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Die gröbste Fälschung des Neuen Testaments
Gerd Lüdemann: Rezension zu Werner Raupp: Denis Diderot Ð Weiß man
je, wohin man geht? Ein Lesebuch. Herausgegeben von Werner Raupp,
Diderot Verlag, Rottenburg/N. 20092 (2008), 480 S., 55 Abb., Vorwort:
Peter Prange, 27,90 Euro, ISBN: 978-3-936088-95-3 in: Universitas.
Orientierung in der Wissenschaft 65 (2010), Nr. 767, S. 532-534; -
dass. (leicht veränderte Fassung) auch in: Mitteilungen der
Humanistischen Union e.V., Nr. 211 (Dez. 2010)
Mit dieser Anthologie über die "bunte Gedankenwelt" (S.
18) des berühmten französischen Aufklärers und Enzyklopädisten
eröffnet der Tübinger Philosophiehistoriker und FH-Dozent Werner Raupp
seine populärwissenschaftliche Reihe "Humanismus Ð neu
entdeckt", die primär eine ethische wie ökophile Intention
besitzt (vgl. Vorwort, S. 17-20). Der mit eindrucksvollen
Illustrationen (bes. Stichen) geschmückte Band schildert zunächst
kompakt die bekannten Eckdaten von Diderots Leben und Werk, der als
Prototyp der Moderne seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus war
(Einführung, S. 21-70).
Dabei sucht der Herausgeber durchaus geistesgeschichtliche Linien
zu ziehen, besonders im kunsthistorischen (S. 37-42) wie im
philosophischen Abschnitt (S. 56-61). In letzterem zeigt er Diderots
Denkweg auf, der vom Theismus über den Skeptizismus und Deismus hin zu
einem materialistisch-monistischen Weltbild führt: zu "einem
vitalistischen resp. hylozoistischen Materialismus und
Pantheismus" (S. 56). Resümierend meint er schließlich zu Recht,
dass sich in Diderots "imposanten OEuvre [...] in besonderer
Weise sein ästhetisches Modell einer kohärenten mannigfaltigen
Einheit" Ausdruck verschaffe (S. 69).
Der Hauptteil (S. 71-434), der auch mehrfach Zeitgenossen des
Aufklärers zu Wort kommen lässt, gliedert sich in acht Kapitel. Zu
deren Übersetzern zählen neben dem Herausgeber und der Tübinger
Romanistin, Iris Raupp, u. a. Lessing, Goethe und der Diderot-Kenner
Hans Magnus Enzensberger. Der Textteil beginnt mit amüsanten Beiträgen
über Diderots durchaus abenteuerliche Vita und bringt neben Schiller
u. a. Rousseaus "Bekenntnisse" wie auch eine polizeiliche
Aktennotiz anlässlich seiner Verhaftung zu Gehör (Kp. 1).
Sodann folgen Texte aus der epochalen Enzyklopädie (28 Bde.,
1751-1772), die von "Amerika" über "Geschichte"
(von Voltaire verfasst) und "Glück" bis zu "Liebe der
Geschlechter" und "Zölibat" reichen. Angefügt sind
Briefe, die den heftigen Streit um das von Kirche und Staat
unterdrückte Monumentalwerk belegen. Noch wichtiger als jene ist
jedoch Jean le Rond dÕAlemberts berühmte Einleitung ("Discours
préliminaire"), die nachdrücklich für die empiristische Methode
eintritt (Kp. 2). Das ausführliche 3. Kapitel behandelt in drei
Abschnitten die Kunst: u. a. die moderne Abhandlung über das
"Paradox des Schauspielers" (1773-1778), die auch noch Bert
Brecht beeinflusste ("Theater"); die plauderhaften Salons
(1759-1781), Berichte über die im Louvre stattfindenden Ausstellungen
("Bildende Kunst"); Äußerungen zur weniger bekannten
Musiktheorie und zum heftigen "Buffonistenstreit" (1752-54)
("Musik").
Ebenfalls recht ausführlich ist das folgende Kapitel 4, das
Ausschnitte aus den Romanen bietet: die bis ins 20. Jahrhundert als
skandalös angesehene (erotische) Kloster-Satire "Die Nonne"
(1760) sowie die dialogischen Stücke "Rameaus Neffe"
(1761/62) - in der leicht redigierten Übersetzung Goethes (1805) - und
"Jacques, der Fatalist" (1773-75). Mit diesen Erzählungen
hat sich der Aufklärer in die Weltliteratur eingeschrieben. Er sucht
darin, zuweilen in pikaresker Weise, der Frage nach gelingender
Lebensorientierung nachzuspüren. Humorvoll ist schließlich die
Erzählung vom "alten Hausrock", den Hans Magnus Enzensberger
übersetzte.
Dann folgen die philosophischen Texte (Kp. 5): hervorgehoben seien
die aphoristischen "Philosophischen Gedanken" (1746), die
das intolerante Christentum mit seinen "Höllenstrafen"
kritisieren, und die materialistische Poesie vom "Traum
dÕAlemberts" (1769), die den Menschen als Kind der unendlichen
Evolution ansieht, verankert in der "großen Kette" des
Lebens (vgl. dazu auch S. 59). Wohl keineswegs verkehrt wäre es
gewesen, in diesem Kapitel noch den sprachphilosophischen Traktat
"Brief über die Taubstummen" (1751) mit aufzunehmen, der
jedoch im musiktheoretischen Teil (Kp. 3) konzise bedacht wird.
Etwas kürzer gehalten ist das 6. Kapitel, das den Polygraphen als
markanten Wegbereiter der Demokratie und Kritiker des Kolonialismus
vorstellt: nicht zuletzt in den "Beobachtungen über den âNakazÕ
der Zarin Katharina II." (1774), eine von mehreren deutschen
Erstübersetzungen. Der vorletzte Teil bietet sodann 21 zum Teil recht
lebhafte Briefe Diderots, u. a. an Voltaire, David Hume und Katharina
d. Gr. sowie an die kongeniale Geliebte, Sophie Volland. Das 8.
Kapitel betrachtet schließlich den Aufklärer "im Spiegel seiner
Zeitgenossen und der Nachwelt", wobei der Herausgeber eine
illustre Schar von Köpfen versammelt hat: von Lessing (1751) über
Ludwig Börne (1831) bis zu Enzensberger (1994).
Den Schlussteil (S. 435-480) bilden neben einer allerdings etwas
kurz geratenen Bibliographie ein ausführliches Quellenregister sowie
eine Diderot-Chronik und ein Namen-Glossar, das die historischen
Bezüge erhellt. Insgesamt ist die Auswahl und die Aufbreitung der
Texte vorzüglich gelungen Ð und so stellt die schön aufgemachte
Anthologie eine geglückte Einladung zur Lektüre des Diderotschen
Oeuvre dar, das im deutsprachigen Raum immer noch viel zu wenig
bekannt ist.
Gerd Lüdemann