Gerd Lüdemann's Homepage
Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 2001
Sonne der Gerechtigkeit: Amerika nach dem 11. September
von Gerd Lüdemann
Am Abend des 11. September fanden überall in Amerika Gottesdienste
statt, bei denen der Opfer und der Angehörigen der Attentate von New
York und Washington gedacht wurde. In zahlreichen Fällen schlug
Fürbitte in anhaltendes Wehklagen um. Zur gleichen Zeit trafen sich
Mitglieder des Kongresses und Stimmten spontan und vor laufender
Kamera in das patriotische Lied "God bless America" ein. Am
darauf folgenden Tag wurde in allen Schulen des Landes die
Nationalhymne gesungen und das Gelöbnis auf die Flagge ("Pledge
of Allegiance") gesprochen: "Ich gelobe Treue zur Flagge der
Vereinigten Staaten von Amerika und zur Republik, für die sie steht:
eine Nation unter Gott, unteilbar – Freiheit und Gerechtigkeit
für alle." Auf Außenstehende wirkt diese Zeremonie sentimental
oder gar nationalistisch. Für die meisten Amerikaner, die sie
–mit der rechten Hand aufs Herz – in der Grundschule
täglich eingeübt haben, ist dies anders. Das Gelöbnis drückt ihre
eigene Bindung an die Republik aus und hat dabei gleichzeitig
"Gott" im Blick, unter dem die Nation steht, auf den sie
baut und der darum die Amerikaner besonders in krisenhafter Zeit
segnen soll. Dieses stolze Bekenntnis amerikanischer Hoffnung steht
auf allen Dollarscheinen: "In God we trust". Es wäre sicher
verfehlt den in Amerika allgegenwärtigen Bezug auf Gott für reine
Rhetorik zu halten. 90% aller Bewohner der USA haben neuesten Umfragen
zufolge eine Beziehung zu Gott. Die mächtigste Nation der Welt ist
eine der frömmsten dieser Erde. Deren Religiosität zeichnet sich indes
durch eine enorme Vielfalt aus. Sie hat in den letzten 35 Jahren noch
kräftig zugenommen. Zur Zeit existieren 2000 verschiedene religiöse
Gemeinschaften – vor hundert Jahren waren es nur 350 –,
und mehr als die Hälfte der Gemeinschaften der Gegenwart wurden erst
nach 1965 gegründet. Zwei Drittel der Amerikaner – bei einer
Gesamtbevölkerung von knapp 300 Mio. – sind Mitglieder einer
christlichen Kirche. Sie verzweigt sich noch einmal in 1000
verschiedene Denominationen, von denen die römisch-katholische die
zahlenmäßig größte ist. Jüdische und muslimische Gläubige machen je 6
Mio. aus, wobei letztere durch Immigration und Kinderreichtum stark
zunehmen.
Die soeben geschilderte Vielfalt religiöser Bekenntnisse ist in
der Geschichte der USA begründet. Die Gründungsväter stellten durch
die strikte Trennung von Staat und Kirche die unbeschränkte Freiheit
der Religionsausübung sicher. Die Besiedlung Neuenglands war durch
religiöse Dissidenten erfolgt, deren Glaube bereits den Keim zu
weiterer Zersplitterung in sich trug. Von ihnen übten besonders die
Puritaner einen nachhaltigen Einfluss auf die spätere Republik aus.
Sie nannten Neuengland "Gottes neues Israel", woraus in der
Zeit der Republik "amerikanisches Israel" wurde. Der neue
Staat hieß in der Folgezeit auch die "Erlösernation", die
dem Rest der Welt das Licht, die Gerechtigkeit und die Freiheit
bringen sollte.
Trotz heftiger Kritik von intellektueller Seite haben die
Präsidenten in ihren programmatischen Reden der Versuchung nur selten
widerstanden, in den Ozean der großen mythischen Worte einzutauchen.
