Eine überarbeitete Fassung wurde publiziert als:
"Was heißt Fundamentalismus? – Zur Eingrenzung
des Phänomens aus religionswissenschaftlicher
Sicht“, in: Tim Unger (Hg), Fundamentalismus
und Toleranz. Hannover 2009, 163–195.
Was
heißt "Fundamentalismus"?
Zur Eingrenzung des Phänomens aus
religionswissenschaftlicher
Sicht
[1]
Zunächst
möchte ich den Organisatoren dieses Symposions
ganz herzlich für die freundliche Einladung danken, etwas zu unserem
Tagungsthema aus vergleichend-religionswissenschaftlicher Perspektive
beisteuern zu dürfen. Da mein Beitrag am Anfang steht, sehe ich meine
Aufgabe nicht darin, verschiedene historische bzw. empirische Beispiele
für Fundamentalismen vorzustellen -- das wird im Verlauf der Tagung
in Einzelbeiträgen viel ausführlicher möglich sein --,
sondern ich möchte vielmehr etwas zur
systematisch-religionswissenschaftlichen Klärung des hier
zugrundeliegenden Begriffs "Fundamentalismus" beisteuern.
Nun
entspäche
es dem wissensschaftstheoretischen Selbstverständnis der
Vergleichenden
Religionswissenschaft
viel eher, derartige formale Klärungen phänomenologischer
Grundbegriffe -- und um einen solchen handelt es sich ja hier: um eine
distinkte religiöse Erscheinungsform, die sich an unterschiedliche
religiöse Traditionen anschließen kann -- erst im
Anschluß an detaillierte empirische, historisch und
sozialwissenschaftlich erschlossene Einzelstudien verantwortet vorzulegen.
[2]
Mein Beitrag sollte daher eigentlich induktiv vorbereitet und abgesichert am
Ende unserer Tagung stehen. Da aber die Diskussion um den sogenannten
"Fundamentalismus" ja nicht erst hier in Mainz beginnt,
läßt sich mein Aufschwung in die formale Begrifflichkeit nun doch
wieder verantworten: eben als ein einleitender Versuch, die metasprachliche
Benutzung des Konzepts "Fundamentalismus" zu präzisieren,
mögliche Ausweitungen zu bedenken, sowie eigentliche und uneigentliche
Verwendungsweisen voneinander abzugrenzen. In diesem Sinne verstehe ich meine
Aufgabe als einen orientierenden Versuch, unsere -- vielleicht sehr
unterschiedlichen(!) -- Verständnisse von Fundamentalismus vor dem
Hintergrund des gegenwärtigen Forschungsstandes ein wenig zu hinterfragen
und aus dieser
religionswissenschaftlichen
Perspektive nach gemeinsamen Charakteristika und Kriterien für die
Benutzung dieses Begriffs zu suchen. Diese terminologischen
Eingrenzungsversuche könnten für unsere Diskussion die Funktion einer
heuristischen Arbeitshypothese darstellen, denn letztlich sind derartige
Eingrenzungsversuche im Formalen der erneuten empirischen Prüfung durch
die folgenden Beiträge über konkrete, real existierende
Fundamentalismen zu unterziehen: Unter welchen Bedingungen taugt das Konstrukt
"Fundamentalismus" als Beschreibungskategorie -- unter welchen
nicht? -- Und: Welche negativen Implikationen verbergen sich unter
Umständen hinter diesem Konzept?
Eine
solche einleitende Vergewisserung im Umgang mit dem Fundamentalismus-Begriff
erscheint um so notwendiger, da bereits ein flüchtiger Blick in die nahezu
uferlose Literatur zu diesem Thema zeigt, daß dieser Begriff ungeachtet
seiner gegenwärtigen Prominenz einer klaren, allgemein geteilten
Definition ermangelt
[3].
Meist sind es
sehr
unterschiedliche Phänomenbereiche, die unter diesem Stichwort anvisiert
oder gar stigmatisiert werden, und unter Umständen sagt eine bestimmte
kritische Stellungnahme über sog. "Fundamentalismen" oder sog.
"fundamentalistische Erscheinungen" ebensoviel über den
Autor/die Autorin aus wie über die damit angesprochenen Personen oder
Gruppen. Dem Begriff eignet nämlich in der Regel eine deutliche
selbstreferentielle
Struktur
,
denn er ist -- obwohl ursprünglich objektsprachliche Konzeption und
Selbstbezeichnung einer christlich-konservativen Bewegung in den USA --
mittlerweile in vielen seiner Verwendungskontexte zu einem hochgradig
"polemischen" Konzept avanciert, und dieser apologetisch-polemische
Verwendungszusammenhang erschwert seine saubere Etablierung als
metasprachliches Konzept im Rahmen der akademischen Religionsforschung. Er
teilt insofern das Schicksal ähnlich problematischer Begriffe wie
"Synkretismus", "Magie" oder "Sekte", die
ebenfalls einem religiös-polemischen (meist christlichen) Ursprungs- oder
Verwendungsmilieu entstammen, das diesen Konzepten trotz begrifflicher
Definitions- und Reinigungsversuche wie ein schlechtes konnotatives Karma
anzuhaften scheint und mitunter ganz unkontrolliert wieder an die
Oberfläche treten kann. Wenn ich also im folgenden versuche, einige
religionswissenschaftliche Präzisierungsversuche vorzustellen, dann
geschieht dies bereits eingedenk dieses grundlegenden Problems, daß der
Begriff "Fundamentalismus" selten eine objektiv feststellbare
Größe bezeichnet, sondern sich letztlich als ein
"selbstreferentielles" und daher auch meist als hochgradig
"interpretationsimprägniertes"
[4]
Konzept erweist: Fundamentalismus wird zum pauschalen Stigma einer
aufklärungs-, vernunft- und fortschrittsfeindlichen Haltung.
