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Veröffentlichungen 1994
"Können wir noch Christen sein?"
Ist Jesus auferstanden, wie es in der Bibel steht und seit
nahezu zwei Jahrtausenden gelehrt, gepredigt und geglaubt wird? Ein
Göttinger Theologe hat das seit langem kritischste Buch über die
Auferstehung geschrieben. Demnach blieb Jesus im Grabe, am
"dritten Tag ist nichts geschehen, die Jünger hatten nur
Visionen.
Gelesen hatte das Buch noch niemand, aber empört oder erschrocken
waren schon viele.
Der Wiener Kardinal König sprach von "Unsinn". Auch
Theologieprofessoren fällten Vorurteile: "Wissenschaftlich
wertlos", "pure Phantasie" und "durchaus nichts
Neues".
Clara Fulfs aus dem niedersächsischen Cuxhaven "bekam ein
tiefes Erschrecken, es raubte mir die Nachtruhe". Denn:
"Wenn die Auferstehung Jesu als erledigt zu betrachten ist,
bleibt keine Hoffnung mehr zum Glauben, ist das Fundament zum Leben
genommen. Hunderte griffen zur Feder, weil dem Buch "Die
Auferstehung Jesu" des Göttinger Theologieprofessors Gerd
Lüdemann, 47, Pressemeldungen seiner Universität und einiger
Nachrichtendienste vorauseilten und in vielen Zeitungen und
Kirchenblättern gedruckt wurden. "Fällt Ostern aus?" fragte
das evangelische Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt, einen
"Skandal im göttlichen Sperrbezirk" meldete die taz. Die
Erkenntnisse Lüdemanns, vorab in Stichworten und Schlagzeilen
verbreitet: Das Grab Jesu war nicht leer. Jesus ist nicht leiblich
auferstanden. Die Jünger hatten lediglich Visionen.
Entschieden widersprach der Tübinger Pfarrer Rolf HilIe, der im
Vorstand der Deutschen Evangelischen Allianz sitzt, einer Vereinigung
konservativer Christen: Die Auferstehung gehöre zu den
"historisch am besten belegten Ereignissen der Antike".
Ansichten wie dieser Professor Lüdemann würden auch
"unwissenschaftliche Leute wie Zeugen Jehovas, Mormonen und
islamische Mullahs" vertreten, empörte sich die Göttingerin
Marlene Berkenbusch.
Zwei Geistliche verschickten postwendend ihr eigenes Bekenntnis
zum Auferstandenen.
Pastor Arne Spießwinkel aus dem mecklenburgischen Kirch
Baggendorf: "Ich kann nicht beweisen, daß Jesus auferstanden ist,
so wenig wie ich beweisen kann, daß meine Frau mich liebt. Aber ich
weiß aus meiner Erfahrung und dem täglichen Leben mit ihm, daß er
wahrhaftig auferstanden ist, so wie ich erlebe, daß meine Frau mich
liebt."
Und Andreas Lindemann, Theologieprofessor an der Kirchlichen
Hochschule Bethel in Bielefeld: "Ich würde auch dann glauben und
bekennen, daß Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, wenn die
Überreste von Jesu Leichnam in Jerusalem ausgegraben und zweifelsfrei
identifiziert würden.
Einige ließen es nicht beim Protest bewenden. Der e. V.
"Freundeskreis Kirche und geistliches Leben", Sitz
Königswinter, alarmierte die Leitung der rheinischen Landeskirche: Es
sei "eine juristische Frage, was geschehen kann". Die Kirche
dürfe nicht "gleichgültig und tatenlos" hinnehmen, daß ein
Theologieprofessor bestreite, was im Apostolischen Glaubensbekenntnis
stehe.
Schon gehandelt hat Arndt Ruprecht, Geschäftsführer des Göttinger
Verlages Vandenhoeck & Ruprecht. Er trennte sich von dem Buch,
noch bevor es in den Handel kam. Der Verlag verkauft nur noch die
schon gedruckten Exemplare und stellte es dem Autor frei, sich für
eine etwaige zweite Auflage einen anderen Verlag zu suchen.
Ruprecht brüskierte einen seiner renommierten Autoren. Lüdemann
hat sich in der Fachwelt einen Namen gemacht: mit einem zweibändigen
Werk über "Paulus, den Heidenapostel" sowie mit Büchern über
"das frühe Christentum" und über die Schriften des
katholischen Theologen Eugen Drewermann, mit dem er sich kritischer
und kundiger auseinandersetzte als irgendein anderer evangelischer
Theologe (Titel: "Texte und Träume"). Einige Jahre hat
Lüdemann in Kanada und in den USA gelehrt, seit 1983 ist er Professor
für Neues Testament in Göttingen, 1992/94 nebenher Gastprofessor an
der Vanderbilt University im US-Bundesstaat Tennessee. Dieser Tage hat
er einen Ruf an die Universität Bonn abgelehnt.
Während er an dem Auferstehungsbuch arbeitete, erörterte er seine
Erkenntnisse bei Gastvorlesungen an den Universitäten Lausanne,
Chicago und Kopenhagen. Soviel Aufregung wie um Lüdemanns Buch schon
vor seinem Erscheinen hat es seit Rudolf Augsteins "Jesus
Menschensohn" im Jahre 1972 unter den deutschen Christen um kein
Werk gegeben, auch wenn es monatelang auf der Bestsellerliste stand.
