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Die Intoleranz des Evangeliums
Leseprobe aus Kapitel VII des Buches von Gerd Lüdemann: Die
Intoleranz des Evangeliums. Erläutert an ausgewählten Schriften des
Neuen Testaments, 2004, S. 214-220 (ohne Anmerkungen)
4. Warum die Kirche lügen muss
Die Kirche glaubt alles und nichts
Wer heute in der Evangelischen Kirche wissen will, was christlich
ist, der erhält ebenso viele verschiedene Antworten, wie er Theologen
befragt. Im Herbst 1998 wollte nach einer drei Jahre lang geführten
heftigen Debatte in der kirchlichen Öffentlichkeit die
württembergische Landessynode auf einer Klausurtagung ein klärendes
Wort über die Bedeutung des Kreuzestodes Christi - immerhin ein Punkt,
der im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht - für die Gemeinden
formulieren. Doch scheiterte das Vorhaben, weil nach Auskunft des
Vorsitzenden des Theologischen Ausschusses der Synode der
Minimalkonsens zu klein gewesen sei.
Dieses Beispiel scheint typisch für den Zustand der evangelischen
Landeskirchen der Gegenwart. Trotz ihrer Unfähigkeit, den heutigen
Glauben im Konsens zu formulieren, tragen sie gleichwohl weiter Bibel
und Bekenntnisse wie eine Monstranz vor sich her und lassen die
Gemeinde im Unklaren darüber, dass Jesus ganz anders war, als er in
den allsonntäglichen Predigttexten und Lesungen erscheint, und dass
die biblischen Erzählungen Alten und Neuen Testaments in der Regel gar
nichts mit dem wirklichen historischen Verlauf zu tun haben. Diese
Mischung aus geistiger Bequemlichkeit und Angst vor Entlarvung wird
Folgen haben. Einstweilen sieht es so aus, dass die Kirchen weiter ein
vitales Interesse an der Nicht-Aufklärung haben, und der auferstandene
Gottessohn bleibt die Leiche in ihrem Keller. Würde indes allgemein
bekannt, dass Jesus nicht wirklich, sondern nur als Phantasieprodukt
der Jünger auferstanden ist, wäre das Ende der Kirche gekommen. Ihre
leitenden Funktionäre vermeiden es, dieses Thema offen und öffentlich
zu erörtern, um die Machtstellung im Staate zu behalten, und empfehlen
sich lieber als Experten für das Gebiet der Werte einschließlich der
Toleranz.
Das Credo abschaffen?
Alle, die als Geistliche in den Dienst der Kirche treten wollen,
haben bei der Ordination ein Gelöbnis abzulegen. Es lautet in der
Kurzform: "Ich gelobe, das Evangelium von Jesus Christus zu
predigen, wie es in der Schrift gegeben und im Bekenntnis unserer
Kirche bezeugt ist." Zum Bekenntnis der Kirche zählen die
Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts, angefangen vom Apostolischen
Glaubensbekenntnis bis hin zur Konkordienformel aus dem Jahre 1577.
Die Schrift besteht aus dem Alten und dem Neuen Testament.
Als ich im Oktober 1995 in einem Interview unter dem Titel
"Jesus, der Sünder" es als scheinheilig bezeichnete, dass
die Geistlichen auf etwas ordiniert werden, was sie infolge ihres
wissenschaftlichen Studiums nicht mehr glauben können, verstand die
Kirchenleitung der evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers dies als
Diffamierung sowohl des ordinierenden Handelns der Kirche als auch der
Pfarrerschaft und lud mich ab sofort nicht mehr zur Ersten
Theologischen Prüfung ein. Dabei hatte ich nur auf die sicheren
Ergebnisse historischer Forschung und die sich daraus ergebenden
Konsequenzen verwiesen. Es ging im wesentlichen um folgende zehn
Erkenntnisse:
1) Die sogenannten messianischen Weissagungen des Alten Testaments
beziehen sich gar nicht auf Jesus.
2) Jesus wurde nicht von einer Jungfrau geboren.
3) Jesus wollte nicht für die Sünden der Welt sterben.
4) Jesus hat nach eigenem Verständnis Sünde getan. Sonst hätte er
sich nicht von Johannes dem Täufer zur Vergebung der Sünden taufen
lassen. Dann aber ist die dogmatische Lehre über die Sündlosigkeit
Jesu als Voraussetzung seines Sühnetodes "für uns"
abzuweisen.
5) Jesus hat das in Kürze anbrechende Reich Gottes erwartet,
gekommen ist die Kirche.
6) Die meisten Jesusworte sind Jesus erst nachträglich in den Mund
gelegt worden, unter anderem um Gegner aus den eigenen Reihen und
ungläubige Juden zu bekämpfen.
7) Der Antisemitismus hat Wurzeln im Neuen Testament; z.B.
schieben die vier Evangelisten den ungläubigen Juden ganz zu Unrecht
die Schuld am Tode Jesu in die Schuhe, und Paulus zufolge haben
"die Juden" sogar den Herrn getötet und sind allen Menschen
Feind.
