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Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 2007
Aus Frankfurter Rundschau, 18. Oktober 2007
Gerd Lüdemann
Als theologisches Erstsemester besuchte ich jeden Sonntag den
Universitätsgottesdienst in der Göttinger St. Nikolaikirche. Dort
predigten die Professoren der Theologischen Fakultät, deren Worten von
der Kanzel wir Studenten andachtsvoll lauschten. Während der Woche
trafen wir die Hochschullehrer wieder; sie machten uns dann im Hörsaal
vom Katheder aus mit der historischen Kritik der Bibel bekannt.
Mit der Zeit nahm die Zahl meiner Gottesdienstbesuche jedoch ab
und neigte sich am Ende des zweiten Semesters sogar gegen Null. Ich
hatte Schwierigkeiten, das auf der Kanzel Gesagte mit dem im Hörsaal
Gelernten zu vereinbaren, und fand es zusehends unbegreiflich, wie ein
und dieselbe Person christlich verkündigen und wissenschaftlich
unterrichten kann. In Predigten über das Alte Testament wurden uns
Abraham und Moses so nahe gebracht, als ob sie jetzt zu uns sprächen,
in Vorlesungen über die Geschichte Israels lernten wir dagegen, dass
Abraham historisch gar nicht existiert hat und über Moses wenig mehr
als sein ägyptischer Name bekannt ist. Ähnlich verhielt es sich mit
dem Neuen Testament. Beim Ostergottesdienst hieß es aus professoralem
Mund, Jesus wurde von den Toten erweckt und zum Herrn über den Kosmos
gemacht, indes lernten wir im Seminar über die Auferstehung Jesu:
Jesus ist, historisch gesehen, gar nicht auferstanden; die Jünger
haben ihn vielmehr in einer Vision gesehen. Das Grab Jesu war gar
nicht leer, sondern voll.
Mich bedrückte dieser scharfe Gegensatz zwischen Glauben und
Wissenschaft sehr. Hier, in der einstigen Hochburg der deutschen
Aufklärung, war ich nun und wollte wissen, was in der Bibel Fiktion
und was Faktum ist, und erfuhr es auch. Doch die Sprengkraft dieses
Wissens wurde von den hochgeschätzten Lehrern - so schien es mir -
durch den Inhalt ihrer Predigten sofort wieder neutralisiert.
Angesichts einer solch ausweglosen Lage rückte der Abbruch des
Theologiestudiums in greifbare Nähe. Ich vollzog ihn aber nicht, weil
das Wissen um den Ursprung des Christentums und um die
Entstehungsgeschichte der biblischen Schriften eine Bereicherung,
einen Wert in sich darstellten. Und wo konnte man all das besser
lernen als an der Theologischen Fakultät? Außerdem emanzipierte die
historische Kritik von den Dogmen der Kirche, besonders auch davon,
dass alle Ungläubigen ewig verdammt seien. "Wer da glaubet und
getauft wird, der wird selig werden, wer aber nicht glaubet, der wird
verdammt werden" sagte uns "Jesus" bei der Kindertaufe
jeden Sonntag durch den Mund unseres Pastors; ich habe das hunderte
Male gehört und auch geglaubt und war von diesem Unsinn nun endlich
befreit worden. Daher setzte ich das Theologiestudium bewusst fort,
wollte aber nicht mehr Pastor werden und redete mit niemandem über
mein Problem. Keiner fragte danach; man konnte auch, ohne dieses Thema
anzusprechen, beruflich als Theologe weiterkommen, damals wie heute.
Dreißig Jahre danach, inzwischen ordentlicher Professor für Neues
Testament an meiner Heimatuniversität, wagte ich im März 1998
erstmals, den mich seit dem Theologiestudium bedrängenden Konflikt in
allen Einzelheiten zu beschreiben, und bekannte öffentlich meinen
Unglauben. Unter Verweis auf die allseits bekannten Ergebnisse
historischer Forschung - die meisten im Neuen Testament enthaltenen
Worte Jesu sind unecht, das Abendmahl ist nicht von ihm eingesetzt
worden, die Auferstehung geht auf eine Vision der Jünger zurück -
schrieb ich: Es gebe zwar viele Gründe, Christ zu sein, aber keinen
stichhaltigen Grund; niemand könne angesichts der historischen
Haltlosigkeit zentraler biblischer Aussagen noch Christ sein, und auch
ich sei keiner mehr.
Diese Aussage eines Theologieprofessors - "ich bin kein
Christ" - rief die evangelischen Kirchen in Niedersachsen auf den
Plan. Ihre juristischen Vertreter intervenierten unverzüglich beim
Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Sie
verlangten disziplinarische Maßnahmen und, als dies auf taube Ohren
stieß, meine Ausgliederung aus der Theologischen Fakultät. Zugleich
wurde den Angehörigen des habilitierten Lehrkörpers dringend nahe
gelegt, sich diesem Begehren anzuschließen. Das taten sie dann auch
prompt. Mehr noch: kein einziges Mitglied des Kollegiums hat mir
öffentlich beigestanden, obwohl die meisten dieselben historischen
Einsichten teilten. Das Ergebnis war, dass meine Professur - obwohl an
der Theologischen Fakultät verbleibend - ab Ende 1998 aus den
theologischen Studiengängen (einschließlich der Lehrerausbildung)
ausgegliedert wurde und dass ich fortan nicht mehr das Fach
"Neues Testament", sondern das Fach "Geschichte und
Literatur des frühen Christentums" in Forschung, Lehre und
Fortbildung vertreten sollte. Das klang nicht schlecht, denn die Texte
des Neuen Testaments sind ja Literatur des frühen Christentums. Die
üble Konsequenz der Umbenennung des Lehrstuhls war und ist, dass in
dem neuen Fach keine akademischen Abschlüsse möglich sind und die
Professorenstelle nach meinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst im Jahr
2011 nicht wieder besetzt werden sollte. Das nennt man Kaltstellung.
