Gerd Lüdemann's Homepage
Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 1996
Gerd Lüdemann antwortet auf den offenen Brief von Gerhard Isermann
Aus "dogmatischen Eierschalen" geschlüpft
Die Auseinandersetzungen um den Göttinger Neutestamentler
Professor Gerd Lüdemann gehen in eine weitere Runde. Sein neues Buch
"Ketzer" und Interviews in Zeitungen haben zu Kritik und
Angriffen durch Kollegen und Vertreter der hannoverschen Landeskirche
geführt. Die Evangelische Zeitung hat darüber berichtet. Lüdemann, dem
inzwischen auch die Prüfungsberechtigung für theologische
Examenskandidaten entzogen wurde, antwortet im folgenden auf den Brief
des Herausgebers der Evangelischen Zeitung, Pastor Gerhard Isermann
(siehe EZ-Ausgabe Nr. 1O).
Sehr geehrter Herr Pastor Isermann! Ihr öffentlicher Brief vom
11.3. verlangt eine umgehende Antwort, besonders auch im Interesse der
Leserschaft der EZ. Ich gehe im Folgenden die von Ihnen angesprochenen
Punkte durch und schließe als Abrundung einen persönlichen Rückblick
an.
1. Sie finden meine Aussage unglaubhaft, daß Pastoren unserer
Landeskirche gezwungen wurden, Bücher aus dem Verkehr zu ziehen, und
verlangen von mir, Roß und Reiter zu nennen. Erwarten Sie von mir
ernsthaft, daß ich die berufliche Existenz dieser Personen aufs Spiel
setze? Mindestens ein Fall ist mir persönlich bekannt und zwei andere
Fälle, wo Pastoren nach Hannover zitiert wurden, weil sie sich zu sehr
für Drewermann eingesetzt hatten. Ich behaupte nach wie vor steif und
fest, daß die Freiheit der Pastoren unserer Landeskirche sehr begrenzt
ist, während man Professoren gegenüber, aus welchen Gründen auch
immer, viel großzügiger ist. Diese Großzügigkeit zeigte sich auch
darin, daß in meiner Fakultät reihenweise Kollegen nachträglich vom
Landesbischof selbst ordiniert wurden, obwohl sie gar kein Pfarramt
versehen. Wie muß das nur auf "einfache" Pastoren gewirkt
haben?
2. Sie behaupten, die Kirche halte Forschungsergebnisse nicht von
den Gemeinden fern. Ich muß gestehen, daß ich bis vor kurzem auch
ihrer Meinung war. Die Reaktion auf mein Auferstehungsbuch und
Diskussionen mit Gemeindegliedern während vieler Vorträge haben mich
eines Besseren belehrt. Denn welcher Pastor oder Kirchenoberer wagt
schon, öffentlich zu sagen, daß Jesus verwest ist und daß die Jünger
Visionen hatten? Stattdessen, so meine Erfahrung, wird ausweichend
formuliert, die Grabesgeschichten seien jüngeren Ursprungs, oder Jesus
sei in die Verkündigung auferstanden, was ich inzwischen nur noch als
Zwecklüge ansehen kann.
Ein Beispiel für die Unehrlichkeit ist unser gegenwärtiger
Landesbischof Horst Hirschler, der in einem Gespräch mit mir sagte,
seiner Meinung nach sei, historisch geurteilt, das Grab voll gewesen,
davon öffentlich aber nichts verlauten läßt und sich unverzüglich um
eine theologische Deutung bemüht. Wer wagt ferner, offen zu sagen, daß
die Wiederkunft Jesu ausgeblieben ist und weiter ausbleiben wird?
Ich behaupte also weiter steif und fest, daß den Gemeinden in
historischer Hinsicht nur die halbe Wahrheit zugemutet wird und damit
keine Wahrheit. Denn entweder gilt die historische Methode ganz, oder
sie gilt gar nicht. Ja, ich bin dankbar dafür, daß die Evangelische
Zeitung mich im Februar 1994 ausführlich zu Worte kommen ließ.
Aber meine Antwort auf Landesbischof Hirschler vom 16. Oktober,
die Sie auch anführen, wurde in wesentlichen Punkten redaktionell
gekürzt und sogar teilweise entstellt. Schließlich: Warum wurde mein
Ketzerbuch bisher in der Evangelischen Zeitung nicht besprochen?
3. Sie unterstellen mir einen moralischen Begriff der Sünde, wenn
ich Jesus als nicht sündlos hinstellte. Dagegen halten Sie die Aussage
des neuesten Erwachsenenkatechismus, nach dem Sünde die verkehrte
Richtung des ganzen menschlichen Wesens bezeichne, und verweisen auf
meine Aussage vom Februar 1994, nach der in Jesus das ganze göttliche
Sein gegenwärtig gewesen sei. Zugegeben, so habe ich 1994 im Interview
im Anschluß an Tillich formuliert, könnte das aber heute nicht mehr,
weil ich aus meinen dogmatisch-phraseologischen Eierschalen vollends
ausgeschlüpft bin und mich um eine noch größere Nähe zum historischen
"Objekt" bemühe, koste es, was es wolle.
So habe ich jetzt bei der Stellungnahme zu Jesu Sündlosigkeit Jesu
eigenes Verständnis von Sünde zugrunde gelegt, gemäß dem er nicht
sündlos gewesen sein kann, denn für ihn war allein Gott gut. Sie reden
in diesem Punkt an mir vorbei und hätten meinen Ansatz zur
Sündlosigkeit Jesu auf S. 214-216 des Ketzerbuches erschöpfend
dargestellt finden können.