Die Nation hat ihnen Gehör geschenkt und sie als Führergestalten
anerkannt, die sich für die Durchsetzung des von Gott befohlenen
Konsenses der Grundwerte verbürgen. Dieser Vorgang spiegelt eine
gewisse Dimension von Transzendenz wider, ohne die für die meisten
Amerikaner der Sinn des Lebens bedroht wäre. Der Watergate-Skandal um
Richard Nixon oder die durch puritanische Eiferer in die
Öffentlichkeit lancierte Sexaffäre von Bill Clinton konnten diese
grundsätzliche Übereinstimmung nicht gefährden. Wohl aber zeichnet
sich inzwischen die Entwicklung ab, dass Träger des obersten
Staatsamtes "wiedergeboren" sein müssen, konkret: eine
Bekehrung zu Christus hin erfahren haben. Den Anfang machte Jimmy
Carter. Bei der letzten Wahl bezeichneten sich beide Kandidaten,
sowohl der Demokrat Gore als auch der Republikaner Bush, als
wiedergeboren, und der Kandidat der Demokraten für das Amt des
Vizepräsidenten, Lieberman, präsentierte sich der Öffentlichkeit gar
als wiedergeborener Jude – ein Hinweis darauf, wie in Zukunft
die Kandidaten aus anderen Religionen beschaffen sein müssen. All das
bedeutet aber auch, dass ein Amerikaner, der als Atheist gilt, kein
öffentliches Amt und schon gar nicht das des Präsidenten bekleiden
wird. Der Rede von Präsident Bush vor dem Kongress am 20. September
liegen die Grundwerte der amerikanischen Republik zugrunde: Freiheit,
Gerechtigkeit, die Führungsmacht Amerikas im Kampf gegen das Böse und
Gott als jemand, der nicht neutral bleibt, sondern für die Vereinigten
Staaten Partei ergreift. Die verschiedenen Namen für den Krieg,
"Allumfassende Gerechtigkeit" (infinite justice) und
neuerdings "Anhaltende Freiheit" (enduring freedom), liegen
auf derselben Linie. Mit der Rede ihres Präsidenten waren 95% der
Amerikaner zufrieden. Die Trauer über das entsetzliche Geschehen wich
einem uramerikanischen, patriotischen Kampfgeist. Der Kongress
erteilte dem obersten Befehlshaber (commander in chief) bei nur einer
Gegenstimme die Vollmacht, Krieghandlungen vorzunehmen gegen Feinde,
die von ihm erst noch zu bestimmen waren.
Zur Zeit gibt es in dieser Frage weder eine parlamentarische
Opposition noch Kritik in den Medien. Dort, wo sie geäußert wird,
moniert man zunächst allgemein, dass die amerikanische Regierung mit
zweierlei Maß gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft messe
(man vgl. zuletzt die Nicht-Unterzeichnung des Klimaschutzabkommens)
und sich dennoch in einer moralischen Führungsrolle gegenüber allen
anderen sehe. Sodann empfehlen die Kritiker unter Verweis auf die
anhaltende Stärke der USA eine moderate Reaktion und erinnern
gleichzeitig an die auch gegen Zivilisten gerichteten Attacken unter
Beteiligung Amerikas: in Indonesien unter Suharto (1965), in
Kambodscha (1970), in Nicaragua und im Irak-Krieg, wo infolge der
gezielten Bombardierung von elektrischen Anlagen und Wasserleitungen
Tausende von Zivilisten ihr Leben lassen mussten. Der besonders durch
die zuletzt genannte Aktion eingetretene Verlust von Glaubwürdigkeit
in der arabischen Welt müsse bei der Vorbereitung einer gerechten
Antwort auf die Anschläge unbedingt berücksichtigt werden. Diese
Stimmen verhallen fast ungehört. Die schwarze Abgeordnete aus
Berkeley, die als einzige gegen die Resolution des Kongresses stimmte,
erhielt Morddrohungen. Amerika will diesen Krieg jetzt auskämpfen, um
so mehr, als in der Geschichte der USA ein Krieg zum ersten Mal von
außen nach Amerika hineingetragen wurde. Pearl-Harbor-Veteranen
sprechen im Fernsehen darüber, wie sie damals der Demütigung durch die
Japaner widerstanden haben, und Überlebende der jetzigen Katastrophen
sowie Angehörige der Opfer legten nicht lange nach dem 11. September
Zeugnis für den unerschütterlichen Mut Amerikas und seinen
Patriotismus ab.