Lediglich der Streit um Drewermann tobte heftiger, allerdings
vornehmlich in der katholischen Kirche. Es blieb auf evangelischer
Seite sogar relativ ruhig, als der Paderborner Theologe im Dezember
1991 in einem SPiEGEL-Gespräch dem zustimmte, was der evangelische
Theologe Rudolf Bultmann einst wider die leibliche Auferstehung Jesu
gesagt hatte: "Ein Leichnam kann nicht wieder lebendig werden und
aus dem Grabe steigen."
Bultmanns berühmt-berüchtigtes Wort wurde in einer bundesweiten
Auseinandersetzung um den rechten Glauben viel zitiert, die im Jahre
1966 ihren Höhepunkt erreichte. Im März jenes Jahres bliesen in der
Dortmunder Westfalenhalle 1000 Posaunen zum Kampf gegen Bultmann und
andere moderne Theologen, und 22000 Gläubige sangen und beteten dort
unter den Losungen "Der Herr ist auferstanden" und "Er
ist wahrhaftig auferstanden". Zwar glaubt mittlerweile nur noch
jeder dritte Deutsche an die Auferstehung so, wie sie in der Bibel
berichtet wird, und unter den jüngeren lediglich noch jeder fünfte.
Aber die meisten Protestanten haben aus dem Konfirmanden- und
Religionsunterricht einigermaßen in Erinnerung, worum es geht, und
Katholiken sind sogar noch besser im Bilde:
Laut Neuem Testament hat Jesus am dritten Tag sein Grab verlassen
und ist auferstanden. Er ist Frauen und Jüngern erschienen, zuletzt
bei Damaskus dem Christenverfolger Saulus, der daraufhin zum Christen
und zum Apostel Paulus wurde. Der Auferstandene ist mit zwei Jüngern
von Jerusalem nach Emmaus gewandert. Er hat mit weiteren Jüngern
gesprochen und gegessen, ist durch eine geschlossene Tür gegangen, hat
dem ungläubigen Jünger Thomas die Wunden der Kreuzigung gezeigt und
ist nach 40 Erdentagen aufgefahren gen Himmel.
Kein anderes Wort des Apostels Paulus wird seit nahezu zweitausend
Jahren so oft wiederholt und bekräftigt wie eine Stelle in seinem
ersten Brief, den er den Korinthern schrieb: "Ist aber Christus
nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer
Glaube vergeblich."
Vieles andere, was einst als Glaubenswahrheit galt, ist
klammheimlich aufgegeben worden. Es gibt auch unter Kirchgängern und
Theologen kaum noch Streit darüber, ob Jesus von einer Jungfrau
geboren wurde, ob er Tote auferweckt und über Wasser gewandelt ist.
Und auch die Himmelfahrt verteidigt im Zeitalter der Raketen kaum noch
jemand. Nur der Papst und seine Bischöfe führen die letzten Gefechte
um dieses antiquierte Glaubensgut, und manch Kritiker meint, daß
etliche Bischöfe dies lediglich des frommen Scheins wegen tun.
"Bei der Auferstehung aber", so stellte der
Theologieprofessor Ingo Broer (Gesamthochschule Siegen) fest,
"wird der historischen Kritik kein Pardon gewährt. Die
Auferstehung soll, muß und kann - wenigstens nach Meinung vieler
Theologen - das leisten, was früher die Evangelien insgesamt
leisteten: dem Glauben einen Grund geben."
Nun wird auch das noch durch das seit langem kritischste Buch über
die Auferstehung in Frage gestellt. Und es ist nicht mal mehr sicher,
daß sich alle Theologen, konservative und moderne, wenigstens in einem
Punkt einig bleiben: daß es einen "historischen Kern" der
Osterereignisse gibt.
Oft wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die Jünger
nach der Gefangennahme Jesu ihren Herrn verlassen hätten und
geflüchtet seien, daß sich aber gleichwohl bald nach dem Tode Jesu
eine Gemeinde von Christen gebildet habe.
Populär geworden ist die Argumentation des Neutestamentlers Martin
Dibelius: "Es muß also etwas eingetreten sein, was binnen kurzem
nicht nur einen völligen Umschlag ihrer Stimmung hervorrief, sondern
sie auch zu neuer Aktivität und zur Gründung der Gemeinde befähigte.
Dieses 'Etwas' ist der historische Kern des Osterglaubens."
Über dieses "Etwas" gibt es fast so viele Meinungen wie
Theologen, die sich dazu äußern. Aber immerhin braucht man nur bis
drei zu zählen, um einen konservativen von einem moderaten Theologen,
diesen wiederum von einem modernen zu unterscheiden.
Für den konservativen sind drei Männer von Jerusalem nach Emmaus
gewandert, wie es in der Bibel steht: zwei Jünger und der
auferstandene Jesus ("Da nahte sich Jesus selbst und ging mit
ihnen").
Für den moderaten waren es zwei - die beiden Jünger, die eine
Vision hatten.
Für den modernen ist niemand gewandert, weil er den ganzen Bericht
für eine Legende hält.
Und auch die Frage, ob Jesus das Grab verlassen hat, treibt die
Theologen in drei Richtungen auseinander.
"Es gibt keine Osterbotschaft ohne die Nachricht vom leeren
Grab", behauptet der Erlanger Theologieprofessor Walter Künneth,
der einst in der Westfalenhalle wider die Ketzer unter seinen Kollegen
predigte und dessen "Theologie der Auferstehung" in 6.
Auflage erschienen ist.
"Dieses Grab mag bewiesen werden als endgültig verschlossen
oder als offenes Grab, es bleibt sich wirklich gleich", befand
Karl Barth, wie Bultmann einer der Großen der evangelischen Theologie.