8) Jesus hat keins der sieben Worte am Kreuz gesprochen.
9) Die "Auferstehung" Jesu beruht auf einer subjektiven
Vision und nicht auf der Auferweckung bzw. der Verwandlung eines
Leichnams zu einer neuen Körperlichkeit.
10) Fällt die Auferstehung Jesu aus, so ist zu folgern, dass
Gleiches für seine Wiederkunft am Ende der Welt gilt.
All diese Thesen stehen in direktem Gegensatz zu der Schrift und
den Bekenntnissen der Kirche. Da angehende Geistliche mit ihnen
während des Studiums vertraut gemacht werden, dürfte es vielen von
ihnen schwer fallen, sich wider besseres Wissen auf Schrift und
Bekenntnis ordinieren zu lassen. Aber was bleibt ihnen übrig, wenn sie
Anstellung und Brot nach so langer Vorbereitungszeit erlangen wollen?
Außerdem macht die Kirchenleitung es ihnen leicht. Sie fragt nie
wieder nach der Rechtgläubigkeit ihrer Diener und Dienerinnen, es sei
denn, diese erklären in der Öffentlichkeit unmissverständlich selbst,
dass sie nicht glauben, was im Bekenntnis der Kirche und in der
Schrift steht. Das tut fast niemand von ihnen mehr, und zwar aus gutem
Grunde.
Hartes Vorgehen gegen Pastor Paul Schulz
Ein Fall, wo das doch geschah, ist der des Hamburger Pastors Dr.
Paul Schulz. Im Laufe der Verhandlungen vor dem Spruchkollegium der
Vereinigten Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) in Hannover, bei
denen er - unbeeindruckt von den juristischen und theologischen
Experten des Kollegiums - auf seiner Kritik an Bibel und Bekenntnis
beharrte, forderte er den Senat für Lehrfragen der VELKD auf, die
verbindliche kirchliche Lehre zu einer Reihe zentraler Themenkreise
darzulegen: Gebet, Jungfrauengeburt, Auferstehung, Bibel, Zehn Gebote,
Endgericht, Weltentstehung, Leben nach dem Tode, Erbsünde. Erst wenn
festgestellt werde - so der Anwalt von Paul Schulz -, was verbindliche
kirchliche Lehrmeinung sei, könne man benennen, wo sein Mandant sich
von ihr entferne.
Der Vorsitzende des Spruchkollegiums bemerkte dazu, die Struktur
dieser Fragen "zerlegt den Glauben in eine Reihe von Werken und
verfälscht, wenn man sich auf diese Argumentationsbasis einlassen
wollte, den Glauben zu einem Werk oder zu einer ganzen Reihe von
Werken." Und ein juristisches Mitglied der Spruchkammer äußerte
die Auffassung: "An sich ist es ... nicht Aufgabe des
Lehrverfahrens ..., hier alles klarzulegen, sondern nur zu fragen, wo
sind entscheidende Punkte, wo Sie (Paul Schulz) von der herrschenden
Auffassung abweichen. ... Einen Grundriß der herrschenden Auffassungen
in der Theologie brauchen wir hier nicht zu liefern."
Die Sitzungen vor dem Spruchkollegium gerieten faktisch zur Farce.
Weder enthielten die einzelnen Verhandlungsgänge einen ernsthaften,
kritischen Dialog über die herrschenden theologischen Reflexionen,
noch wurden Schulz' Fragen ernst genommen. Dies sah offenbar auch
keiner der Beteiligten als nötig an. Zum einen klammerten sie sich an
die Bekenntnisse und den "magnus consensus" der Kirche, zum
anderen vermieden sie eine Nähe zum römischen Katholizismus und
blockierten beispielsweise jegliche Frage danach, ob die Spannung
zwischen der Verkündigung des historischen Jesus und der des
geglaubten Christus theologisch relevant sei. Schließlich verlor
Pastor Schulz wegen des Widerspruchs seiner Lehre zu Schrift und
Bekenntnis der Kirche, auf die er ordiniert worden war, seine
Anstellung, und zwar primär aus juristischen Gründen. Man beschritt
einen Weg, den doch der Vorsitzende des Spruchkollegiums mit folgenden
Worten als unprotestantisch bezeichnete: "(E)vangelisches
Verständnis rechter Verkündigung kann und darf nicht an einer
juridischen Orientierung von Satzwahrheiten gemessen werden."
Denn weil die nun einmal aus "Satzwahrheiten" - konkreten
Lehrinhalten - bestehende Verkündigung von Paul Schulz mit den
Lehrinhalten von Schrift und Bekenntnis nicht zur Deckung zu bringen
war, wurde er entlassen. Man muss es daher deutlich aussprechen: Die
Verhandlungen vor dem Spruchkollegium im Fall Paul Schulz waren eine
Bankrotterklärung der evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands mit
der Folge, dass "kein Mensch heute mehr sicher sein kann, ob denn
ein Pastor das, was er predigt, wirklich selber meint, oder ob er das
nur sagt, weil die Kirche ihn sonst belangen könnte."
