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Die Bibel ist Menschenwort

Zum Vortrag von Prof. Dr. Gerd Lüdemann

in der St. Katharinenkirche am 27.1.1997 in Hamburg

Zur grundlegenden Einsicht der historisch-kritischen Methode gehört das Wissen darum, daß die Dokumente der Bibel ausschließlich in geschichtlichen Situationen verankert sind. Sie gilt der Wissenschaft daher heute als Menschen- und nicht als Gotteswort. Gott als fraglose letzte Autorität kann nicht Gegenstand der Forschung sein. Wir wissen heute, daß Luther sich täuschte, als er noch seine Schriftauslegung mit der Botschaft der Bibel gleichsetzte. Nur unter völliger Ausblendung der frühchristlichen Geschichte kann man davon ausgehen, daß der Gehalt der biblischen Botschaft damals wie heute identisch geblieben ist, oder daß der Prozeß der Kanonbildung vorherbestimmt war. Nur wer auch heute noch die geschichtliche Entstehung der Bibel leugnet, kann behaupten, daß die in der Bibel zu Wort kommenden Verfasser über ihre Zeitgenossen hinaus auch jene Menschen angeredet haben, die später ihre Worte lesen würden.

Der historische Abstand zwischen dem frühchristlichen Zeitalter und der heutigen Kirche ist die Ursache für einen krisenhaften Strudel geworden, der liebgewonnene Gewohnheiten unbarmherzig mit sich in die Tiefe reißt. Die historische Kritik entdeckte diesen garstigen Graben und lebt seither aus der atheistischen Radikalität ihres Fragens, dem es um die Aufdeckung und Aufhellung vergangener Geschichte geht. Die unhintergehbare Eigenständigkeit der historischen Kritik allein schützt auch heute gegen eine einseitige kirchliche Vereinnahmung der Geschichte.

Entgegen diesen gesicherten wissenschaftlichen Einsichten gilt die Bibel den Kirchen immer noch als Anrede Gottes, selbst wenn diese Anrede in und durch Menschenwort geschieht. Diese Auffassung beruht jedoch auf einem naiv-durchtriebenen Schriftverständnis, das sich an seiner Oberfläche zwar historisch-kritisch gibt, aber gleichzeitig die historische Kritik zurechtstutzt und diffamiert. Unter ihrer Oberfläche gibt sie letztlich einen Fundamentalismus zu erkennen.

Im Zuge dieses Schriftverständnisses wurden die Ergebnisse der historischen Kritik von kirchlichen Vertretern innerhalb von Theologie und Kirche unterdrückt und allenfalls geschönt oder nur höchst selektiv an die Öffentlichkeit weitergegeben. Im Vorwort zu der revidierten Lutherbibel aus dem Jahre 1984 heißt es in der "Vorrede zur Heiligen Schrift", daß die Bibel allen Menschen die gute Nachricht von Gottes Barmherzigkeit ausrichten will.

Ich wende mich der Bibel von ihrer häßlichen und verdrängten Seite zu und zeige, daß die Botschaft von der Liebe Gottes für alle Menschen nicht wirklich zutreffen kann: Die Bibel sagt es selbst.

Als Historiker befreie ich die Bibel aus ihrem dogmatischen Korsett und stoße zum Grund der damaligen Wirklichkeit vor, die uns die andere, brutale Seite der Bibel ungeschminkt vor Augen führt: Gewalt wird im Namen Gottes glorifiziert, Intoleranz geht mit dem Erwählungsbewußtsein einher und steigert sich wahnhaft. So enthalten z.B. alltestamentliche Texte den rücksichtslosen Befehl Gottes, ganze Völker im Heiligen Krieg rituell auszurotten. Der Heilige Krieg blieb zwar mehr Wunsch und Fiktion, als er Realität werden konnte. Trotzdem erweckt es unsere Abscheu, daß die Abschlachtung von allen besiegten Frauen, Kindern und Männern als Gebot Gottes gilt, auf dessen Einhaltung Gott immer wieder strikt bestand. Auch Mischehen sollten aufgelöst werden, um der angeblichen Erwählung Israels durch Gott zu entsprechen. Gepriesen wird in der Bibel derjenige Rächer, der die jungen Kinder des Feindes Israels, der Babylonier, nimmt und sie am Felsen zerschmettert. Gewalt bleibt Gewalt, ihr muß widersprochen werden, auch wenn sie von Gott höchstpersönlich angeordnet sein sollte.

Neutestamentliche Texte stempeln die gesamte jüdische Bevölkerung, die in Jesus von Nazareth nicht den erwarteten Messias erblicken kann, kurzerhand zu Feinden Gottes und schließen sie von seiner Barmherzigkeit aus. In den Passionsgeschichten findet sich eine derart manipulierte Geschichte des Lebens Jesu, daß Jesus dort selbst als Messias seinem Volk die Schuld an seinem Tod anlastet und den Juden die Selbstverfluchung an einer Stelle sogar in den Mund gelegt wird. Die Evangelien verwischen die Schuld der Römer am Tode Jesu, so daß der brutale Pontius Pilatus am Ende sogar als Christenfreund in die Geschichte eingehen konnte. Die jüdische Niederlage gegen die römische Besatzungsmacht und die Zerstörung des Tempels interpretieren die frühen Christen als Gottes gerechte Strafe. Die aufkeimende heidenchristliche Kirche spricht der jüdischen Religionsgemeinschaft das Existenzrecht ab und ruft sich selbst zu ihrem Erben aus.

Dieser erschütternde Antijudaismus ist nur die Spitze eines Eisberges. In seiner Entstehung und seinem gesamten Ausmaß ist er die linke Hand der christlichen Verkündigung über Christus.

Die Tragödie des christlichen Antijudaismus beruht darin, daß das christliche Erwählungsbewußtsein nur deshalb entstehen konnte, weil die Kirche die Ausschließlichkeit des jüdischen Gottesgedankens übernommen und auf sich selbst bezogen hat. Diese einseitige Übernahme entfaltete eine zerstörerische Wirkung. Es ist erschütternd, daß die Kirche ihre Gewalt gegen ihren eigenen Ursprung, das jüdische Volk wendete und eine Unheilsgeschichte sondergleichen entfachte. Ihre blutigen Schatten reichen von endlosen Diskriminierungen über die Kreuzzüge und konnten bis in die Konzentrationslager des Naziregims ihre grausige Wirkung entfalten.

Die historische Kritik kann daher nicht vor dem Inhalt der biblischen Texte haltmachen. Sie muß sich dem geschichtlichen Befund stellen, daß Grausamkeit, Intoleranz und Konkurrenzkampf in der Bibel von Gott verordnet oder legitimiert werden. Sie hat die geschichtliche Wirkung dieser religiösen Propaganda und ihrer Gewaltutopien ernstzunehmen und gegen theologische Verharmlosung und inhaltliche Entleerung zu schützen.

Die historisch-kritische Methode ist der Aufklärung verpflichtet. Sie hat, anders als die bloße Deutung der Texte, ein Gewissen. Sie entblößt die Maskerade der Interpretation im Umgang mit den biblischen Texten. Sie führt die Dogmatik auf den Boden der oftmals brutalen Tatsachen zurück.

Ouelle: Gerd Lüdemann, das Unheilige in der heiligen Schrift. Die andere Seite der Bibel, 1996, Radius-Uerlag.


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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