Da stand ich nun - zum einen erleichtert, dass der Beamtenstatus
einen Rausschmiss verhindert hatte, zum anderen aber auch betrübt,
weil ich akademisch nunmehr völlig isoliert war und die von mir
geförderten akademischen Talente sehen mussten, wo sie mit ihren
Projekten unterkamen.
Nun sind sich alle in der Geistes- oder Naturwissenschaft Tätigen
einig, dass Forschung frei sein muss und nicht von vornherein weiß, zu
welchen Ergebnissen sie führt. Diese Freiheit der Wissenschaft ist
erst nach langen Kämpfen gegen Einsprüche der christlichen Kirchen
errungen worden. Da Theologie bis heute ein Universitätsfach ist,
haben die dort Tätigen - so sollte man eigentlich denken - auch
Anrecht auf volle Wissenschaftsfreiheit. Es war daher skandalös, dass
in meinem Fall die Niedersächsischen Kirchen den Staat zu einer solch
massiven Beschneidung dieser Freiheit bewegen konnten.
Da es ums Prinzip und letztlich um die Frage geht, ob und wie
Theologie eine Wissenschaft sein kann, wählte ich den Weg der
gerichtlichen Klage, wobei mir bewusst war, dass dies ein langer,
kostspieliger Weg sein würde und dass - wenn überhaupt - nur in der
höchsten Instanz ein Erfolg möglich sein könnte. Immerhin gibt es in
der deutschen Rechtsgeschichte bisher keinen vergleichbaren Fall,
schon gar nicht im evangelischen Bereich; alle Konflikte zwischen
Kirche und Theologieprofessoren sind bisher durch einen Vergleich
beigelegt (zum Beispiel der Konflikt um Hans Küng) oder direkt zu
Ungunsten des jeweiligen Stelleninhabers entschieden worden.
Von 1999 bis 2005 ging es durch alle drei Instanzen der deutschen
Verwaltungsgerichtsbarkeit: vom Verwaltungsgericht Göttingen zum
Oberverwaltungsgericht Lüneburg bis hin zum Bundesverwaltungsgericht
Leipzig. Zwar wiesen die ersten beiden Gerichte die Klage zurück; doch
war es immerhin ermutigend, dass jeweils der Gang zur nächst höheren
Instanz bis hin zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen wurde.
Meine Hoffnung, dass das höchste Verwaltungsgericht die
Zwangsmaßnahmen der Universität Göttingen aufheben würden, trog
allerdings. Selbst die Bundesrichter in Leipzig blieben hart und
bestätigten die Maßnahmen meines Arbeitgebers aus dem Jahre 1998, und
zwar mit folgender Begründung: Die Theologische Fakultät der
Universität Göttingen sei eine konfessionsgebundene Einrichtung, sie
diene der Ausbildung des theologischen Nachwuchses der evangelischen
Kirche wie auch der Vertiefung und Übermittlung von Glaubenssätzen.
Die an ihr tätigen Hochschullehrer übten damit ein
konfessionsgebundenes Amt aus. Dafür sei nur geeignet, wer ein
entsprechendes Bekenntnis hat. Die Universität sei verpflichtet, ihren
Lehrbetrieb so zu organisieren, dass dieser den kirchlichen
Eignungsanforderungen genüge.
Mit diesem Urteil haben die obersten Verwaltungsrichter den
kirchlichen Charakter von Theologie an der Universität
festgeschrieben; anders lässt sich die Aussage nicht verstehen, dass
die Hochschullehrer die kirchlichen Glaubenssätze vertiefen sollen.
Das aber heißt zugleich, dass die Theologie den Richtern zufolge keine
Wissenschaft und demgemäß ein Fremdkörper an der Universität ist. Sie
weisen nämlich der Kirche in der Gestalt der Theologischen Fakultät
einen eigenen Raum mit eigenen Gesetzen auch innerhalb der Universität
zu. Dieser Rechtsbefund erlaubt Theologieprofessoren weiter, zu Lasten
der Studierenden in zwei Sprachen zu reden - auf der Kanzel
erbaulich-kirchlich, auf dem Katheder wissenschaftlich - und, eine
alte Tradition fortsetzend, einer doppelten Wahrheit zu huldigen.
Man darf gespannt sein, ob der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts, der eine Entscheidung über meine
Verfassungsbeschwerde noch für 2007 angekündigt hat, sich den
Ausführungen zum kirchlichen Charakter der Theologie anschließen wird.