Zur
Illustration verweise ich auf eine Fundamentalismus-Definition, die mir
kürzlich bei Internet-Recherchen zum Thema aufgefallen ist. Im Rahmen eines
philosophischen "Online"-Lexikons für Ästhetik wird
folgende Definition entfaltet, die unter Fundamentalismus vor allem die
"Ausdifferenzierung einer Weltanschauung mit programmatischem
Ausschließlichkeitscharakter" versteht:
Denkhaltung
und Tathandlung, die ihre Einsicht aus höherer, nicht weiter ableitbarer
Offenbarung bezieht und die prinzipielle Nichtidentität von intra-und
extrapsychischen Vorgängen leugnet. Der typische Fundamentalist setzt die
Anfangsbedingungen seines Handelns als Wahrheitswert und von dort aus leitet er
konsequent ab. Dabei kann der Wahrheitswert religiöser,
ethisch-moralischer, politischer, wissenschaftlicher oder ästhetischer
Natur sein, die Folge ist immer gleich: Ausdifferenzierung einer Weltanschauung
mit programmatischem Ausschließlichkeitscharakter.
Der
Fundamentalist ist nicht mehr in der Lage, die eigene Vorgehensweise
grundsätzlich zu relativieren, weil er die Relevanz von alternativen
Bezugssystemen leugnet. (vgl.
Logik
der Dummheit
)
Was
für den modernen und aufgeklärten Zeitgenossen eine verhandelbare
Position darstellt, ist für den Fundamentalisten eine Frage ums Ganze und
das bedeutet: sie ist eben nicht verhandelbar.
©Lehrstuhl
für Ästhetik (Asmus 1996)
|
Ich
halte
eine derartige Definition in unserem Zusammenhang für ungenügend,
weil sie Fundamentalismus ausschließlich von der
logischen
Argumentationsebene her zu definieren versucht. Zwar wird man nicht leugnen,
daß religiöse Fundamentalismen in der Tat als
"Ausdifferenzierung einer [religiösen] Weltanschauung mit
programmatischem Ausschließlichkeitscharakter" beschrieben werden
können, aber das reicht sozialwissenschaftlich und
religionswissenschaftlich nicht aus. Außerdem wird an diesem Beispiel
deutlich, daß hier bereits eine implizite Frontstellung gegenüber
dem Fundamentalismus erfolgt. Wie sich noch zeigen wird, sind Fundamentalismen
als "Reaktionen" auf bestimmte Ausprägungen der Moderne zu
charakterisieren, und in dem o.a. Beispiel liegt nun bereits eine erneute
"Reaktion" auf einen Fundamentalismus vor, der selbstreferentiell
als Gegner aufgeklärter dialogischer Wahrheitserschließung anvisiert
wird.
Was
heißt also "Fundamentalismus"? -- Und wie
läßt sich dieses schillernde Phänomen aus
religionswissenschaftlicher
Sicht
näher bestimmen und eingrenzen?
1.
Erste Annäherungen an das Phänomen "Fundamentalismus"
Der
objektsprachliche Ursprungskontext des Begriffs liegt bekanntermaßen in
den USA, und zwar in jener von Laien und konservativen Theologen getragenen zwölfbändigen Schriftenreihe
The
Fundamentals. A Testimony to the Truth
(Chicago 1910--1915) und der daran anschließenden Gründung
der
sog. "World's Christian Fundamentals Association" (1919). In den zwanziger Jahren fand der von diesen religiös konservativ
bzw. restaurativ orientierten protestantischen Kreisen beschlossene Kampf gegen
bestimmte Erscheinungen und Auswirkungen des "Modernismus" seinen
Höhepunkt: Neben der historischen Bibelkritik und der damit verbundenen
Aufweichung religiöser "Grund"-Verbindlichkeiten war es vor
allem die moderne Evolutionslehre, die als Gegner angegriffen und mit dem
biblischen Kreationismus und Literalismus scharf konfrontiert wurde. Derartige
Frontstellungen wurden von der Erweckungsbewegung und einer
chiliastisch-evangelistischen Frömmigkeit mitgeprägt, die das moderne
Christentum von einem dämonischen endzeitlichen Abfall bedroht sah. Sie
gehen damit aber auch in vieler Hinsicht auf ältere Traditionen
zurück, wie sich z.B. anhand eines Ausschnitts aus dem 1878 formulierten
Glaubensbekenntnis "Niagara Creed" zeigen läßt, in dem
die Verbalinspiration der Bibel -- gleichsam das
"Fundamentaldogma" dieses christlichen Fundamentalismus --
bereits ganz plakativ, nämlich bis in jede einzelne grammatikalische
Endung hinein, festgestellt wird (zit. n.
