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Veröffentlichungen 2000
Die Woche 52/00, 22. Dezember 2000
Wie sieht es mit der Zukunft der Religion aus? Wissenschaft
und Rationalität verlangen nach einer neuen Kraft, die der Sehnsucht
nach Glauben Rechnung trägt
VON GERD LÜDEMANN
Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht Jesus als der neue
Mensch. Seine Person ist der Angelpunkt eines Mythos von kosmischem
Ausmaß. Dieser setzt ein bei der Schöpfung der Welt durch Gott,
erfährt eine tragische Zuspitzung im Sündenfall Adams und findet eine
Lösung im neuen Menschen, Jesus Christus. Dessen Sühnetod, der Gott
gnädig stimmt, rettet alle, die an ihn glauben, vor der Vernichtung
und macht sie selbst zu neuen Menschen. Mit seiner Wiederkunft auf den
Wolken des Himmels vollendet sich das kosmische Drama: Das Alte
vergeht, alles ist neu geworden.
Der so beschaffene christliche Glaube wurde seit der Aufklärung
gnadenlos demontiert, und dies aus gutem Grund. Die Annahme eines
Schöpfers erwies sich als problematisch, seitdem feststand, dass der
Kosmos sich seit Jahrmillionen als explodierendes Ungeheuer in die
Unendlichkeit schleudert. Die Religionskritik entlarvte das Gotteswort
der Bibel als Menschenrede, und das Fundament biblischer Heilslehren,
die Auferstehung Jesu, löste sich in einen visionären Nebel auf. Aber
auch die lange Blutspur des kirchlichen Umgangs mit Ketzern trug zur
Destruktion des Christentums bei.
Die Relativierung des Glaubens in der Neuzeit ist somit eng mit
der wissenschaftlichen Kritik am christlichen Mythos verbunden. Wissen
war fortan - wenigstens von seinem Anspruch her - rational begründet;
Glauben Irrationalität zugeordnet. Diese Beziehung wurde dort
schlagend bestätigt, wo es Führern gelang, Menschenmassen zum Glauben
an sich fortzureißen. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht in
der Fähigkeit zum Glauben ein enormes, auch positiv zu wertendes
Potenzial steckt und ob nicht zuweilen Wissen in sein gerades
Gegenteil umschlagen kann.
Trat die neuzeitliche Wissenschaft mit dem Programm an, die Welt
zu entzaubern, so muss nach einem Vierteljahrtausend Erfahrung mit ihr
einschränkend angemerkt werden, dass es ihr nie gelang, den Zauber des
Glaubens vollständig zu bannen. Dies gilt aber auch für weite Teile
der wissenschaftlichen Theologie. Um Glaube und Vernunft in ein
harmonisches Verhältnis zu bringen, interpretierten manche ihrer
Vertreter die christliche Botschaft "religionslos", aus der
Situation "nach dem Tode Gottes" heraus oder
entmythologisierten sie kurzerhand. Damit vertrieb man jedoch das
Christentum aus der Kirche oder hetzte das christliche Ross als
erschöpften Klepper zu Tode. Offenbar war der säkulare Mensch von
Anfang an ein Retortenbaby im Hirn von Wissenschaftlern, die das Leben
interpretieren, aber nicht kennen. Der von ihnen ausgetriebene Glaube
verbündete sich alsbald mit anderen abergläubischen Helfershelfern und
eroberte die leer gefegten Häuser von Kirche und Gesellschaft zurück.
So glauben heutzutage ein Drittel aller erwachsenen Amerikaner
Kontakt zu den Toten zu haben, ein Viertel glaubt an Reinkarnation.
Entführungen von Außerirdischen sind ernsthafter Gesprächsstoff, und
in diesen Kreisen gilt die Doktrin, dass die Kraft oder Intensität,
mit der etwas empfunden wird, ein Anhaltspunkt für den Wahrheitsgehalt
der Existenz von Gespenstern, Dämonen oder Ufos ist. Mag es in den
europäischen Breiten auch nicht so krass zugehen wie in Amerika, so
ist doch auch bei uns die säkulare Welle dahin. Der Alptraum eines
Roboters namens Homo Faber, der ohne religiöses Gefühl ist, weil es
nur stört, war nur Episode. Der neue nachsäkulare Mensch erfüllt sich,
wenngleich bescheidener und häppchenweise, den Urtraum vom neuen
Menschen, wenn auch unter veränderten Bedingungen. Jedenfalls hat er
wieder etwas, was die Rationalität übersteigt und Sinn gibt: eine
Religion. Im modernen Individualismus verankert, bewegen sich seine
Glaubensformen in relativer Distanz zu den organisierten Kirchen und
geben ihnen manche Nuss zu knacken.
