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Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 2006
Von Gerd Lüdemann
Herr Ministerpräsident Wulff erklärt beim alljährlichen Treffen
mit evangelischen Bischöfen und sonstigen Notabeln in Loccum, er nehme
die Jahreslosung der christlichen Kirchen wörtlich und wolle sie
konkret anwenden: 2006 solle zu einem Jahr der Integration gemacht
werden. Nun stammt die Jahreslosung aus dem alttestamentlichen Buch
Josua und lautet: "Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich
nicht." Die Möglichkeit zur konkreten Anwendung der Losung erhält
der bekennende Katholik Wulff, indem er sich listig mit deren
biblischem Sprecher gleichsetzt.
Michael B. Berger, studierter evangelischer Theologe und
kirchenfreundlicher Journalist der HAZ, gibt in einem Leitartikel zum
Treffen Wulffs mit den kirchlichen Würdenträgern zu verstehen, dass
der Prophet Josua der Sprecher des zur Jahreslosung gemachten Wortes
ist. Im Übrigen stimmt er ihrem Gebrauch im Sinne der Solidarität mit
den Unterprivilegierten zu. Mir stehen angesichts eines solchen
biblischen Analphabetentums die Haare zu Berge. a) Nicht Josua,
sondern der Gott Jahwe selbst ist in der biblischen Erzählung der
Sprecher der Jahreslosung. b) Sie ist kein soziales Programm, sondern
sie ruft, wie der Kontext eindeutig zeigt, als Teil einer
Kriegspredigt zur Ausrottung der Bevölkerung Kanaans auf, unter der
Fürsorge des Gottes Jahwe: "Ich lasse dich nicht fallen und
verlasse dich nicht!"
Aber die beiden Gescholtenen können sich trösten. Der mächtigste
Repräsentant der Christenheit, der neue Papst aus Bayern, weckt
merkwürdigerweise den Verdacht, biblisch ähnlich ungebildet zu sein
wie die beiden Niedersachsen. Gerade hat er seine erste Enzyklika
veröffentlicht mit dem verheißungsvollen Titel "Deus Caritas
Est" (Gott ist Liebe), der sich am Ersten Johannesbrief
orientiert. Kirche und Öffentlichkeit sind dankbar, dass Benedikt XVI
die Liebe auf seine Fahne geschrieben hat und applaudieren ihm. Doch
lebt dieser Beifall von der Ignoranz dessen, was in den
Johannesbriefen steht. Liebe bezieht sich dort nur auf den
rechtgläubigen Bruder, und alle anderen, die nicht den rechten Glauben
haben, sind zu meiden. Sie gehören nämlich zum Antichristen. Es gibt
keine Gemeinde im Neuen Testament, die ähnlich vom Hass geprägt ist
wie die des "Johannes". Ausgerechnet deren Texte legt der
Papst seiner eigenen Liebespredigt zugrunde und kennt die hässlichen
nicht.
Drei biblische Analphabeten - aus Bereichen, wo man sie nicht
vermutet hätte. Solange hierzulande Religionsunterricht und
konfessionelle Theologie dem Glauben eine weit größere Bedeutung
beimessen als der wissenschaftlich fundierten Kunde über den Glauben,
wird biblisches Analphabetentum noch zunehmen. Der Unglaube marschiert
weiter fröhlich mit der Bildung und der Glaube mit der Barbarei.