JOEST
1983, 735):
We believe
"that
all Scripture is given by inspiration of God",
by
which we understand the whole of the book called the Bible;
nor
do we take the statement in the sense that the Holy Ghost gave the very words
of the sacred writings to holy men of old; and that His Divine inspiration is
not in different degrees,
but
extends equally and fully in all parts of these writings, historical, poetical,
doctrinal and prophetical, and to the smallest word, and inflection of a word,
provided such a word is found in the original manuscript.
Niagara
Creed
(1878), Art. 1
|
Neben
dem Grundartikel (1) Verbalinspiration und Literalismus (d.h. unmittelbare
göttliche Herkunft und Irrtumslosigkeit der Bibel, sowie
Authentizität der biblischen Wunder) sind es noch vier weitere
fundamentals,
die für die religiöse Dogmatik des christlichen Fundamentalismus in
den USA charakteristisch waren: der Glaube an (2) die Jungfräulichkeit
Marias bzw. jungfräuliche Geburt Jesu, (3) die leibliche Auferstehung
Jesu, (4) das stellvertretende Sühneopfer Jesu
(substitutionary
atonement)
und
(5) die physische Wiederkehr Christi am Ende der Zeit. Dies impliziert zugleich
die Nichtigkeit aller modernen Theologie, sofern sie dazu in Widerspruch steht;
wer von der fundamentalistischen Doktrin abweicht, ist bestenfalls ein
"Namenschrist". Auch katholischerseits lassen sich vergleichbare
"antimodernistische" Reaktionen heranziehen, z.B. das Dekret Lamentabili und die Enzyklika
Pascendi
von Papst Pius X. (1907; vgl. den förmlichen "Antimodernisteneid" 1910)
Es
sind also die traditionszersetzenden Auswirkungen von Modernisierung und
Säkularisierung im Bereich des Religiösen, gegen die hier Stellung
bezogen wird -- nicht die Moderne als solche (moderne
Kommunikationsmittel, Technologien, etc. werden befürwortet und benutzt).
Diese Feststellung ist durchaus verallgemeinerungsfähig: Religiöse
Fundamentalisten zielen in der Regel "weniger auf die Moderne an sich,
sondern auf den durch sie mitverursachten Religionsverfall"
[5].
Dies ist gegenüber solchen Autoren festzuhalten, die Fundamentalismus
rundweg als
antimoderne
Protestbewegung
etikettieren und eine entsprechend offensive "Marschrichtung im
antifundamentalistischen Kampf" nahelegen. In Deutschland haben die
Publikationen von
THOMAS
MEYER
vermutlich mit dazu beigetragen, Fundamentalismus als
durchweg
antimoderne
und
unvernünftige
Lebensformen anzusehen, wie die Untertitel seiner 1989 erschienenen Bücher
suggerieren ("Aufstand gegen die Moderne", "Internationale
der Unvernunft"). Dies erklärt sich v.a. daraus, daß der
religions- und sozialwissenschaftlichen Analyse ein eher philosophisch
geprägter Fundamentalismus-Begriff vorangestellt wird, der die Darstellung
rationalistisch wertend färbt. Hierzu ein Beispiel aus einem jüngeren
Handbuchartikel von
MEYER,
der Fundamentalismus weiterhin in Umkehrung der berühmten Kantschen
Definition von "Aufklärung" als
radikale
Gegenbewegung zur Aufklärung der Moderne
beschreibt (Hervorhebungen im Text von mir):
"Fundamentalismus
ist der selbstverschuldete Ausgang aus den Zumutungen des Selberdenkens
, der Eigenverantwortung, der Begründungspflicht, der Unsicherheit und
Offenheit aller Geltungsansprüche, Herrschaftslegitimationen und
Lebensformen, denen Denken und Leben durch Aufklärung und Moderne
unumkehrbar ausgesetzt sind,
in
die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener absoluter Fundamente
.
Vor ihnen soll das Fragen Halt machen, damit sie
absoluten
Halt
geben können. Vor ihnen soll alles andere relativ werden -- die
Menschenrechte zumal --, damit sie der Relativierung entzogen bleiben. Wer
sich nicht auf ihren Boden stellt, soll
keine
Rücksicht
verdienen für seine abweichenden Argumente, Zweifel, Interessen, Rechte.
Fundamentalismus
ist in kommunikationstheoretischer Sicht eine Form systematisch verzerrter
Kommunikation. [...] Der
Fundamentalismus
denunziert Konflikte als Verrat und macht den Gegner zum Feind von Heil und
Wahrheit."
