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Dermaptera
Ordo Dermaptera
Ohrwürmer
 
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Überblick

Die Dermaptera sind eine vergleichsweise artenarme Insektengruppe. Die meisten der etwa 2.000 Arten kommen in tropischen und subtropischen Gebieten vor, in Deutschland ist die Gruppe nur mit einer Handvoll Arten vertreten. Die meisten Arten sind klein (3-5 mm) bis mittelgroß (ca. 1-1,5 cm). Die größte Art ist mit einer Körperlänge von fast 9 cm der Herkulesohrwurm Labidura herculeana. Diese flugunfähige Art ist auf der Insel St. Helena im Südatlantik endemisch, gilt jedoch inzwischen als ausgerottet, da es seit Jahrzehnten keine Lebendsichtungen der Art mehr gab.
Die Dermaptera sind dämmerungs- und nachtaktiv und halten sich tagsüber gern in engen, dunklen Schlupfwinkeln auf (z. B. unter Baumrinde, liegendem Totholz und Steinen oder in Bodenspalten, Falllaub, Sand). Wie ihr Name suggeriert, können sie dabei tatsächlich auch Körperöffnungen von Tieren (z. B. den äußeren Gehörgang des Ohrs) aufsuchen. Die Volkserzählung, dass die Ohrwürmer nachts in das Ohr schlafender Menschen krabbeln und von dort bis in das Gehirn vordringen, ist jedoch nicht wahr. Die Schlafenszeit der meisten Menschen (=nachts) fällt mit der Aktivitätsphase der Dermaptera zusammen, in der die Tiere also keine Schlupfwinkel aufsuchen. Falls es trotzdem einmal vorkommt, dass ein Tier den Gehörgang eines Menschen als Schlupfwinkel aufgesucht hat, verletzen die Tiere das Ohr nicht. Bei dem Versuch die Tiere zu entfernen, kann es jedoch zu oberflächlichen Reizungen des Gehörgangs und des Trommelfells kommen, hervorgerufen durch die Verteidigungsflüssigkeit der Tiere (siehe z. B. Fisher 1986; Jeong et al. 2021).
Die Färbung der Dermaptera ist überwiegend schwarz oder braun, nur wenige Arten haben zusätzliche Zeichnungselemente wie z. B. hellere Punkte oder Streifen. Der Körper der Tiere ist langgestreckt und abgeflacht. Der Kopf trägt kauend-beißende, nach vorn gestreckte (prognathe) Mundgliedmaßen und vielgliedrige (6 bis 15 Antennomere) fadenförmige Antennen. Die Kauladen des Labiums (Glossae und Paraglossae) sind miteinander verschmolzen und bilden dadurch eine einheitliche Unterlippe. Die Komplexaugen sind bei den meisten Arten gut entwickelt, sind bei manchen parasitischen Arten aber stark reduziert. Scheitelaugen (Ocellen) fehlen bei den rezenten Arten immer.
Die drei Thoraxsegmente sind gegeneinander frei beweglich. Die Tarsengliederung ist reduziert, es sind an allen Laufbeinen nur 3 Tarsenglieder vorhanden, die bei vielen Arten verschiedenartige Haftstrukturen besitzen (Haas & Gorb 2004). Die Flügel sind bei vielen Arten zurückgebildet oder fehlen völlig; wenn Vorderflügel vorhanden sind, sind sie stets verkürzt und stark sklerotisiert. Sie bilden die Deckflügel (Elytren) für die überwiegend häutigen Hinterflügel, sofern diese vorhanden sind. Wenn gut ausgebildete Hinterflügel vorhanden sind, sind die Tiere meist auch flugfähig. Die Hinterflügel werden dann in der Ruhe in einem komplexen Faltvorgang zusammengefaltet und unter die Elytren verpackt. Die Faltung der Hinterflügel wird durch spezielle Gelenkfalten in der Flügelfläche ermöglicht. So können die Hinterflügel wie ein Fächer zusammengelegt und an den Gelenkfalten nochmals nach oben und unten abgeknickt werden. Die Hinterflügelfläche reduziert sich dabei auf etwa 10% der Fläche des ausgefalteten Flügels. Trotzdem stehen bei vielen Arten die Hinterflügel teilweise unter den Elytren hervor. Das Zusammenfalten geschieht von selbst, da die Hinterflügel von Resilineinlagerungen durchzogen sind, die in den Hinterflügeln eine interne Spannung erzeugen, die wie Gummibänder entlang der Flügelfläche nach innen (d. h. zum Zusammenfalten) ziehen (Haas et al. 2000). Das bedeutet gleichzeitig, dass die Entfaltung der Flügel ein aktiver Prozess ist, der gegen die Resilinspannung anarbeiten muss. Zusätzlich können die Gelenkfalten nach erfolgter Faltung eingerastet werden, so dass ein unbeabsichtigtes Wiedereinfalten wegen des andauernden Zugs der Resilinspannung vermieden wird. Flugfähige Arten benutzen für dieses Auspacken und Ausfalten der Hinterflügel die beweglichen Cerci am Ende ihres Hinterleibs.

