewerten ist, bleibt umstritten. Das Leiden der Christen unter der
Römerherrschaft wurde in den allermeisten Fällen nur sehnsüchtig
herbeiphantasiert. Die Religionspolitik des römischen Weltreiches war
tolerant, und die meisten Quellen der ersten drei Jahrhunderte
spiegeln eine ungestörte Entwicklung der christlichen Kirche wider.
Beispielsweise erlitten, neuesten Schätzungen zufolge, bis zum
Anfang des vierten Jahrhunderts, als Kaiser Konstantin die christliche
Religion begünstigte und ihre Erhebung zum Staatskult einleitete, bei
einer angenommenen Gesamtzahl von sieben Millionen Christen weniger
als eintausend den Märtyrertod. Das bedeutet: Die Vorstellung, die
christliche Kirche sei auf dem Blut der Märtyrer gegründet, ist ein
Mythos, sosehr die in einzelnen Fällen in aller Öffentlichkeit bis zum
Tode bewiesene Standhaftigkeit christlicher Männer und Frauen Eindruck
machte.
So oder so, die Bedeutung, die dem Leiden Christi und dem Leiden
seiner Kirche in der christlichen Frömmigkeit und Theologie
beigemessen wird, verdient einen Blick, der in die Tiefe gehen muß.
Alljährlich wird das christliche Leiden am Karfreitag sinnfällig.
Über diesem Tag liegt eine eingetrübte, unklare Halbmast-Atmosphäre.
Es ist ein Tag in Moll, ein Tag der Trauer. Erst Ostern, zwei Tage
später, darf der Gläubige die Trauerkleider ablegen und fröhlich sein.
Dieser Karfreitagsschmerz ist in wörtlichem Sinn in die meisten
Kirchen eingebaut.
Dort findet sich am Altar ein Kruzifix, und nicht nur hier,
sondern auch in vielen deutschen Gerichtssälen. Das Kruzifix stellt
das Symbol der christlichen Religion dar, und es hat sich trotz einer
zunehmenden Entchristlichung in der Bundesrepublik zäh behauptet - aus
Sitte, aber auch, weil die mit ihm verbundene Tradition vom
Schmerzensmann Jesus in unserer Kultur tief verwurzelt ist. Auch einer
kirchenfernen Zuhörerschaft wird sie beispielsweise durch die großen
Passionsoratorien Johann Sebastian Bachs jedes Jahr wieder
nahegebracht.
Das Leiden Christi, sein Kreuz, ist im Grunde Teil eines
sorgfältig inszenierten himmlischen Schauspiels: Gott gab seinen Sohn
dahin, damit er für die Sünden der Menschen sterbe. Folgerichtig mußte
dieser Sohn selbst sündlos sein.
Nur so und nicht anders war er überhaupt zu dem Wunder fähig, die
unermeßliche Sündenlast zu tragen. In einer Vielzahl von Bildern -
Versöhnung, Loskauf, Befreiung und Sühne - beschreibt die christliche
Tradition diese Heilsmaschinerie.
Immer liegt ihr dasselbe Phänomen zugrunde: Christus büßt durch
seinen Tod für einen vorzeitlichen Sündenfall, den Sündenfall Adams,
um wieder Ordnung und Heil für alle Nachkommen Adams zu schaffen. Der
Gottessohn versöhnte Gott und versöhnte damit die Menschen. Denkt man
das zu Ende, so müßten mit dem Leiden des unschuldigen Opferlammes
Christus auch Leiden und Schmerz der von ihm Erlösten zum vorzeitigen
Ende gekommen sein. Aber diese Aufebung des Schmerzes geschieht nur
unvollkommen oder nie, denn das Imperfekt des Leidens Christi wirkt
durchweg stärker als das Perfekt der Erlösung durch Christus.
Dies ist kein Wunder, denn der gekreuzigte Gott steht nun einmal
im Mittelpunkt des christlichen Glaubens. Das Kreuz wird zwar
allenthalben als wie auch immer zu verstehendes Symbol des Sieges, der
Erlösung oder der Überwindung des Todes verstanden. Da an ihm aber der
Leichnam Jesu von Nazareth hängt, bleibt es notwendig die Negation des
Lebens und die Affirmation des Leidens.