(MEYER
1994, 94)
|
"Fundamentalismus
bietet sich in vielen Formen als Lösung der Widersprüche an, die im
Prozeß der Modernisierung aufbrechen.
Er
ist eine Anschließungshaltung, die Geborgenheit, Gewißheit und
allem Zweifel entrückte Orientierung an die Stelle der unvermeidlichen
Ambivalenzen und Unsicherheiten der modernen Existenz zu setzen verspricht.
So
gut wie jede Idee kann in diesem Sinne fundamentalistisch gehandhabt werden, so
gut wie keine muß es.
Fundamentalismus
ist daher nicht das Kennzeichen bestimmter Religionen oder Weltanschauungen,
sondern eine sozialpsychologisch bedingte Weise ihrer Handhabung."
(MEYER 1994, 96)
|
An
diesem Beispiel wird der selbstreferentielle Bezug auf das moderne
Selbstverständnis des Autors besonders deutlich. Auch die akademische
Religionswissenschaft wird dem schwer entrinnen können -- versteht
sie sich mit ihrer Konzentration auf eine historisch-empirische und
möglichst "unparteiische" Religionsbetrachtung doch selbst als
ein Kind der Aufklärung (und nimmt damit bereits eine Position ein).
Obwohl die verschiedenen sozialpsychologischen, politischen, anthropologischen
oder kulturellen Erklärungsmuster, die
MEYER
des weiteren anführt, auch nahezu ausschließlich auf die
"Unfähigkeiten" fundamentalistischer Reaktionen abheben,
verweist er mit Recht auf bestimmte "Entstehungsbedingungen", die
für die Attraktivität fundamentalistischer Bewegungen und einen
entsprechenden Massenzulauf zu ihnen nötig sind:
"das
plötzliches Brüchigwerden eingelebter soziokultureller
Identitäten und Orientierungen", die "Erfahrung oder Drohung
sozialer Unsicherheit" und ein kontextuell "glaubwürdiges
Angebot fundamentalistischer Organisation, Rhetorik und Führung"
(95).
Diese
Hinweise lenken den Blick auf die notwendige empirische Analyse kontextueller
Bedingungen und die Identifizierung soziokultureller Milieus, die für das
Enstehen von "Fundamentalismen" vielleicht als charakteristisch
gelten könnten. Auch wenn die konnotative Polemik im Begriff
"Fundamentalismus" wahrscheinlich nur schwer zu überwinden
sein wird: Je stärker man das damit angesprochene Phänomen
deskriptiven Analysekriterien unterwirft, desto eher läßt sich der
Begriff als metasprachlicher Begriff (und nicht bloß als
"Schlagstock") verantworten, und aus dem angeblich rein
"pathologischen Symptom" wird unter Umständen ein
beobachtbares "soziales Phänomen" (vgl. H. G.
KIPPENBERG
1996, 231).
2.
Wie
weit darf der Begriff gefaßt werden?
Auch
ohne die konnotative Problematik des Begriffs bleibt die Frage, wie eng oder
wie weit er gehandhabt werden soll. Seine Eindeutigkeit und Präzision
würde weiter leiden, wenn er, wie häufig im akademischen und
alltäglichen Sprachgebrauch, zur Pauschalbezeichnung verschiedenster
traditionsbeflissener oder standpunktbewußter Personen, Gruppen oder
sogar ganzer Religionen herhalten muß (vgl. daher die begründete
Skepsis bei P.
ANTES).
Darf er zudem, gleichsam
avant
la lettre
,
auch für Phänomene benutzt werden, die historisch weit
zurückliegen?
Der
vor kurzem verstorbene Göttinger Religionswissenschaftler
GERNOT
WIEßNER
hat eine äußerst weite Verwendung des Fundamentalismus-Begriffs
befürwortet, die ihn für
verschiedenste Epochen der Religionsgeschichte anwendbar macht. Grundlegend
für Fundamentalismus sei "die Enttabuisierung des Lebens als Folge
einer extrem offenbarungsgläubigen Fassung des Wahrheitsbegriffs" (WIEßNER 1996, 58ff).
In solchen fundamentalistischen Reinterpretationen von Religion werde
nämlich die "grundsätzliche
Heiligkeit" und "Unverletzlichkeit menschlichen Lebens", um
die nahezu alle Religionen wissen, außer Kraft gesetzt. Verunsichernde
Begegnungen mit Andersdenkenden und -handelnden können zu einer
manichäischen Teilung der Welt führen: "Von der
manichäischen Teilung der Welt in die Welt des Guten, der Reinen und in
die Welt des Bösen, der Unreinen bis hin zum Kampf gegen das Unreine, das
Böse, ist augenscheinlich nur ein kleiner Schritt" (55). Aus den
Akten "geistiger Tötung" folge aber erst dann eine
entsprechend militant-tätliche Penetration der Umwelt, wenn eine
zusätzliche Enttabuisierung des Lebens vorgenommen werde (der Rückzug aus der "bösen" Welt in
eine "reine" friedliche Neben-Welt der "Erwählten"
wäre ja ebenso möglich und wurde in der Religionsgeschichte von
"Sekten" und Sondergemeinschaften vielfach vorgezogen). Doch im
Rahmen einer unbedingten Parteinahme auf der Seite Gottes, der zusammen mit den
Gläubigen in den Kampf gegen das Böse zieht, wird die Teilnahme am
Kampf zur heiligen Pflicht und zum Glaubenserweis (vgl. 1. Makkabäerbuch
oder die Grabenschlacht in der islamischen Tradition).
