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"Ich habe mich vom Glauben befreit"

GEO-Magazin Nr. 06/2011 Wie das Leben gelingt, S. 120-121

GERD LÜDEMANN, 64, THEOLOGE

In meinem Elternhaus gehörte Religion seit jeher zum Alltag; als Kind sprach ich jeden Abend aufrichtig mein Gebet. Zugleich begeisterte ich mich schon früh für Aufklärer wie Voltaire und Descartes. Kinderglaube und Erkenntnisdrang - beides trug ich von Anfang an in mir, ohne es zunächst als Widerspruch zu empfinden.

Mit 16 Jahren fasste ich den Entschluss, in einen evangelischen Orden einzutreten. Beim Aufnahmegespräch gelobte ich, ehelos, arm und asketisch zu leben. Als man mich aber fragte, ob ich bereit sei zu gehorchen, antwortete ich spontan mit Nein. Ich bereute es sofort, doch zu spät - ich wurde nicht aufgenommen. Heute weiß ich, dass diese Antwort Ausdruck meines inneren Zwiespalts war: Ein Teil von mir wollte bedingungslos glauben, doch ein anderer Teil weigerte sich. Dennoch studierte ich nach dem Abitur Theologie. Die Vorlesungen wurden meine neuen Gottesdienste, sie befriedigten meinen Erkenntnisdrang. Nach Promotion und Habilitation wurde ich als Professor nach Göttingen berufen. Die ersten Jahre verliefen gut. Im Herbst 1987 aber, ich war 41 Jahre alt, geriet ich buchstäblich aus dem Gleichgewicht: Immer häufiger wurde ich von Schwindelanfällen heimgesucht. Eine Psychotherapie half nur vorübergehend, denn meine Probleme waren grundsätzlicher Natur: Ich, der Theologieprofessor, zweifelte an Gott.

Ich beschloss, meine Zweifel wissenschaftlich zu ergründen. In einem Buch untersuchte ich die Auferstehung Jesu unter historischen Gesichtspunkten - und kam zu dem Schluss, dass es sie nicht gegeben haben konnte. "Jesus ist verwest", schrieb ich. Das Buch erregte weltweit Aufsehen; die Kollegen in der Fakultät schüttelten liebevoll den Kopf: "Du wirst schon wieder zur Vernunft kommen."

Zur Vernunft kam ich in der Tat, aber anders als erwartet. Mir wurde immer klarer, dass das Jesusbild der Bibel zum großen Teil auf nachträglichen Zuschreibungen beruht. In dem Buch "Der große Betrug" verabschiedete ich mich endgültig vom Christentum. Die evangelische Kirche verlangte daraufhin meine Entlassung. Nach einem langen Rechtsstreit blieb ich zwar ordentlicher Professor, durfte jedoch in Theologie keine Seminare mehr halten und keine Doktoranden mehr betreuen. Im Sommer gehe ich in den Ruhestand.

Manchmal frage ich mich, ob ich mein Leben verpfuscht habe. Ich habe meine wissenschaftliche Karriere faktisch aufgegeben. Doch durch die Kraft der Vernunft und des Denkens habe ich neuen Halt gefunden, mein verborgenes Ich befreit.

Ein Rest von Frömmigkeit ist mir geblieben. Noch heute spreche ich manchmal mein Gebet aus Kindertagen. Nicht zu Gott. Sondern um mich geborgen zu fühlen. Die Sehnsucht nach etwas, das alles erklärt, trage ich weiter in mir.

Aufgeschrieben von Christian Heinrich.


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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