Und wie vor ihm Bultmann ist nun auch der Göttinger Lüdemann
sicher, daß Jesus im Grabe geblieben ist. Der Satz, den seine Gegner
herauspicken und herumzeigen werden, steht auf Seite 216 des Buches,
wo es um den Leichnam Jesu geht. "Ist er verwest?" fragt
Lüdemann dort und antwortet: "Ich halte diesen Schluß für
unumgänglich." Das ist das Gegenteil dessen, was in der Bibel
steht: "Sein Leib hat die Verwesung nicht gesehen"
(Apostelgeschichte, Kapitel 2, Vers 31).
Es gibt etliche weitere Stellen in Lüdemanns Buch, wo diejenigen
fündig werden, die sich empören wollen. Beispiele:
"Wo ist er denn geblieben?" zitiert Lüdemann aus einem
vor 30 Jahren erschienenen Buch, und die Frage ist aktueller denn je.
Sie richtet sich an jene Theologen, die Jesus weiterhin aus dem Grabe
steigen, ihn aber nicht mehr gen Himmel fahren lassen. Ostern wird
laut Lüdemann an einem fiktiven Datum gefeiert: Jesus sei am dritten
Tage schon deshalb nicht auferstanden und den Jüngern in Galiläa
erschienen, weil diese die etwa 90 Kilometer lange Strecke von
Jerusalem dorthin nicht vom Freitag bis Sonntag zurückgelegt haben
können - zumal "dazwischen der Sabbat lag, an dem sie kaum
gewandert sein dürften".
Wie alle Autoren theologischer Bücher kam auch Lüdemann nicht
umhin, mehr Altes zu wiederholen als Neues zu schreiben. Anders kann
es auch nicht sein. In zwei Jahrtausenden sind über jede halbwegs
wichtige Bibelstelle Bibliotheken zusammengeschrieben worden, und in
den beiden Jahrhunderten seit der Aufklärung ist jede kritische These
dutzendfach verfochten worden.
Das gilt auch für die extremsten: daß Jesus gar nicht gelebt hat
oder daß er nicht am Kreuz gestorben ist, wie als bislang letzter der
TV-Journalist Franz Alt in seinem 1989 erschienenen Bestseller
"Jesus - der erste neue Mann" behauptet hat. Alt berief sich
für seine These, Jesus habe die Kreuzigung scheintot überlebt, auf
einen anderen Autor: Karl Herbst, 77. Der hat inzwischen weitere
Erkenntnisse gewonnen und in einem 1992 erschienenen Buch
("Kriminalfall Golgatha") Jesus über die Seidenstraße gen
China ziehen lassen.
48 Mark verlangt das Gütersloher Verlagshaus für einen 1993
erschienenen Schmarren der australischen Theologin Barbara Thiering
("Jesus von Qumran"), die Jesus mit über 70 Jahren "in
Rom an Altersschwäche" sterben läßt.
Solchen abstrusen Geschichten widmet Lüdemann allenfalls
Nebensätze in den 713 Fußnoten, mit denen die 222 Textseiten seines
Buches übersät sind. Er setzt sich mit zwei Dutzend theologischen
Werken auseinander und macht es seinen Lesern nicht leicht. Zwar hofft
er im Vorwort, daß auch Nicht-Theologen dazu gehören, aber es ist dann
doch ein fachgelehrtes Buch geworden. Es wimmelt von Verweisen auf
Bibelstellen, die man entweder im Kopf haben oder einzeln nachschlagen
muß, und oft wird Wissen vorausgesetzt, das auch dem einen oder
anderen Pfarrer fehlt.
Aber es lohnt die Mühe, sich durch das Buch zu kämpfen. Lüdemann
hat es so geschrieben, wie Theodor Mommsen es von Historikern verlangt
hat: "Rücksichtslos ehrlich, keinem Zweifel ausbiegend, keine
Lücke der Überlieferung oder des eigenen Wissens übertünchend."
Der Leser nimmt teil an der Arbeit eines Exegeten, der ähnlich wie
ein Detektiv tätig ist. Er geht spärlichen Spuren nach, erschließt
sich Quellen, bewertet Motive, stellt Aussagen gegenüber und prüft
deren Glaubwürdigkeit. Oft hilft ihm nur die Logik, Lücken zu
schließen und über Widersprüche der Zeugen und Autoren hinwegzukommen.
Das ist für die meisten Protestanten und Katholiken eine fremde
Welt, weil sie von der Arbeit moderner Theologen nichts wissen und oft
auch nichts wissen wollen.
Noch immer herrscht im Kirchenvolk die Meinung vor, das Neue
Testament - 4 Evangelien, 21 Briefe, die Apostelgeschichte und die
Apokalypse ("Offenbarung des Johannes") - sei von Aposteln
geschrieben worden, also von Zeitgenossen und Wegbegleitern Jesu, oder
zumindest von deren Schülern. Teils steht es so in der Bibel, teils
will es eine Überlieferung so, die fast so alt ist wie das Neue
Testament.
Aber es ist umgekehrt: Kein einziger Autor der Bibel hat Jesus
gekannt. Und nur ein einziger war ein Apostel - Paulus, der erst zwei
bis drei Jahre nach der Kreuzigung Christ wurde. Seine Briefe sind die
ältesten Texte des Neuen Testaments, geschrieben hat er sie etwa 20
bis 23 Jahre nach dem Tode Jesu. Aber nicht alle Briefe, die ihm
zugeschrieben werden, stammen wirklich von ihm.