Abb. 1: Schematische Darstellung der Ovarien bei Dermaptera. (A) Viele Arten (u.a. die Forficulidae) haben ein Ovar aus typischen polytroph-meroistisches Ovariolen. (B) Manche Arten besitzen einen abgewandelten Aufbau des Ovars, bei denen die Ovariolen aus einem einzigen Follikel bestehen und damit alle Follikel direkt am Ovidukt ansetzen. Farbenerklärung: Rot - Ovidukt; Blau - Follikel; Schwarz - Germarium. Vereinfacht nach Tworzydlo et al. 2010.

Das Abdomen der meisten Arten trägt an seinem Ende ein Paar langer, stark sklerotisierter Cerci, die vor allem bei den Männchen zangenartig gebogen und mit Zähnchen und Dornen versehen sind ("Kneifzangen"). Die Cerci erfüllen vielfältige Aufgaben. Bei flugfähigen Arten nutzen beide Geschlechter die Cerci, um das Hinterflügelpaket vor dem Start zu entfalten; das Zusammenfalten nach der Landung gelingt jedoch bei den meisten Arten ohne Hilfe der Cerci. Mit den Cerci werden auch andere Insekten (einschließlich Artgenossen) ergriffen und abgewehrt, die Körperoberfläche gereinigt, und auch bei der Paarung werden die Cerci bei manchen Arten eingesetzt, damit die Männchen das Abdomen der Weibchen ergreifen und in Kopulationsstellung bringen können. Die Männchen bilden am Abdomen noch einen 10. Tergiten aus, während die Weibchen nur 8 oder 9 Tergite ausbilden. Tergite bzw. Sternite der Abdominalsegmente überlappen die Tergite bzw. Sternite des jeweils nachfolgenden Segments, weshalb sie gut übereinander geschoben werden können und so dem Abdomen der Dermaptera eine außerordentliche Beweglichkeit verleihen.  Am 9. Abdominalsegment sitzt bei beiden Geschlechtern die Geschlechtsöffung. Die inneren Geschlechtsorgane der Weibchen (Ovarien) bestehen aus einzelnen Ovariolen vom meroistisch-polytrophen Typus (Abb. 1), jede Eikammer (Follikel) ist also in ein Eifach und ein Nährfach unterteilt (Tworzydlo & Bilinski 2008; Tworzydlo et al. 2010). Die Weibchen besitzen einen dünnen Ovipositor zur Eiablage, bei den Männchen mancher Arten gibt es ein penisartiges Begattungsorgan. Am 3. und 4. Abdominalsegment besitzen die meisten Arten je ein Drüsenpaar, aus denen eine Abwehrflüssigkeit abgesondert werden kann. Die Abwehrflüssigkeit enthält unter anderem Benzochinon und kann von vielen Arten gezielt versprüht werden.
Das Nervensystem zeigt im Bereich des Bauchmarks sekundäre Konzentrationen durch Zusammenfassung von Einzelganglien zu Synganglien; es sind im Abdomen nur insgesamt 6 (Syn-)Ganglien vorhanden und das Ganglion des ersten Absominalsegments ist mit dem Ganglion des dritten Thorakalsegments zu einem einheitlichen Synganglion verschmolzen. Im Verdauungs- und Exkretionssystem fallen der große Kropf im vorderen Abschnitt des Verdauungstraktes, der stark entwickelte Fettkörper mit Speicherfunktion für Harnsäure und die zahlreichen (5-15), fadenförmigen Malpighischen Gefäße auf. Das Atmungssystem besteht aus gut ausgebildeten Tracheen, es fehlen jedoch Aussackungen und Luftsäcke.
Die Dermaptera sind größtenteils Allesfresser, die Larven und die Imagines ernähren sich überwiegend gleich; den Hauptteil (ca. 70%) der Nahrung bilden pflanzliche Materialien und Pilze, zu etwa 30% wird jedoch auch tierisches Material aufgenommen, meist als totes Material (Saprophagie), manche Arten ernähren sich aber auch räuberisch.
Der Paarung geht oft ein Balzverhalten voraus, die Männchen mancher Arten vollführen einen kurzen Balztanz. Die Weibchen paaren sich üblicherweise mit mehreren Männchen und speichern das Sperma in Receptacula seminis (auch als Spermathecae bezeichnet). Wenige Arten sind lebendgebärend (vivipar), die allermeisten Arten legen Eier, meist in Gelegen zu bis zu 50 oder mehr Eiern. Bei vielen Arten kommt umfangreiche Brutpflege durch das Weibchen vor; es werden sowohl Nester für das Gelege gebaut, als auch die Gelege bewacht, gesäubert und umgeschichtet. Ohne diese Fürsorge durch die Mutter verpilzen die Gelege schnell und sterben ab. Manche Arten sammeln Nahrungsvorräte für die Nachkommen beim Gelege oder umsorgen die Nachkommen auch noch nach dem Schlüpfen. Die ersten Larvenstadien sind wenig pigmentiert und noch vergleichsweise unreif (z. B. geringe Zahl von Fühlergliedern, noch fädige, segmentierte und weiche Cerci, Flügelanlagen erscheinen sehr spät). Nach 4 oder 5 (sehr selten 6) Larvenstadien (Nymphen) ist die Imago erreicht (hemimetabole Entwicklung).
Die Systematik der Dermaptera ist ein interessantes zoologisches Problem, denn trotz einiger sehr sorgfältiger Studien sind die Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Dermaptera völlig ungeklärt. Weder das Studium morphologischer Merkmale (Jarvis et al. 2005), oder von fossilen Formen (Zhao et al. 2010), noch die phylogenetische Analyse von DNA-Sequenzen (Kocarek et al. 2013; Naegele et al. 2016; Wipfler et al. 2020) konnten bisher ein einheitliches Bild liefern. Traditionell wird der Großteil der Dermaptera in eine Gruppe Forficulina eingeteilt, der zwei stark abgeleitete epizoisch lebende Gruppen Arixenina und Hemimerina gegenübergestellt werden. Die Arixenina kommen mit 5 Arten in Südostasien vor und leben in der Gesellschaft von Fledermäusen. Sie haben reduzierte Augen, sind flügellos und die kurzen Cerci können nicht zangenartig geschlossen werden. Die Hemimerina kommen mit 11 Arten im tropischen Afrika vor und leben im Fell von Hamsterratten. Sie sind völlig blind und flügellos und haben unbewegliche, fadenförmige Cerci. Beide Gruppen sind ganz offensichtlich durch ihre epizoische und möglicherweise ektoparasitische Lebensweise stark abgeleitet, und es ist inzwischen klar, dass sie keine basalen Gruppen im Stammbaum der Dermaptera darstellen, sondern weiter oben im Stammbaum aus "höheren" Dermaptera hervorgegangen sind. Die bisher verfügbaren Analysen widersprechen sich jedoch in so vielfacher Weise, so dass man noch keinen Konsensus feststellen kann, und ich hier deshalb auch die Gruppierungen, die in diesen Stammbäumen abgegrenzt werden (z. B. Epidermaptera, Eudermaptera, Protodermaptera), nicht verwende. Beachtenswert ist aber vor allem, dass in diesen Analysen mehrere Familien nicht als monophyletische Gruppen erscheinen. Sollten sich diese Befunde erhärten, dann wären grundlegende systematische Änderungen auf dem Niveau der Familien und vermutlich auch mancher Gattungen notwendig.