Was Geistliche heute wirklich glauben
Gerade deswegen ist eine Umfrage, die auch Geistliche einschloss,
nach dem, was die Menschen heute wirklich glauben, von Interesse. Der
Berliner Professor für Praktische Theologie Klaus-Peter Jörns führte
sie durch. Hinsichtlich der Akzeptanz traditioneller Glaubenssätze
unter Geistlichen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg kam
die Studie zu folgendem Ergebnis:
Nur noch zwei Drittel der Geistlichen erkennt Jesus Christus das
Gottesprädikat zu.
Nur ein Drittel hält die Heilige Schrift noch für heilig.
43 Prozent glauben noch an die Allmacht Gottes.
An die zentrale biblisch-theologische Aussage der Erbsünde glauben
nur noch 13 Prozent der Befragten.
Mit einem Jüngsten Gericht rechnet nur noch ein Drittel.
Ich halte die Entwicklung, dass Geistliche sich vom Bekenntnis der
Kirche innerlich abwenden, nur für natürlich. Erst so schaffen sie in
intellektueller Wahrhaftigkeit die zum eigenen Überleben notwendige
innere Distanz zu einer antiken Religion, die über das 16. Jahrhundert
nicht hinausgekommen ist. Weniger begrüßenswert bleibt die Tatsache,
dass dieselben Geistlichen der Kirche als die verlängerten Arme einer
widerlegten Glaubensideologie dienen, denn sie sorgen in unzähligen
Sonntagsgottesdiensten und in "Kasualien" wie Taufe,
Konfirmation, Trauung und Beerdigung für deren Weiterverbreitung und
Stabilisierung.
Die Heuchelei des konfessionellen Religionsunterrichts
Eine die Kirche stützende Funktion erfüllen auch alle, die
Religion an Schulen lehren. Sie dürfen diesen Unterricht ja nur
erteilen, wenn sie einer Kirche angehören und von ihr die Vocatio
(Berufung) zur Erteilung von Religionsunterricht erhalten haben. Die
Rechtsbasis ergibt sich aus Art. 7.3.2 Grundgesetz, der einen
konfessionellen Religionsunterricht vorsieht, und zwar nach den
Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaften. Nach meiner
Kenntnis unterrichten die allermeisten Religionslehrer und
-lehrerinnen jedoch nicht nach den Grundsätzen der Kirchen. Innerhalb
des Zirkels der religionspädagogischen Institute herrscht zudem eine
Liberalität und Offenheit, die bis zur scharfen Kirchenkritik reicht.
Ihre Vertreter haben sich schon längst von der dogmatischen Welt des
kirchlichen Bekenntnisses gelöst und sprechen oft von Symbolen der
Bibel, um zwischen der biblischen Welt von damals und der Welt von
heute zu vermitteln. Es liegt auf der Hand, dass die so verwendeten
Symbole der Bibel wenig mit dem Bekenntnis zu Jesus dem Weltenherrn
oder mit der Erwartung seiner Wiederkunft zum Gericht zu tun haben.
Entsteht dann doch einmal ein Konflikt wie in meinem Fall, wo die
Universitätsleitung auf Drängen der Kirche Lehrveranstaltungen nicht
mehr als examensrelevant für künftige Gymnasiallehrer erklärt, kommt
von der Seite der Religionspädagogen nur wenig Protest, obwohl meine
Veröffentlichungen bereits Teile von religionspädagogischen
Lehrbüchern geworden sind.
Die Heuchelei einer doppelten Wahrheit
Der konfessionelle Religionsunterricht und die konfessionelle
Verkündigung folgen offenbar einer doppelten Wahrheit: erstens der
Wahrheit des kirchlichen Bekenntnisses, die spätestens im Konfliktfall
gilt; zweitens der wissenschaftlichen Wahrheit, die dort, wo kein
Konfliktfall vorliegt, vermittelt wird. Beide aber sind, wie oben
gezeigt wurde, schwerlich miteinander zu versöhnen. Ich kann nicht mit
dem Herzen glauben, wozu der Verstand nein sagt. Es gibt wohl nur ein
Entweder-Oder zwischen christlichem Dogmatismus, welcher der
Intoleranz des Evangeliums verpflichtet ist und sein muss, und dem
sich ständig erweiternden Wissen, das die Relativität und den Wert
jeglichen Wahrheitsstrebens betonen und darauf verzichten wird, eine
bestimmte Weltanschauung als allein selig machend zu erklären. Diese
Alternative hatte bereits Lessing erkannt und benannt. Seine sicher
nicht aus dem Geist der Bibel gesprochenen Ausführungen darüber, warum
das ewige Suchen dem Finden der absoluten Wahrheit vorzuziehen sei,
sollen mein Buch abschließen:
Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu
sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat,
hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht
durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit
erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende
Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. -
Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den
einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze,
mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir:
"Wähle!", ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte:
"Vater gib!, die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich
allein!"