WIEßNER zieht für die Verwendung des Fundamentalismus-Begriffs daher die Folgerung,
"daß
unter den Begriff des religiösen Fundamentalismus diejenigen
religiös-politischen Bewegungen subsumiert werden könnten, die
für die Durchsetzung einer Grundordnung unter den Menschen nach den
verbindlichen Vorgaben einer autoritativen Offenbarung das Leben enttabuisieren
und die ideologische Rechtfertigung für diese Enttabuisierung aus ihrer
Vorstellung vom Wesen und Walten des religiösen Gegenübers
legitimieren, in theistischen Religionen aus deren Gottesvorstellung.
Ein
Blick aus der Gegenwart in die Geschichte der Religionen in der Vergangenheit
kann zeigen, daß es diesen Typ des religiösen Fundamentalismus wohl
immer gegeben hat" (61f).
Der
Fundamentalismus dürfe jedenfalls nicht auf politische
Instrumentalisierung des Religiösen reduziert werden: Religionen,
religiöse Menschen haben zur Durchsetzung ihrer Ordnungsziele immer auch
politische Gewalt benutzt -- und: "Diese Gewalt aber legitimiert
sich selbst, wenn wenn sie sich für die heilige Ordnung entschieden
hat" (62), denn weder die europäische Trennung von Politik und
Religion, noch das humanistische, der Aufklärung verpflichtete (und
insofern wesentlich nicht-religiös begründete) Ideal der
Unverletzlichkeit menschlichen Lebens haben in dieser Form eine genaue
Entsprechung in anderen Kulturen. Das bedeutet: "Religiöser
Fundamentalismus in der hier definierten Art ist für den
Religionshistoriker eine Manifestation eines Typs von Religion" (64)
-- einer Religion allerdings, in der "die Offenbarung
uneingeschränkte Geltung hat und in dieser Geltung nicht dem Urteil einer
kritischen Vernunft unterliegt. Der religiöse Fundamentalist lebt aus der
Offenbarung seiner Religion" (63). -- Ein konstruktiv-kritischer
Umgang mit religiösen Fundamentalismen stehe daher vor der utopisch
anmutenden Aufgabe, der "absoluten Tabuisierung des Lebens" im
Dialog wieder zu ihrem vorrangigen Recht zu verhelfen: Dann bestünde
"vielleicht die Möglichkeit, daß der religiöse
Fundamentalismus im Abgrund der Religionsgeschichte verschwindet" (64).
WIEßNERs
Plädoyer für eine breite und allgemeine Anwendung des
Fundamentalismus-Begriffs sollte hier nur als stellvertretendes Beispiel
für eine Anwendungsweise dienen, die zwar begründet vertreten werden
kann, der ich aber nicht folgen möchte, weil der Begriff ohnehin schon
viel zu unscharf und zu allgemein benutzt wird. Im folgenden werde ich mich
daher bemühen, das Konzept durch die Konfrontation mit analogen Begriffen
etwas eindeutiger einzugrenzen.
3.
Präzisierung
des Fundamentalismus-Begriffs durch einzelne Charakteristika und systematische
Abgrenzung von analogen Begriffen
Traditionalismus
bzw. Orthodoxie
Religiöser
Fundamentalismus erscheint als eine Art übersteigerter, jedoch
selektiv
anknüpfender
Traditionalismus, denn es werden
nur
einzelne, ausgewählte Traditionselemente
in den Rang "fundamentaler" und somit alles entscheidender
Orthodoxiekriterien erhoben (vgl. unten den Beitrag von
BÜTTNER,
der ebenfalls betont, daß unterschiedliche Traditionselemente selektiert
und ideologisiert werden). Ein Traditionalismus kann sich gegebenenfalls auch
mit Gelassenheit oder Toleranz auf alternative Traditionen beziehen, d.h. er
ist nicht notwendig mit jener dualistischen Penetration der Umwelt verbunden,
die dem Fundamentalismus eignet.
In
seiner vergleichenden Fallstudie zum
Fundamentalismus
als patriarchalische Protestbewegung
charakterisiert
RIESEBRODT
den Fundamentalismus daher als einen
radikal(isiert)en
Traditionalismus
(215
u.ö.).