Weitaus die meisten Texte des Neuen Testaments sind von Christen
der zweiten, der dritten oder sogar erst der vierten Generation
geschrieben worden. Das älteste Evangelium (des Markus) wurde etwa 40
Jahre, das zeitlich letzte (des Johannes) sogar erst etwa 70 Jahre
nach dem Tode Jesu verfaßt.
Fast alle Neutestamentler sind sich darüber einig, daß Matthäus
und Lukas vornehmlich aus zwei Quellen schöpften: dem
Markus-Evangelium und der sogenannten Quelle "Q", einer
Sammlung von Sprüchen, die nicht erhalten geblieben ist. Sie haben
Markus und "Q" redigiert und mit eigenen Texten ergänzt. In
den drei Evangelien stimmt deshalb vieles überein, zum Teil sogar
wörtlich, während sich der Autor des letzten, des
Johannes-Evangeliums, viel mehr Freiheit nahm.
Die vier Evangelien sind ein spätes Stadium der Uberlieferung, die
schon bald nach dem Tode Jesu begann. Zunächst wurden im wesentlichen
nur einzelne Sprüche und Taten Jesu weitererzählt. Die Evangelisten
haben sie in diverse "Rahmen" gestellt. Angaben wie
"Und es begab sich ...", "Am Abend ..." oder
"Auf einem Berg ..." sind zumeist redaktionelle Einschübe.
Sogar die Bergpredigt, oft verfilmt und in Schulbüchern geschildert,
hat nicht stattgefunden. Evangelist Matthäus zog lediglich Sprüche
zusammen und schrieb eine Handlung drum herum.
Die Exegeten lösen die einzelnen Stücke aus den künstlichen Rahmen
und können aufgrund inhaltlicher Merkmale deren Alter oft ziemlich
genau feststellen. Sie sind immer auch auf der Suche nach dem
"Sitz im Leben" und versuchen zu klären, aus welchem Grund
eine Erzählung entstand und warum sie in das jeweilige Evangelium
aufgenommen wurde. Denn den Bibel-Autoren ging es nicht darum,
sozusagen wertfrei das Leben Jesu zu schildern. Sie wollten den
Glauben wecken und fördern.
Kein anderer Teil des Neuen Testaments stellt die Exegeten vor
soviele Probleme wie die "Osterberichte" über das
"Ostergeschehen". Unendlich viel ist geschrieben worden, um
diese Texte theologisch zu deuten, ziemlich wenig, um sie auf ihren
geschichtlichen Wert zu überprüfen.
Lüdemann bedauert, daß seine Fachkollegen "in wachsendem Maße
die Auferstehung Jesu der wissenschaftlichen Rückfrage entziehen
wollen". Als einen von vielen, die dies versuchen, zitiert er den
Frankfurter Professor Hans Kessler; der zählt die Auferstehung zu dem
"Wirklichen und wirklich Geschehenen, das nicht objektivierbar
und historisch verifizierbar ist".
Der Göttinger Exeget hält auch den Einwand für fadenscheinig, zu
den Ostergeschichten fänden Historiker keinen Zugang, weil Bericht und
Bekenntnis, Erzählung und Deutung untrennbar miteinander verbunden
seien: "Das trifft auf alle Texte zu, mit denen die
Geschichtswissenschaft umgeht."
Ganz allgemein gilt für alle biblischen Texte über die Ereignisse
nach dem Tod Jesu: Je später sie verfaßt wurden, desto anschaulicher
und genauer schildern sie das Ostergeschehen.
Das ist nicht etwa darauf zurückzuführen, daß im Laufe der Zeit
Berichte von Augen- und Ohrenzeugen entdeckt worden wären.
Vielmehr wucherte die Legende. Das Verdienst Lüdemanns ist es,
diese Entwicklung so sorgfältig erforscht zu haben wie vor ihm nur
zwei Theologen, deren Bücher ebenfalls bei Vandenhoeck & Ruprecht
erschienen sind:
Der Marburger Bultmann (1884 bis 1976), der mit seiner
"Geschichte der synoptischen Tradition" ein Jahrhundertwerk
schuf. Noch heute wird es in der Fassung von 1931 gedruckt,
mittlerweile in der 9. Auflage, nur mit Beiheften aktualisiert.
Und Hans Graß, 85, ebenfalls Theologieprofessor in Marburg, der
1956 ein Standardwerk über "Ostergeschehen und
Osterberichte" schrieb.
Der Verbleib des Leichnams Jesu ist das erste Thema, dessen sich
die drei Spezialisten jeweils im Abstand von einigen Jahrzehnten
annahmen.
Die Jünger waren geflüchtet und konnten Jesus nicht bestattet
haben. Maria Magdalena und einige andere Frauen, die Jesus in Galiläa
begleitet hatten, sahen zwar "von Ferne" die Kreuzigung,
aber kein Evangelist behauptet, daß sie Jesus begraben hätten.
Nach allen vier Evangelien tat dies ein Jude namens Joseph aus
Arimatäa, einem Ort nahe Jerusalem. Von Evangelium zu Evangelium
verschönt sich sein Bild. Bei Markus ist er ein "angesehener
Ratsherr", also ein Mitglied jenes Hohen Rates, der Jesus der
Gotteslästerung für schuldig befunden und dem römischen Statthalter
Pontius Pilatus übergeben hatte.