Die Christen wurden dadurch geradezu angespornt zu fragen: Sind
wir vielleicht etwas Besseres als Gott? Sollten wir uns nicht vielmehr
sein Leiden aneignen? Müssen wir nicht ebenso wie Christus
notwendigerweise leiden? All dies verlief fast zwangsläufig so, weil
die Ankunft des Reiches Gottes, in dem man den himmlischen Lohn zu
empfangen hoffte, sich immer mehr verzögerte. So hielten sich die
frühen Christen lieber gleich an die Leiche auf dem Kreuzesbalken und
machten kurzerhand diese Welt in immer neuen Umschreibungen zum Felde
des Leidens. Die meisten Gläubigen sind ihnen darin bis heute gefolgt.
Das Leiden und vorzugsweise das Martyrium galten fortan als
Garantien für den Übergang in die himmlische Herrlichkeit. Bischof
Ignatius von Antiochien, der Anfang des zweiten Jahrhunderts als
Gefangener nach Rom transportiert wurde, freute sich darauf, "der
wilden Tiere Fraß zu sein, durch die es möglich ist, zu Gott zu
gelangen". Er fährt fort: "Gottes Weizen bin ich, und durch
die Zähne der wilden Tiere werde ich gemahlen, damit ich als reines
Brot Christi gefunden werde." Gleichzeitig warnte der
leidenswütige Bischof die römische Gemeinde davor, ihn durch Loskauf
vor dem Martyrium zu bewahren.
Gelegentlicher Protest christlicher Glaubensbrüder und
Außenstehender diagnostizierte eine solche Martyriumssehnsucht als
Krankheit. Doch das fruchtete nicht. Offensichtlich ist es ein Axiom
religiöser Logik, daß der Märtyrer automatisch seinen Lohn im Himmel
bekommt und im Erleiden seiner Todesschmerzen auch Mitchristen den Weg
ins Paradies eröffnet.
Dahinter steckt die Vorstellung eines zunächst zwar mit
Widrigkeiten verbundenen, letztlich aber um so profitableren
Tauschgeschäfts: Durch die Hingabe des irdischen Lebens kauft sich der
Märtyrer in die himmlische Seligkeit ein.
Diese schauerliche Rechnerei beflügelte nicht nur die
altkirchlichen Blutzeugen auf ihrem beschwerlichen Weg zu Gott. Sie
sollte sich vielmehr in späteren Zeiten zusätzlich als ein
vorzügliches Mittel erweisen, Politik zu betreiben.
Den Kreuzfahrern im Mittelalter wurde als Anreiz derselbe
himmlische Lohn in Aussicht gestellt wie den Söldnern im
Dreißigjährigen Krieg, ganz gleich, für welche Seite sie kämpften. Ja,
selbst heute hat dieses Kalkulieren vielerorts seine Zugkraft noch
nicht verloren: Wer für die gerechte Sache Gottes stirbt, dem wird er
es schon vergelten.
Im Mittelalter wird das Leiden endgültig Hauptmotiv christlicher
Frömmigkeit. Angefangen bei der noch vergleichsweise harmlosen
intellektuellen Passionsmystik des Kreuzzugspredigers Bernhard von
Clairvaux kommt es zu unterschiedlichen Ausgestaltungen des Schmerzes,
wie etwa der franziskanischen Leidensmystik, der Frauenmystik, der
Betrachtung der Wunden Jesu, der StiMmatisierung und den praktischen
Bußübungen.
Einen besonderen Stellenwert erhält die Frauenmystik, die teils
kontemplativ-intellektuell, teils praktisch gelebt, teils visionär,
teils spirituellerotisch, teils pathologisch-hysterisch in Erscheinung
trat. Diese Affinität zum Schmerz im religiösen Erleben war unter den
Frauen mitunter so stark, daß in zahlreichen Frauenklöstern ein Verbot
übertriebener Geißelungen ausgesprochen werden mußte.