In
den USA wurde der Traditionalismus offenbar
fundamentalistisch,
um zu überleben. Fundamentalismus beinhaltet keine schlichte Wiederholung
des Kanons traditioneller Glaubensinhalte, Werte, Normen oder Sitten, er ist
vielmehr, wie MAKRIDES in seinem Überblicksartikel zum "Fundamentalismus aus
religionswissenschaftlicher Sicht" betont,
"ein
radikalisierter, ein reflektierter, durchdachter Traditionalismus [...], der
auch innovative Elemente und Reformulierungen der Tradition enthält und
der zur Mobilisierung bestimmter gesellschaftlicher Schichten für die
aktive Durchsetzung ihrer Ideale beitragen kann. Fundamentalismus ist dann
keine einfache [schlichte, oder gar bornierte] Geisteshaltung oder eine [nur]
ideologische Position, sondern [er] verwandelt sich in eine soziale Bewegung,
in einen mobilisierten Traditionalismus, sofern er vergesellschaftend und
vergemeinschaftend wirkt und ganz spezifisch strukturierte Sozialbeziehungen
und Regulierungen der Lebensführung impliziert, gegen deren Änderung protestiert wird" (MAKRIDES 20).
Programm
des Fundamentalismus ist nämlich die "Ent-Differenzierung": es
geht darum, die Religion "aus ihrer Randstellung erneut in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bzw. der Gesellschaft und der politischen
Entscheidungen zu rücken" und wieder "kollektive
Verbindlichkeiten" zu schaffen (MAKRIDES 21). Dies läßt sich ohne neue Unübersichtlichkeit am besten
dadurch bewerkstelligen, daß je nach Kontext nur bestimmte
elementar(isiert)e
Traditionselemente selektiv zitiert und plakativ in den Vordergrund gestellt
werden (Komplexitätsreduktion).
Betrachtet
man Religionen systemtheoretisch als Sinnsysteme, die selbstreferentiell mit
ihrer Umwelt in Interaktion stehen, dann läßt sich dieser
Zusammenhang wie folgt veranschaulichen (vgl. nachstehende
Übersicht
).[6]
Im Verlauf religiös-kultureller Entwicklungsprozesse kann sich eine
religiöse (Sub-)Tradition einerseits
(a)
selektiv auf das Eigene beziehen, indem eigene Elemente oder Teilsysteme
entweder durch Intensivierung
besonders akzentuiert oder durch Extinktion
ausgeschlossen werden. Durch
(b)
Extensivierung
wird dagegen ein Bezug auf religiös Fremdes hergestellt, indem einerseits
durch Relationierung
eine konkrete (z.B. religionstheologische) Verhältnisbestimmung zum
Gegenüber formuliert wird (z.B. Inklusivismus, ablehnende Polemik
o.ä.) oder/und indem durch Synkretismus
eine direkte materiale Inkorporation und Anverwandlung fremden religiösen
Materials geschieht (es kann allerdings auch zur völligen Konversion
kommen). Diese Beziehungen können sich auf der Ebene ganzer (Teil-)
Systeme
oder nur auf der Ebene von einzelnen
Elementen
konstituieren (oder auf beiden Ebenen zugleich).
Für
den religiösen Fundamentalismus läßt sich folglich ein
Zusammenspiel zwischen einer
selektiven
Intensivierung
von
bestimmten, binnenperspektivisch für "fundamental" und
"ursprünglich" erachteten Traditionselementen und einer
(ebenfalls selektiven)
distanzierenden
Relationierung
gegenüber
einer als "feindlich" erachteten Umwelt rekonstruieren (in diese
Gegen-Welt können allerdings auch andersdenkende
eigene
Traditionsgruppen ausgegrenzt werden). Wie sich in der Gegenüberstellung
zum "Nativismus" zeigen wird, sind die sogenannten
fundamentals
religionsgeschichtlich
nicht
immer nur als unverfälschte Repristinationen altehrwürdiger
Konstruktionsprinzipien der Gesamttradition anzusehen: sie können durchaus
innovative
(und sogar "synkretistische") Elemente enthalten.
Der
Fundamentalismus steht in besonders großer Nähe zum Nativismus, denn
unter Nativismus versteht man religions- und kuturwissenschaftlich denjenigen
"bewußten, organisierten Versuch seitens der Mitglieder einer
Gesellschaft, ausgewählte Aspekte ihrer Kultur wiederzubeleben oder zu
verewigen" (R.
LINTON)[7].
Allerdings betont
MÜHLMANN
in seiner einschlägigen Studie über
Chiliasmus
und Nativismus
,
daß es sich dabei nicht um die Kultur als reale Gegebenheit handelt,
sondern um "ausgewählte Aspekte" der Kultur, "so wie die
betreffenden Menschen diese verstehen" -- häufig ein
"verarbeiteter Synkretismus von alt-eigenen und
fremd-übernommenen" Elementen (MÜHLMANN,
10). Die für altehrwürdig erachteten Kultur- oder Religionsgüter
müssen also nicht wirklich indigen oder historisch alt sein. Die
große Ähnlichkeit zum Fundamentalismus besteht also neben der
Tatsache, daß die
fundamentals
eben nicht wirklich die traditionellen
fundamentals
sein
müssen, sondern auch kontextuelle "Erfindungen" sein
können, in der umweltkritischen Reaktionsform, die der Angst vor
Überfremdung durch "Neues" mit selektivem Rückgriff auf
Elemente der Tradition begegnet -- und zwar durch Anwendung des
Senioritätsaxioms: "Das Alte ist das Bessere". Auch in der
Zielsetzung ergibt sich eine weitgehende Überschneidung, denn
"[d]urch die Ausrichtung auf bestimmte Elemente der eigenen Tradition,
die den dominanten politischen, wirtschaftlichen, geistigen und religiösen
Formen entgegengestellt werden, glauben die Anhänger solcher
[nativistischen] Bewegungen, einen neuen, besseren Zustand herbeiführen zu
können" (LUCHESI 220). Zwar kann der Fundamentalismus auch als binnenkulturelle
"Erneuerung" auftreten; er ist nicht notwendig an Überfremdung
durch
real
Fremdes gebunden, aber er exteriorisiert meist bestimmte
kulturell-religiöse Erscheinungen als negativ und bekämpft sie dann.