Bei Lukas ist er zwar immer noch Ratsherr, aber schon "ein
guter und gerechter Mann", der an dem Urteil gegen Jesus nicht
beteiligt war. Bei Matthäus und Johannes ist er ein "Jünger
Jesu". Lüdemann: "Aus dem Feind ist ein Freund
geworden." Das Motiv: "Den Christen war es peinlich, daß
Gegner und nicht die Ihrigen den Herrn bestattet hatten."
Und auch das Grab entspricht immer mehr der Würde des teuren
Toten. Bei Markus ist es nur ein "Grab", bei Matthäus ein
"neues Grab", bei Lukas ein "Grab, in dem noch niemand
gelegen hatte", und bei Johannes überdies ein Grab "im
Garten", was nach jüdischer Tradition eine besondere Ehre
bedeutet. Eine typische Stelle im Alten Testament: "... und legte
sich zu seinen Vätern und wurde begraben im Garten an seinem
Hause."
Lüdemann: "Die Berichte werden immer legendärer, weil der
Gedanke, Jesus sei unehrenhaft verscharrt worden, immer mehr verdrängt
werden sollte." Daß sich das Grab dort befindet, wo es angeblich
im Jahre 326 entdeckt wurde und noch heute Touristen gezeigt wird,
behauptet kein ernstzunehmender Theologe.
Lüdemann ist sogar davon überzeugt, daß die Jünger nicht wußten,
wo Jesus beigesetzt worden war. Das ist allerdings nur ein Schluß aus
dem Schweigen der Quellen: "Bei einer Kenntnis des Grabes Jesu
hätten die frühen Christen es verehrt, und darüber wären Traditionen
erhalten geblieben."
Der Göttinger Neutestamentler prüfte trotzdem alle
Grab-Geschichten auf etwaige historische Spuren. Dieser Aufgabe haben
sich vor ihm relativ wenige unterzogen. Konservative Theologen halten
sich aus frommer Scheu zurück, moderne Theologen sind sich in ihrem
negativen Urteil von vornherein sicher, und Historiker zieht dieser
Stoff nicht an, weil zu den handelnden Figuren auch Engel und andere
überirdische Gestalten gehören.
Überdies sind die Grab-Recherchen ein besonders schwieriges
Unterfangen, weil kaum ein Text zum anderen paßt. Aber es sind
immerhin auch hier deutliche Trends auszumachen.
Nach den drei älteren Evangelien finden Frauen das Grab leer, und
sie werden von einem Engel beauftragt, die Jünger zu benachrichtigen.
Aber bei Markus "sagen sie niemand etwas", nur bei Matthäus
und Lukas überbringen sie die Botschaft, sie hätten das Grab, aber
nicht Jesus gefunden.
Lüdemann: "Markus läßt die Frauen schweigen, weil die
Geschichte vom leeren Grab erst spät aufgekommen war und damals noch
nicht erzählt wurde, wie sich die Jünger daraufhin verhalten haben.
Markus und Matthäus bringen die Jünger noch nicht mit dem Grab in
Verbindung. Lukas bietet zwei Versionen hintereinander. Erst glauben
die Jünger den Frauen nicht ("Und es erschienen ihnen diese
Worte, als wären's Märchen"), dann gehen "etliche" doch
zum Grab "und fanden's so, wie die Frauen sagten". Erst im
letzten, dem Johannes-Evangelium, wird die Geschichte knapp und klar
erzählt. Maria Magdalena "läuft", ohne daß es des Auftrags
eines Engels bedarf, zu den Jüngern, und die beiden wichtigsten
begeben sich zum Grab: Petrus und "der Jünger, den Jesus
liebhatte". Das wird wie ein sportliches Ereignis geschildert:
"Es liefen aber die zwei miteinander, und der andere Jünger lief
voraus, schneller als Petrus, und kam zuerst zum Grabe."
Lüdemann: "Er war schneller, nicht weil er besser laufen
konnte, sondern weil er nach der Theologie des Johannes-Evangeliums
Jesus näher stand als Petrus." Nicht nur die Jünger, auch Jesus
wird immer stärker mit dem Grab in Verbindung gebracht. Bei Markus und
bei Lukas melden Engel die Auferstehung, bei Matthäus und Johannes
erscheint Jesus selbst.
Buchautor Lüdemann ist sicher, daß die Erscheinungs-Geschichten
älter sind als die Grab-Geschichten, daß beide zunächst unabhängig
voneinander erzählt und erst relativ spät miteinander verbunden
wurden, "um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen".
Stark geprägt sind die Texte auch von apologetischen Tendenzen.
Jüdische Gegner reagierten auf die Behauptung der Christen, Jesus sei
auferstanden und habe sein Grab verlassen, mit einem Gerücht: Die
Jünger hätten den Leichnam beiseite geschafft.
Diese Version gelangte sogar in die Bibel, eingekleidet in eine
Erzählung im Matthäus-Evangelium: Die Hohenpriester verlangen von
Pilatus die Bewachung des Grabes, "damit nicht seine Jünger
kommen und ihn stehlen und zum Volk sagen: Er ist auferstanden von den
Toten".
Um diese Behauptung zu entkräften, hat Matthäus in seine
Grab-Geschichte eine Legende über eine römische Wache eingefügt, mit
der Folge, daß dieses Kapitel "von Ungereimtheiten nur so
strotzt" (Lüdemann).
Damit die heidnischen Römer nicht Ohrenzeugen eines Gesprächs
zwischen einem Engel und den frommen Frauen werden, läßt der
Evangelist sie beim Anblick des Engels so erschrecken, "als wären
sie tot". Gleichwohl berichten die Soldaten hernach "alles,
was geschehen war", allerdings nicht etwa ihrem Vorgesetzten
Pilatus, der sie ans Grab kommandiert hatte, sondern den jüdischen
Oberen.