Der neue Mensch glaubt wieder, auch wenn die Inhalte
unzusammenhängend, ja geradezu vagabundierend sind: an die Existenz
Gottes, nicht aber an das Dogma von der unbefleckten Empfängnis; an
viel Esoterisches, aber nicht an Astrologie; an die Heilung durch den
Glauben, aber nicht an die Erlösung durch den Glauben allein; an ein
Fortleben nach dem Tode, nicht aber an eine leibliche Auferstehung.
Man hat zahlreiche Namen für diesen Glauben gefunden: "Religion Ö
la carte" oder auch "Cafeteria-Religion". Einen großen
Vorteil gegenüber dem christlichen Mythos bietet er immerhin: Er ist
gewaltfrei gegenüber Andersgläubigen.
Das Aufkommen dieses Glaubens ist durch verschiedene Gründe
bedingt. Der eine wurde bereits genannt: die Fähigkeit und der Wunsch
des Menschen zu glauben. Der andere besteht im zunehmenden Erschlaffen
der Wahrheitsfrage in den akademischen Disziplinen. Selbst unter
Wissenschaftlern macht sich in einer Mischung aus Resignation und
Trotz die Sicht breit, alle Anschauungen seien gleich willkürlich. Die
Entstehung des neuen Glaubens hat aber auch darin einen Grund, dass
das Wissen selbst seine Grenzen kennt. Echte Wissenschaft korrigiert
sich unaufhörlich selbst.
Nun steht fest, dass der Mensch kein rein rationales Wesen ist,
sondern Tiefenschichten besitzt, die sich schon immer in Kunst und
Poesie widerspiegeln. Zu diesem Bereich der Person gehört aber auch
die menschliche Fähigkeit und Kraft zum Glauben. Diese Schichten des
Menschen sind einfach da. Sie bedürfen nicht nur der Kontrolle,
sondern auch der Betätigung.
Die Wurzel des religiösen Erlebens geht in die früheste Phase des
menschlichen Lebens zurück. Zwischen den Erlebnisqualitäten der Phase
der Einheit im Mutterleib, die auch "primäre Liebe",
"basic Trust" oder "Ur-Wir" genannt wird, und dem
religiösen Erleben dürfte eine enge Beziehung bestehen. Entsprechend
finden sich in der Mystik aller Schattierungen ergreifende
Beschreibungen, wie die Seele den verloren geglaubten Weg zur
Ureinheit zurücklegt. In tollkühner Spekulation ist für Spinoza die
"geistige Liebe zu Gott ein Teil der unendlichen Liebe, mit der
Gott sich selber liebt" und das Gebet "ein Teil des
unendlichen Gesprächs, das Gott mit sich selber führt".
Darum verlangt das Wissen, die Rationalität selbst, nach einer
Kraft, die diese irrationale Seite des Menschen bezeichnet. Sie heißt
Glaube. In nachsäkularer Zeit ist er zuweilen bei so genannten
Glaubenslosen zu beobachten, während Glaubende in tiefe Depressionen
fallen. Er drängt zur Sprache und will sich in seinem Erleben von
Geborgenheit, Angst und Glück mitteilen. Dies scheitert aber oft. Dann
bleibt es bei der ernüchternden Einsicht von Faust: "Gefühl ist
alles, Name ist Schall und Rauch." Gerade geboren, droht dem
Glauben des neuen Menschen also eine ähnliche Verdunstungsgefahr wie
zuvor dem christlichen Mythos. Und doch will er sich zu etwas erheben,
was vorher Gott genannt wurde. Er muss lobpreisen und beten können,
auch wenn es das, zu dem er beten möchte, gar nicht gibt. Daher findet
sich auch der neue Mensch selbst nach dem Tode Gottes in einer
Situation vor, die ihm den Dank gegenüber einer Instanz über sich
hinaus abfordert.
Rainer Maria Rilke sieht das ganze Leben als einen Ruf zur Rühmung
an: "Dass ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht,
Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln." Die "grimmige
Einsicht" bezeichnet das Sterben ohne christliche Vertröstung;
die Engel als die Mächte des Daseins rufen Menschen zum Dennoch eines
Lebens in Würde auf. Für den neuen Menschen gilt beides: die moderne
Wissenschaft, die ihn kränkt, weil sie den christlichen Mythos
destruiert hat, und der Glaube, der als vagabundierende Sehnsucht
gegen die Evidenz immer wieder seine Hand zu etwas Höherem hin
ausstreckt.
Zur Person
Gerd Lüdemann (54) ist Professor für Neues Testament in Göttingen.
Da er auf Grund seiner Forschungsergebnisse fundamentale Glaubenssätze
der evangelischen Kirche nicht mehr vertreten kann, wurde ihm auf
Betreiben der Kirche ein Sonderstatus an der theologischen Fakultät
zugewiesen. Sein Lehrstuhl wurde in "Geschichte und Literatur des
frühen Christentums" umbenannt
© DIE WOCHE Zeitungsverlag 2000
Glaube ohne Glauben - Unglaubliches zu Weihnachten - von INGO-WOLF
KITTEL Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Augsburg
Glauben ohne Glauben
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