D.h., die "Überfremdung" selbst kann eine fiktiv konstruierte
sein (fundamentalistische Reaktionen als komplexitätsreduzierende Chiffren
für schwer differenzierbare Gemengelagen). Auch "der Impetus,
mit
einem eigenen Beitrage
hervorzutreten"
(MÜHLMANN
11) und in die gesellschaftliche Entwicklung kämpferisch engagiert
einzugreifen, gepaart mit "fremdenfeindlichen Tendenzen" und der
soteriologischen Hoffnung auf eine soziale und geistige "Erneuerung der
Gesellschaft", ferner das Auftreten von "Propheten" als
verbindlichen Vermittlern zwischen Altem und Neuem, sowie die "Erwartung
eines messianischen Reich des Friedens und der Gerechtigkeit" (LUCHESI
221), zeigen große Überschneidungen mit religiösen
Fundamentalismen.
Der
exklusiv-kämpferische Geltungsanspruch des Nativismus bezieht sich auf
einen realen Kulturkonflikt zwischen tatsächlich fremder und
traditionell-eigener Kultur (so wie sie vom gläubigen
Selbstbewußtsein ideal rekonstruiert wird). Dies muß im
Fundamentalismus so nicht gegeben sein: Hier handelt es sich vielfach um eine
kulturimmanente Protestbewegung. Fundamentalistische Reaktionsbildungen
können
aber
auch in einem Kulturkonflikt angesiedelt sein; z.B. islamische
Fundamentalismen, die sich gleichsam als islamisch-nativistische Reaktion auf
eine (Identitäts-) Krise konstituieren, die (u.a.) durch eine
modern-westliche Überfremdung eingeleitet wurde. Hier gibt es
offensichtlich fließende Übergänge zwischen den beiden
Phänomenen.
Eine
klarere Unterscheidung ließe sich vielleicht auch dahingehend vornehmen,
daß Fundamentalismen in ihrer logischen Position einen
grundsätzlichen theoretischen und soteriologischen Exklusivismus
postulieren, während Nativismen zunächst nur einen ethnischen oder
regionalen Geltungsanspruch für ihre Botschaft formulieren -- im
Gegenüber zu einem wiederum ganz konkreten fremden System.
Fundamentalistische Dogmatik versteht sich dagegen als
Supertheorie
mit einem unbedingten, programmatischen Ausschließlichkeitscharakter. In
dieselbe Richtung läuft die Argumentation bei
RIESEBRODT,
wenn er betont, daß "Fundamentalismus als
religiöser
Nativismus mit universalem Geltungsanspruch
"
zu verstehen sei, der sich dann in einem geradezu dualistischen
Manichäismus ausdrücke:
"Die
nativistisch-xenophobischen Züge verbinden sich mit einer
Verschwörungstheorie. Das Fremde dringt nicht zufällig in die
betroffene Gesellschaft ein, sondern absichtsvoll, gemäß geheimen
Plänen und Absprachen satanischer Mächte. Dabei bedient sich das
Fremde einheimischer Agenten, die entweder aus Ahnungslosigkeit oder aus
Böswilligkeit zur Verderbnis der Gesellschaft beitragen" (
RIESEBRODT
222, vgl. auch 241f).
Exklusivismus und Aggressivität
Wie
bereits mehrfach angesprochen, stellt sich der Fundamentalismus in logischer
Hinsicht als Exklusivismus mit universaler Geltungsbehauptung dar. Aus der
unhintergehbaren Alleingeltung eines fundamentalistisch reinterpretierten
Offenbarungsdepositums resultieren die entsprechend schroff distanzierenden
Relationierungen gegenüber allem Anderen und Fremden. Aus dieser typischen
fundamentalistischen Rhetorik folgt jedoch noch nicht zwangsläufig die
tatsächliche (physische) Ausschaltung des Anderen mit Gewalt, bzw. eine
entsprechende Tathaltung (z.B. latente Gewaltbereitschaft). Für die
Umsetzung der Abgrenzungs- und Alleingeltungsrhetorik in tatsächliche
Aktionen militanter Umwelt-Penetration sind zusätzliche kontextuale
Mobilisierungsursachen erforderlich, denn es gibt offensichtlich viele
Fundamentalismen, die trotz ihres exklusiv-aggressiven Pathos beispielsweise
die friedliche Schaffung einer alternativen Gegenwelt zur verderbten
"Welt" vorziehen (Enklave) und sich gerade nicht durch manifeste
Gewaltbereitschaft auszeichnen (vgl. unten im Schlußabschnitt [5] zum
"Weltbezug").