Die wiederum verlangen von ihnen schier Unmögliches: Sie sollten
wider besseres Wissen behaupten, die Jünger hätten Jesus gestohlen.
Lüdemann: "Mit dem damit verbundenen Geständnis, am Grabe
geschlafen zu haben, hätten sie sich um Kopf und Kragen
gebracht." Diese Geschichte "kann historisch nicht ernst
genommen werden".
Die Leiblichkeit des Auferstandenen wird anfangs diskret, später
deutlich und schließlich drastisch geschildert. Der Grund: Sie wurde
nicht nur von den Gegnern bestritten, sondern auch von Christen
bezweifelt. Die Zahl der Skeptiker in den eigenen Reihen wuchs und
sollte mit immer krasseren Darstellungen überzeugt werden.
Im ursprünglichen Text des Markus-Evangeliums steht nur "Er
ist auferstanden", mehr wird dort nicht berichtet. Auch Matthäus
äußert sich kaum darüber, wie der Auferstandene beschaffen war.
Erst bei Lukas wandert Jesus mit zwei Jüngern über Land nach
Emmaus und "saß mit ihnen zu Tisch". Und als er auch anderen
Jüngern erscheint, betont er seine Leiblichkeit: "Sehet meine
Hände und meine Füße, ich bin's selber. Fühlet mich an und sehet, denn
ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich
habe." Er fragt: "Habt ihr hier etwas zu essen?" und
"vor ihnen" (vor ihren Augen) ißt er "gebratenen Fisch
und Honigseim".
Nach dem Johannes-Evangelium geschieht noch weit mehr. Jesus
betritt einen Raum, obwohl "die Türen verschlossen waren",
zeigt den Jüngern "seine Hände und seine Seite" (mit einer
Wunde von einem Lanzenstich bei der Kreuzigung) und fordert "acht
Tage später" den ungläubigen Jünger Thomas sogar auf, ihn zu
betasten: "Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände und
reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht
ungläubig, sondern gläubig!"
Nur im Johannes-Evangelium wird von einer Begegnung am See
Genezareth berichtet, wo der Auferstandene den erfolglos fischenden
und hungrigen Jüngern am Ufer erscheint: "Spricht Jesus zu ihnen:
Kinder, habt ihr nichts zu essen?" Er verschafft ihnen "ein
Netz voll großer Fische", und Petrus verläßt das Boot, "warf
sich ins Wasser" und schwimmt zu seinem Herrn an Lend.
Die Legendenbildung ging noch weiter. In einem "Brief der
Apostel", der 50 Jahre nach dem Johannes-Evangelium verfaßt und
nicht ins Neue Testament aufgenommen wurde, steht eine lange
Geschichte:
Als Jesus hört, daß die Jünger seine körperliche Existenz
bezweifeln, schickt er erst eine Jüngerin Martha, dann eine Jüngerin
Maria zu ihnen, um sie zu überzeugen, und macht sich dann selbst auf
den Weg ("Lasset uns zu ihnen gehen"). Aber auch sein
Anblick überzeugt sie nicht ("Wir dachten, es wäre ein
Gespenst"). Das ändert sich erst, als zwei Jünger die Wunden der
Kreuzigung betasten und ein dritter feststellt, daß die Füße Jesu die
Erde berühren ("Eines Dämonengespenstes Fuß pflegt nicht zu
haften auf der Erde").
Lüdemann hält die Berichte sowohl im "Brief der Apostel"
als auch im Johannes-Evangelium für das "redaktionelle Werk der
Verfasser" - auch die Thomas-Geschichte, in der Johannes
"das weit verbreitete Motiv des Zweifels personalisierte".
Viel ist darüber geschrieben worden, daß der ungläubige Thomas von
dem Angebot Jesu, ihn zu berühren, keinen Gebrauch macht und Jesus
daraufhin zu ihm sagt: "Selig sind, die nicht sehen und doch
glauben!" Es ist die Aufforderung an zweifelnde Christen, nicht
nach immer neuen Beweisen für die leibliche Auferstehung zu verlangen.
Wer feststellen will, was sich nach dem Tode Jesu wirklich
ereignet hat, muß sich nach Meinung Lüdemanns an den ältesten und
historisch wichtigsten Text halten.
Er stammt von Paulus und steht in dessen erstem Korinther-Brief.
Es ist eine Liste derer, denen der Auferstandene erschienen sei:
Erst dem Kephas (gleich Petrus), dann den Zwölfen, später
"mehr als 500 Brüdern auf einmal", ferner dem Jesus-Bruder
Jakobus, "allen Aposteln" und "am letzten nach allen
ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden".
Der Apostel, der als Frauenfeind gilt ("Lasset die Frauen
schweigen in der Gemeinde"), erwähnt keine Erscheinungen Jesu vor
Frauen, die ihn in Galiläa begleitet hatten. Hingegen berichten drei
Evangelisten davon. Zwar stimmen bei ihnen die Zahl und die Namen der
Frauen nicht überein, aber Maria Magdalena ist immer dabei, und laut
Johannes-Evangelium ist Jesus einmal nur ihr allein erschienen.
Paulus erwähnt das leere Grab mit keinem Wort, und er äußert sich
auch nicht über Ort, Zeit und Art der Erscheinungen. Sogar darüber,
was ihm selbst widerfuhr, macht er in seinen Briefen nur Andeutungen.