Eine Betrachtung der Leiden und Schmerzen Christi in ihrer
Bedeutung für die christliche Religion wäre unvollständig, wenn nicht
auch der Rolle des Blutes Christi gedacht würde. Erinnert sei an die
Bluthymnen ("Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld",
"0 Haupt voll Blut und Wunden") von Paul Gerhardt (1607-76),
der seinen Glauben allein auf Jesus und sein Blut grundete und darin
viele Nachfolger bis in die heutige Zeit gefunden hat.
Solche Bluttheologie ergeht sich in Ubertreibungen des Wertes von
Jesu Blut, wenn etwa gesagt wird, ein Tropfen davon wiege die Sünden
der ganzen Welt auf. Hier, aber auch in den anderen christlichen
Deutungen des Leidens Christi wird die geschichtliche Gestalt Jesu von
Nazareth überfrachtet mit Theorien, die doch wohl nur dazu dienen, die
eigene Angst zu besänftigen und die persönliche Seligkeit im Himmel
sicherzustellen.
Systematisch betrachtet dient Schmerz
als Werkzeug von Religion - wenn ihm im Hinblick auf die
theologische Anthropologie eine dem Gesetz vergleichbare Aufgabe
zukommt. Durch den Schmerz erkennt der Mensch seine eigenen Grenzen
gegenüber Gott und hat die Möglichkeit zur Umkehr;
der Verherrlichung von Leiden - das wird besonders in der
Märtyrerliteratur deutlich. So läßt sich fragen, ob nicht letztlich
die Martyriumsberichte der christlichen Kirche und die klassische
Pornographie auf den gleichen psychologischen Grundlagen fußen. Denn
in beiden richten sich Blick und lebhaftes Interesse auf einzelne
Körperteile, die ihre Hülle bis auf Haut, Haare und Fleisch verloren
haben, und in beiden werden Schmerz und Lust mit
anatomisch-chirurgischer Akribie vorgeführt;
als Anfang und Auslöser von Religion - in der Negation einer
als feindlich empfundenen Welt. Diese Wertung kommt dadurch zustande,
daß die Welt als Schein- und Gegenwelt aufgefaßt wird, aus der es in
die eigentliche Wirklichkeit auszuziehen gilt.
Doch ebenso kann die Erfahrung des Schmerzes zum Ende von Religion
führen. Hier greift dann die Dramatik der Theodizee. Durch die
Realität des Schmerzes und des Leides sowie der Ungerechtigkeit auf
dieser Erde kommt es zu einer Infragestellung der religiösen Wahrheit
und der göttlichen Weltlenkung.
Am Ende hängt alles von der ebenso banalen wie ernsthaften Frage
ab, ob es jenen Gott überhaupt gibt, der seinen Sohn in diese Welt
gesandt hat, um sie und ihre Bewohner mit sich zu versöhnen, und ihn
anschließend von den Toten auferweckte.
Die Religionskritik, die Religionen als Projektion menschlicher
Wünsche zu verstehen lehrte, und die historisch-kritische Methode, die
jeden einzelnen Vers der Bibel als Menschenwort entlarvte, haben in
den letzten 200 Jahren die Wahrheit dieses Anspruchs so nachhaltig
erschüttert, daß er nicht mehr vertreten werden kann.
Die von der Kirche unverdrossen gepredigte neue Wirklichkeit des
Heils, angezeigt durch Jesu Erweckung aus dem Tode, ist ein Nichts, da
Jesus nie auferstanden ist. Entfällt aber so der entscheidende
Bezugspunkt für die christliche Leidens- und Schmerzenstheologie, kann
man sich nur von ihr verabschieden. Schmerz will erlitten und
schließlich durch Heilung oder Tod überwunden werden. Diese Erfahrung
haben Menschen millionenfach gemacht. Es ist das tragische, aber auch
verheißungsvolle Gesetz unseres Lebens, an dessen Ende zwar keine
Versetzung in den Himmel, wohl aber eine Einkehr in das Ganze steht.
Dr. Gerd Lüdemann, 52, ist Theologie-Professor in Göttingen und
Buchautor. Zuletzt erschienen: "Der große Betrug - und was Jesus
wirklich sagte und tat".