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Nebelschwaden von Theologenhand

© Publik-Forum Nummer 21, 3. November 2006, S. 34-35

Die Geschichte Israels ist erfunden, die Relevanz des Alten Testaments für Christen fraglich: eine theologische Provokation

Von Gerd Lüdemann

Im Konfirmandenunterricht habe ich das Alte Testament als Buch der Weissagung auf Christus schätzen gelernt. Noch heute klingen die messianischen Weissagungen in meinen Ohren, die zu Karfreitag und Weihnachten von Kanzel und Altar aus vorgelesen wurden. "Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen ..."; "Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel".

Die Enttäuschung war indes groß, als ich in den ersten Semestern des Theologiestudiums lernte: An keiner Stelle standen den Verfassern der Schriften des Alten Testaments die Personen und Geschehnisse vor Augen, an die sie den Autoren des Neuen Testaments zufolge dachten. Somit ist die kirchliche Deutung des Alten Testaments auf Christus hin reine Willkür. Nachdem ich so vom Baum der historischen Erkenntnis gegessen hatte, war ich aus dem Paradies des Konfirmandenglaubens vertrieben.

Zwar vertritt heute kein akademischer Theologe mehr die Ansicht, dass die Weissagungen des Alten Testaments im Sinne einer Voraussage Christus im Blick haben. Doch lesen etliche wissenschaftliche Exegeten Stücke wie die Lieder vom leidenden Gottesknecht als Verheißung auf Christus. Der kirchliche Gebrauch kommt ihnen entgegen, denn dieser ist sowieso unkritisch. All das ist aber ein Verstoß gegen die Ergebnisse historischer Forschung und damit ein Akt intellektueller Unehrlichkeit.

Der Grund für meine Beschäftigung mit dem Alten Testament ist derselbe wie der für die Bemühung um das Neue Testament, nämlich die Frage, ob sich alles so zugetragen hat, wie es dort steht. Diese Frage aber entspringt letztlich einer religiös motivierten Suche nach dem Sinn des Lebens. Ich will wissen, woher ich komme und wohin ich gehe, und möchte mich auf die Grundlagen des Glaubens, in dem ich groß geworden bin, verlassen können.

Die kirchliche Tradition verweist zur Glaubensvergewisserung generell auf die Taten Gottes, von denen in der Bibel die Rede ist. Tatsächlich ist das Alte Testament über weite Strecken ein Geschichtsbuch, und ebenso wollen die neutestamentlichen Evangelien authentisch von Jesus berichten. Christliche Theologen haben das in die griffige Formel gefasst: Gott hat Israel aus Ägypten geführt und Jesus von den Toten erweckt.

Nun stehen historische Behauptungen, auch wenn sie - wie die gerade aufgeführten - mit Gott verbunden werden, der wissenschaftlichen Überprüfung offen. Und hier ist unmissverständlich zu sagen: Weder hat der Auszug der Israeliten aus Ägypten stattgefunden noch die Auferstehung Jesu von den Toten.

Hinsichtlich der Auferstehung Jesu verweise ich darauf, dass die ältesten Traditionen lediglich von einem Gesehen-Werden Jesu sprechen und dass die Geschichten über das leere Grab erst sekundär hinzugedichtet worden sind, und zwar zur Vergewisserung der körperlichen Auferstehung. Am Anfang stand die Vision - und kein wieder belebter Leichnam.

Was den Exodus betrifft, muss ich etwas weiter ausholen: Die historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments hat viele Widersprüche und zahlreiche sekundäre Quellenschichten nachgewiesen. Doch sah man in den ersten Büchern der Heiligen Schrift das ideale Bild von Israel, das der Gott Jahwe zu seinem Volk gemacht hat, im Kern als glaubwürdig an. Israel in Ägypten, Moses Rolle bei dem Empfang der Zehn Gebote und die Einnahme des gelobten Landes blieben so, trotz aller Kritik im Einzelnen, historisch unangetastet. Das Blatt wendete sich aber, als man erkannte: Das in der Bibel entworfene Bild des vorstaatlichen Israel (vor 1000 v.Chr.) entspringt theologischen Fiktionen aus der nachstaatlichen Zeit (ab dem 6. Jahrhundert v.Chr.).