Laut Apostelgeschichte konnte Paulus danach "drei Tage nicht
sehen". Lüdemann hält dies für eine seinerzeit nicht seltene
"ekstatische Blindheit".
Stereotyp schreibt Paulus jedesmal, Jesus sei "gesehen
worden". Lüdemann ist davon überzeugt, daß alle Erscheinungen
gleicher Art waren und es sich um Visionen handelte. Das gelte auch
für alle Erscheinungen Jesu am Grabe und andernorts, von denen die
Evangelisten berichten - soweit sie überhaupt stattgefunden haben.
Lüdemann: "Was die Osterzeugen erlebten, war ein Sehen im
Geist und nicht das Sehen eines wiederbelebten Leichnams."
Die von Paulus an erster Stelle genannte Vision des Kephas/Petrus
hält der Göttinger Theologe für das wichtigste Ereignis nach dem Tode
Jesu: "Aus dieser Erscheinung wurde die Folgerung gezogen: Gott
hat Jesus von den Toten auferweckt."
Die Petrus-Vision habe zu einer "Kettenreaktion
ohnegleichen" geführt: "Die Berichte des Apostels über sein
Erlebnis und die allgemein vorhandene Erinnerung an Jesus führten zu
einem religiösen Rausch und einer Begeisterung, die als Gegenwart Jesu
erfahren wurden, und zwar als Präsenz des Auferstandenen, wie ihn
bereits Petrus gesehen hatte."
Die "Dynamik dieses Neuanfangs" könne man sich
"nicht explosiv genug vorstellen"
Lüdemann zitiert zustimmend Ernest Renan, der 1866 schrieb:
"In einer Gesellschaft von Menschen gleichen Glaubens genügt es,
daß einer behauptet, etwas Übernatürliches zu sehen oder zu hören,
damit die anderen es auch sehen oder hören."
Lüdemann hält auch die Erscheinung "vor mehr als 500"
für ein "enthusiastisches Erlebnis einer großen Menge von
Menschen, die als Begegnung mit Christus aufgefaßt wurde".
Wie etliche andere Theologen nimmt er an, daß diese Vision der
mehr als 500 identisch ist mit der Pfingstversammlung in Jerusalem,
die in der Apostelgeschichte geschildert wird.
Mit dem Marburger Auferstehungsforscher Graß stimmt Lüdemann darin
überein, daß von den Visionen "Kamera oder Tonbandgerät nichts
aufgenommen hätten". Sie hätten lediglich festgehalten, wie
erregt die Menschen waren.
Die meisten Theologen glaubten früher und glauben heute, daß sich
in den Erscheinungen oder Visionen ein Handeln Gottes zeige, wie
mannigfaltig sie dies auch ausdrücken. Ein "Telegramm vom
Himmel" sei "notwendig gewesen", schrieb 1872 der
Züricher Theologe Theodor Keim. Und 1956 hielt Graß "an der
transzendenten Wirklichkeit des in diesen Visionen Geschauten und
Geglaubten" fest.
Lüdemann erklärt die Visionen nicht übernatürlich, sondern
psychologisch. Als einer der ersten tat dies der Theologe Carl
Holsten, der 1868 schrieb: "Die visionäre Phantasie ist
reproduktiv. Geschaut wird nur, was vorher schon als Vorstellung oder
als Bild der freien Phantasie im Bewußtsein des Visionärs gelebt
hat."
Dieser Auffassung ist auch Lüdemann, und er steht damit nicht
allein. Der Frankfurter Theologe Kessler verwahrt sich gegen die
"in neuerer Zeit populär werdende Auffassung, es handele sich bei
den Erscheinungen um bloße Produkte der Einbildungskraft
beziehungsweise des Unterbewußtseins der Jünger". Und Kessler
beschreibt in einem Auferstehungs-Buch ("Sucht den Lebenden nicht
bei den Toten") zwar in polemischer Absicht, aber durchaus
zutreffend, wie moderne Theologen über die Visionen der Jünger denken:
"Der Glaube, Jesus und seine Sache könnten nicht tot sein,
ließ tief in ihnen das Bild eines Jesus entstehen, der wieder bei
ihnen war, beziehungsweise schlug um in die Gewißheit, daß er lebe,
und diese Gewißheit brach sich Bahn in psychogenen Visionen, in denen
sie das Ersehnte und Erträumte dann auch sahen." Den Einwand
Kesslers, es gebe "keinerlei Hinweise darauf, daß die frühe
Christenheit den Osterglauben auf innere, seelische Vorgänge
zurückgeführt hätte", weist Lüdemann zurück: Es sei "völlig
unwesentlich", ob die ersten Christen dies getan haben, "das
wäre ohnehin nicht zu erwarten, da Visionäre es immer anders sehen und
an Botschaften 'von oben' glauben".
Die Erscheinung bei Damaskus läßt sich allerdings nicht so
erklären, denn Paulus wurde erst durch die Vision zum Christen.
Lüdemann nimmt an, darin dem Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung
folgend, daß den Christengegner Paulus "die Grundelemente der
christlichen Predigt und Praxis unbewußt angezogen haben und daß er
Zweifel an seiner eigenen Lebensanschauung unterdrückt hat. Diese
innere Stauung entlud sich in einer Vision Jesu.
Der Göttinger Neutestamentler ist sich bewußt, daß es unter
evangelischen Theologen "ein negatives Vorurteil" gegen
Visionen gebe, und zitiert den Marburger Ernst Benz, der sogar von
einem "antivisionären Komplex schrieb.