Dieser lässt sich zur Zeit auch nicht vor den Karren des
christlichen Fundamentalismus spannen. Dies bekam ein prominenter
Vertreter der religiösen Rechten, Jerry Falwell, zu spüren, als er
unmittelbar nach den Anschlägen unter Hinweis auf den moralischen
Zerfall der amerikanischen Gesellschaft erklärte: "Wir haben
bekommen, was wir verdienen." Doch musste er diese Äußerung
öffentlich widerrufen. Zu groß war die allgemeine Empörung über seine
aus der Bibel gewonnene Deutung der nationalen Tragödie vom 11.
September.
Es ist so, wie Präsident Bush am 20. September sagte: Trauer ist
in Wut umgeschlagen und inzwischen ist daraus ein richtiger Krieg
geworden. Dieser Mechanismus schützt nicht wenige vor der Frage, warum
Gott die Tragödie vom 11. September hat zulassen können. Ein weiterer
Grund, warum der Gottesgedanke nicht selbst in eine Krise gerät, liegt
darin, dass Gott mit dem Sendungsbewusstsein der Nation verschmolzen
ist. Und schließlich glauben viele Amerikaner dem wörtlich
verstandenen Zeugnis der Bibel, das Opfern wie Gläubigen ein
glückliches Leben im Jenseits verheißt, wo Gott abwischen wird alle
Tränen.
Die islamischen Terroristen von New York und Washington hatten das
gleiche himmlische Ziel. Dies geht aus den erschütternden
Selbstzeugnissen hervor, die sich in ihrem irrtümlich fehlgeleiteten
Gepäck befanden. Sie beanspruchten ebenso wie alle anderen Muslime
auch, den Gott Abrahams auf ihrer Seite zu haben. Den Weg in den
Himmel wollten sie sich freilich anders bahnen, durch Tötung von
"Ungläubigen" und durch "Selbstopferung".
Es wäre zu wenig, bei der Verurteilung ihrer Gräueltaten
stehenzubleiben. Man muss diese zu verstehen suchen. Wie steht es mit
ähnlichen Gewaltakten von Juden und Christen? Hier kommt auf
christlicher Seite David Koresh in den Blick und auf jüdischer Yigel
Amir, der den Premierminister von Israel, Yitzhak Rabin, auf Befehl
Gottes tötete. Ein gemeinsamer Nenner dieser religiösen Extremisten
besteht wohl darin, dass sie die Propagierung eines religiösen
Pluralismus für einen kulturellen Genozid halten und entsprechend
auszurotten suchen. Demgegenüber haben nicht wenige Vertreter von
Christentum, Judentum und Islam das Wort "Pluralismus" auf
ihre Fahne geschrieben und sich in der modernen Welt eingerichtet.
Indes ist daran zu erinnern, dass nicht nur der Koran Befehle zu
Gewaltakten gegen Ungläubige enthält, sondern auch die biblischen
Schriften, auf die sich Juden wie Christen gleichermaßen berufen. So
wurden die Kanaanäer auf Befehl Gottes ausgemerzt und der Verfasser
der Offenbarung des Johannes schwelgt in blutrünstiger Phantasie
darüber, wie der römische Feind umgebracht wird. Juden, Christen und
Muslime könnten die schreckliche Tat vom 11. September als Anlass zum
Nachdenken darüber nehmen, wie viel von ihrer Religion noch übrig
bleibt, wenn sie sich der grausamen Teile ihrer jeweiligen Heiligen
Schrift entledigt haben. Am Ende nämlich muss Gott selbst abgerüstet
werden, der allenthalben der "Herr" genannt wird. Denn auch
ein solcher "Herr" ist allem pluralistischem Denken feind
und hat in einer Demokratie, wo es um Mehrheiten geht, keinen Platz.
Wer trotzdem an Gott, dem "Herrn" festhalten will, gleicht
einem Krieger, der sich um eine herrenlos gewordene Flagge schart,
ohne zu merken, dass sein "Herr" längst gefallen ist.
(Eine leicht gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien in:
Publik-Forum, Nummer 22, vom 23. November 2001, S. 39-40.)