Quellen und Einzelnachweise
Fisher JR. 1986. Earwig in the ear. Western Journal of Medicine 145, 245.

Haas F, Gorb S, Wootton RJ. 2002. Elastic joints in dermapteran hind wings: materials and wing folding. Arthropod Structure & Development 29, 137-146.

Haas F, Gorb S. 2004. Evolution of locomotory attachment pads in the Dermaptera (Insecta). Arthropod Structure & Development 33, 45-66.

Jarvis KJ, Haas F, Whiting MF. 2005. Phylogeny of earwigs (Insecta: Dermaptera) based on molecular and morphological evidence: reconsidering the classification of Dermaptera. Systematic Entomology 30, 442-453.

Jeong H, Shin JE, Kim CH. 2021. Earwig Crawling in the Ear: Myth or Truth. Cureus 13, e14827.

Kocarek P, John V, Hulva P. 2013. When the body hides the ancestry: phylogeny of mophologically modified epizoic earwigs based on molecular evidence. PLoS ONE 6, e66900.

Naegele MA, Mugleston JD, Bybee SM, Whiting MF. 2016. Reassessing the phylogenetic position of the epizoic earwigs (Insecta: Dermaptera). Molecular Phylogenetics and Evolution 100, 382-390.

Tworzydlo W, Bilinski SM. 2008. Structure of ovaries and oogenesis in dermapterans. I. Origin and functioning of the ovarian follicles. Arthropod Structure & Development 37, 310-320.

Tworzydlo W, Bilinski SM, Kocarek P, Haas F. 2010. Ovaries and germline cysts and their evolution in Dermaptera (Insecta). Arthropod Structure & Development 39, 360-368.

Wipfler B, Koehler W, Frandsen PB, Donath A, Liu S, Machida R, Misof B, Peters RS, Shimizu S, Zhou X, Simon S. 2020. Phylogenomics changes our understanding about earwig evolution. Systematic Entomology 45, 516-526.

Zhao J, Zhao Y, Shih C, Ren D, Wang Y. 2010. Transitional fossil earwigs - a missing link in Dermaptera evolution. BMC Evolutionary Biology 10, 344.



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