Archäologische Forschungen im Verein mit subtilen textlichen Beobachtungen haben diesem Paradigmenwechsel schnell zum Erfolg verholfen. Erst jetzt wurde evident: Die älteste Erwähnung Israels auf der Sieges-Stele des Pharao Merenptah, die dieser im Jahre 1208 v.Chr. aufrichten ließ, ist ein starkes Argument gegen das bisher geltende biblische Geschichtsbild. Da die Inschrift Israel nämlich als eine Gruppe von offenbar schon länger in Palästina ansässigen Menschen erwähnt, widerspricht sie dem alttestamentlichen Bild von dem in zwölf Stämmen vereinigten Israel, das nach biblischer Chronologie ungefähr zu derselben Zeit von außen in das Land Kanaan eingedrungen ist. Aus all dem ergibt sich kurioserweise, dass die Israeliten ursprünglich selber Kanaanäer waren.

Unter Hinweis auf Moses Empfang des Dekalogs am Sinai meinte die ältere Forschung, eine Verehrung Jahwes habe es immer nur zusammen mit dem Ersten Gebot gegeben, das die Existenz anderer Götter zwar nicht bestreitet, aber die alleinige Verehrung Jahwes befiehlt. Indes herrscht mittlerweile Konsens: Weder der Exklusivitätsanspruch Jahwes noch gar die - unter Fortführung des Ersten Gebotes aufgestellte - Behauptung, außer Jahwe gebe es überhaupt keine anderen Götter, stand am Anfang des Jahweglaubens. Erst nach dem Untergang Judas im Jahre 587 v.Chr. ersannen findige theologische Köpfe das Erste Gebot im Zuge der Deutung des Volksgeschicks. Motto: Weil Israel fremden Göttern diente und nicht Jahwe allein, musste es zur Katastrophe kommen.

Christliche Exegeten reagieren auf diesen eindeutigen historischen Befund verschieden. Manche sagen, die Wahrheit der Offenbarung oder die Aussage des Bekenntnisses lasse sich auf historischer Grundlage, ganz gleich nach welchen Maßstäben, weder verifizieren noch falsifizieren. Andere meinen, bei dem Verhältnis von Geschichte und Glauben habe man es mit zwei selbstständigen, sich ergänzenden Bildern zu tun. Das sei Gewinn, Verdoppelung, keinerlei Verlust, keine Destruktion. Spätestens hier entsteht für den christlichen Glauben jedoch ein Dilemma. Wenn nämlich der historische Rahmen der Geschichtsbücher des Alten Testaments fiktiv ist und es sich beim biblischen Israel, ja selbst bei dem exklusiven Gott Jahwe um theologische Konstrukte handelt, dann sind die biblische Frühgeschichte Israels und damit die Vorgeschichte Jesu Christi vollständig entleert. Sie lösen sich in Nebel auf und mit ihnen bekanntlich auch das neutestamentliche Zentraldatum der Auferstehung Jesu, die als Vision erkannt wurde. Dadurch aber ist der Glaube faktisch falsifiziert. Mir scheint, dass das Grundübel des kirchlichen Bekenntnisses in der Bindung des Glaubens an Geschichte liegt, umso mehr, als Geschichte im Neuen und Alten Testament, wie deutlich wurde, reine Fiktion ist. Der kluge Glaube wird daher aus einer zweitausendjährigen Geschichte der Kirche und ihrer Theologie lernen. Er starrt dann nicht mehr auf eine tote Vergangenheit, streift die Schlinge der Fiktion ab und fragt unverdrossen nach Gott, seiner eigenen himmlischen Heimat.

© Publik-Forum Nummer 21, 3. November 2006, S. 34-35


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