Es werde oft nicht bedacht, daß heutigen Menschen nicht völlig
fremd sei, was sich vor zwei Jahrtausenden ereignet habe. Lüdemann
verweist auf Berichte von Trauernden, die "gelegentlich auch das
Element der bildhaften Vergegenwärtigung des verlorenen, geliebten
Menschen enthalten. Und häufig hätten Trauernde sogar "das
Gefühl, der Verstorbene sei präsent".
Die Bilanz Lüdemanns in seinem Buch: Abgesehen von den Visionen
hat sich nach dem Tode Jesu nichts von all dem ereignet, was die Bibel
berichtet. "Der historische Ertrag ist gleich Null." So
urteilt der Göttinger Theologe über einen Bericht im Lukas-Evangelium
vom Auftreten Jesu vor elf Jüngern. Er hätte dies auch über die
meisten anderen Berichte in den Evangelien schreiben können, und
"der Rest ist sekundär, hat also bestenfalls ein überliefertes
Wort oder eine Vision in legendäre Handlung umgesellt".
Damit sind laut Lüdemann "die traditionellen Vorstellungen
von der Auferstehung als erledigt zu betrachten". Und wohl auch
die Vorstellungen von einer Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag.
Darüber sei nur zu sagen: "Die im Glauben erfahrene Einheit mit
Gott hat Bestand über den Tod hinaus." Und Lüdemann stimmt einem
anderen Theologen zu: "Darüber hinaus nach Ereignissen im
Jenseits zu fragen, macht keinen Sinn."
Dieser Befund habe "gravierende Konsequenzen",wie er am
Ende seines Buches erörtert. Dort stellt er die Frage: "Können
wir noch Christen sein?"
Für ihn selbst stand die Antwort, wie er versichert, nicht von
vornherein fest, als er sich des Themas Auferstehung annahm:
"Hätte ich sie verneinen müssen, so wäre ich aus der Kirche
ausgetreten und hätte meinen Lehrstuhl aufgeben und die Fakultät
wechseln müssen.
Doch all seinen Erkenntnissen zum Trotz beantwortet er die Frage
"getrost mit Ja", für sich selbst und für alle, die seinen
Gedankengängen folgen wollen. Seine Begründung ist allerdings anders,
als sie auf Kanzeln und Kathedern gemeinhin gegeben wird. Mit der
Auferstehung hat sie nichts zu tun. Zwar bekennt auch Lüdemann, er
glaube, daß Jesus "durch den Tod nicht der Vernichtung
anheimgegeben wurde" und "als der nun Lebende bei uns
ist". Das klingt so, als sei der Göttinger Professor nur eine
große Kurve gefahren und zum gleichen Ziel gelangt wie andere, die
einen kürzeren Weg wählen.
Aber auf die Frage, ob Jesus so weiterlebt wie Goethe und Gandhi,
antwortet er: "Ja, nur so. Die Begegnung mit Jesus ereignet sich
bei der Begegnung mit den Texten, oder sie ereignet sich nicht. Für
die einen lebt er, für die anderen ist er tot."
Nach seiner Überzeugung verlieren die Christen dadurch nichts, daß
sie an die Auferstehung nicht mehr so glauben können wie bisher:
"Vor Ostern war bereits all das vorhanden, was nach Ostern als
endgültig erkannt wurde." Und: "Nicht Jesus oder seine
Botschaft bedurften des Ostereignisses, sondern Petrus und die anderen
Jünger."
Christen könnten Christen bleiben, auch wenn sie "nicht an
die Wiederbelebung eines Leichnams glauben". Ihr Glaube habe
seinen Grund nicht in der Auferstehung, sondern im "historischen
Jesus, wie er uns durch die Texte vorgegeben ist und durch historische
Rekonstruktion als Person begegnet". Das ist etwas ganz anderes
als das, was seit Paulus die Theologen unablässig wiederholen, wie zum
Beispiel der Heidelberger Theologe Günther Bornkamm im populärsten
deutschen Jesus-Buch, das in der 14. Auflage vorliegt und in zehn
Sprachen übersetzt wurde: "Ohne die Botschaft von der
Auferstehung Christi" gäbe es "kein Evangelium, keinen
Glauben, keine Kirche, keinen Gottesdienst".
Und es ist etwa das Gegenteil dessen, was Bultmann einst schrieb:
"Entscheidend ist nur das Daß des Gekommenseins Jesu, nicht das
Was, das heißt nicht die historisch verifizierbaren Daten seines
Lebens und Wirkens."
Nachdem Lüdemann das wunderreiche Ereignis der Auferstehung auf
wunderfreie Visionen reduziert hat, bleibt die Frage, wie transzendent
denn sein Glaube an den historischen Jesus ist.
Lüdemanns Antwort wird seine Kritiker nicht besänftigen:
Das "'extra nos', also das Handeln Gottes", könne er
"nachdrücklich bekräftigen, weil Jesus nicht eine Erfindung oder
eine Projektion ist". Aber das waren Goethe und Gandhi auch
nicht.
Der Göttinger Theologieprofessor ist überzeugt, daß es dem
Christen hilft, "wenn er fortan vom Wenigen lebt, was er wirklich
glaubt, nicht vom Vielen, was zu glauben er sich abmühen mußte".
Sicher, es war zuviel.
Aber ist es nun nicht zuwenig?
(Werner Harenberg in: Der SPIEGEL Nr. 13/28.3.1994)