4. Das führt mich zu einer allgemeinen Frage an Sie. Warum haben
Sie als gewissenhaft recherchierender Journalist mein Ketzerbuch nicht
zur Begründung der von mir in den Evangelischen Kommentaren und im
Spiegel gemachten Aussagen herangezogen? Dieser Pflicht haben sich
selbst Nicht-Theologen unterzogen, die über die Kontroverse
geschrieben haben. Ich schreibe Bücher doch nicht für die
Bibliotheken, sondern auch um Veränderungen anzubahnen. Und in Kap.
8-9 (S. 189-212) habe ich sowohl begründet, warum das Credo im
Gottesdienst nicht mehr gebraucht werden kann (und demgemäß Pfarrer
nicht mehr darauf ordiniert werden können), als auch, warum die Bibel
nicht Gottes Wort ist. (Ihre Bemerkung, die Bibel sei Menschenwort und
Gotteswort schafft - bei genauerem Hinsehen - mehr Schwierigkeiten als
Lösungen, denn wer entscheidet über das Verhältnis beider Größen
zueinander?) Wenn trotzdem auf Schrift und Bekenntnis ordiniert wird -
trotz besseren historischen Wissens (!) - dann liegt objektiv
Schizophrenie vor, wobei ich gleichzeitig betone, daß ich einzelne
Pfarrer wie Sie damit gar nicht angreife oder gar die Kirche
diffamiere.
Ich hatte mich ähnlich schon im Vorwort zur Neuausgabe des
Auferstehungsbuches (Frühjahr 1994) geäußert, ohne daß ich als Prüfer
ausgeladen wurde. Wenn trotzdem so viele an meinen Äußerungen Anstoß
nehmen, so sollte das vielleicht Anlaß sein, darüber nachzudenken, ob
an meinem Vorwurf auch subjektiv etwas ist.
Aber noch einmal: Ich habe in diesen Dingen wissenschaftliche
Urteile gefällt und keineswegs ein Schimpfwort ausgestoßen, wie Sie
mir boshaft unterstellen. Freilich sei zugegeben, daß ich mich zur
Frage der Beibehaltung des apostolischen Glaubensbekenntnisses vor gut
zwei Jahren noch anders geäußert habe.
5. Damit komme ich zu einigen persönlichen Bemerkungen. Die
letzten fünf Jahre haben mir die Naivität im Umgang mit Kirche und
Theologie genommen, ja, das Urvertrauen in meine Landeskirche und
ihren Bischof geraubt. Dies ging Hand in Hand mit einer noch
radikaleren Handhabung der historischen Methode und mit einem noch
stärkenen Willen, Jesus so zu verstehen, wie er wirklich war, und
nicht so, wie frühe kirchliche Überlieferung ihn frisierte.
Daher auch die Veränderung meines Urteils in einigen Punkten und
daher auch mein Rückzug aus literarischen Projekten mit Ihnen. Als ich
1992 meine Kritik an Drewermann publizierte, schrien die Kirchenoberen
Hurra, weil das Kirchenvolk und manche Pfarrer Gefallen an jenem
Ketzer fanden. Ich fühlte mich aber mißverstanden (vgl. bereits meine
Befürchtung in der letzten Anmerkung des Buches, daß viele in Kirche
und Theologie gar nicht mehr nach der Wahrheit suchen).
Beim Auferstehungsbuch erlebte ich, daß keine kirchliche Stelle
protestierte, als mich mein Erstverleger vor die Tür setzte - dies,
obwohl dieser Verleger gut an der Kirche verdient. Weiter erfuhr ich,
wie der gegenwärtige Landesbischof mit mir sprach, aber entgegen aller
Absprachen mit Inhaltsfetzen dieses Gesprächs vor die Synode ging und
daraus - natürlich unter Kritik an meinem Buch - in der Zeitschrift
mit dem schönen Namen "Dialog" publizierte, ohne mich zu
einer Replik einzuladen. Gewissermaßen als Krönung dieses Vorgehens
äußert er nun öffentlich den Verdacht, ich wolle ja nur geschlagen
werden, und behauptet, meine Arbeit sei wissenschaftlich unzureichend.
Ich vermisse bei all diesen Dingen die Argumente und hoffe, daß
der Landesbischof zu einer öffentlichen Disputation mit mir bereit
sein wird. Alles andere wäre unglaubwürdig, und um die Glaubwürdigkeit
von Kirche und Theologie geht es hier doch vor allem, Herr Pastor
Isermann.
Um meine Glaubwürdigkeit zu erschüttern, haben Sie den offenen
Brief an mich gerichtet. Ich habe Ihnen darauf in einer Offenheit
geantwortet, die hoffentlich auch Sie entwaffnen wird. Falls Sie
weitere Widersprüche in meinen Äußerungen aufspüren sollten, so sei
Ihnen versichert: Nur wer lügt, muß auf totalen Ausgleich aller
Aussagen bedacht sein.
Ich werde weiter nach der Wahrheit suchen, eigene Positionen bei
treffenden Gegenargumenten korrigieren und weiß zudem, warum es sich
lohnt, fortan den Ausgangspunkt nur bei Jesus und nicht bei den
wiedersprüchlichen kirchlichen Überlieferungen über ihn zu nehmen.
"Honest to Jesus", ehrlich im Umgang mit Jesus, wäre der
durchaus lohnende Titel eines neuen Buches.
Gerd Lüdemann
(Evangelische Zeitung, 31. März 1996)