Gesetzesethischer Monismus und religiöser Republikanismus
Ein
weiteres Kenzeichen fundamentalistischer Bewegungen, das unmittelbar aus der
exklusiven Offenbarungstheologie resultiert, ist ihre
exklusiv-deontologische
Ethik
.
RIESEBRODT
hat diese -- von ihm auch als "totale religiöse
Gesetzesethik" bezeichnete -- Einstellung wie folgt
charakterisiert :
"Es
gibt nur eine Ethik, nämlich die des geoffenbarten und in der heiligen
Schrift überlieferten göttlichen Gesetzes. Diese Ethik sei universal
in einem doppelten Sinne. Sie habe einerseits Gültigkeit für alle
Menschen aller Zeiten und Kulturen und regele andererseits alle Situationen und
Lebensbereiche" (RIESEBRODT 220).
Aus dieser Haltung folgt die charakteristische Ablehnung jeglichen kulturellen und
religiösen Pluralismus (z.B. Ethiken anderer Gesellschaftsgruppen oder
fremder Kulturen, Sonderethiken für bestimmte gesellschaftliche
Teilbereiche; vgl. RIESEBRODT,
220f). Aus der radikalen Exklusivität des Eigenen folgt geradezu
zwangsläufig das Ziel einer umfassenden Missionierung und Konversion der
anderen.
In
politischer Hinsicht ergeben sich daraus unmittelbare Konsequenzen: Die ideale
Staatsform für einen gesetzesethischen Monismus wäre folglich
"der Republikanismus, als Verkörperung und Versuch der
Verwirklichung des göttlichen Gesetzes" (RIESEBRODT
221). Selbst in denjenigen fundamentalistischen Bewegungen, die sich politisch
im Kontext einer Demokratie bewegen (z.B. USA), würde ein
Spannungsverhältnis zur Demokratie entstehen, wenn Mehrheitsentscheidungen
dem einen
göttlichen Gebot zuwiderlaufen (grundsätzlich müßte
nämlich die Überordnung des republikanischen über das
demokratische Ideal gelten).
Apokalyptik, Messianismus, Millenarismus
Fundamentalismus
zeichnet sich wie der Nativismus häufig -- wenn auch nicht
notwendig(!) -- durch apokalyptische bzw. millenaristische Zeitdeutungen
aus. Typisch ist hierbei die Vorstellung von einer endzeitlichen
"Zuspitzung" der Geschichte, also ein zeitlicher Druck, der zu
einer Sichtverengung unter apokalyptischen Vorzeichen führen kann und der
Vorstellung "Jetzt geht es ums Ganze" zusätzlichen Ausdruck
verleiht. Wie gesagt, nicht jeder Fundamentalismus muß eschatologisch
motiviert sein, aber es kann je nach religiöser Tradition naheliegend und
plausibel sein, die Zuspitzung der (für jeden Fundamentalismus
grundlegenden)
Krise
auch in der Anschauungsform der Zeit plakativ auszudrücken bzw.
temporal
zu radikalisieren
(Krisenzeit
= Endzeit; eschatologische Prüfung, Entrückung des heiligen Restes,
baldiges Endgericht, Reich der Gerechtigkeit, Erwartung einer messianischen
Rettergestalt, etc.; vgl. analog
MÜHLMANN
291ff).
Je
nach konkreter Deutung der "Zeichen der Zeit" lassen sich damit
einerseits weltflüchtig-quietistische Handlungsmuster zusätzlich
legitimieren, wie etwa in typisch
prämillenaristischen
christlichen Bewegungen: Passivität und Duldungsbereitschaft während
der Zeit der "großen Drangsal" und Hoffen auf die baldige
"Entrückung" der 144.000 Gerechten. Andererseits können,
gleichsam am anderen Ende der Zeitachse,
postmillenaristische
Zeitdeutungen zusätzliches Aktionspotential für eine militante
Penetration der Umwelt mobilisieren helfen, weil es hier um den
"Endkampf", die letzte entscheidende Schlacht gegen den Satan, den
endgültigen Sieg über das Dämonische geht, den die
Gläubigen an der Seite Gottes auszutragen haben. Inkohärente
Mischformen sind hier ebenso zu beobachten (vgl. RIESEBRODT 223f) wie sogar
gegenseitige Stabilisierungen der beiden Deutungsmuster innerhalb eines
gesellschaftlichen Kontextes, in dem sich duldungsbereite "Opfer"
und militante "Täter" antagonistisch gegenüberstehen
(vgl. die Forschungen von H.
SCHÄFER zum Fundamentalismus in Zentralamerika).
Da
die gegenwärtige Zeit aber ohnehin als
Krisenzeit
wahrgenommen wird, liegt es für fundamentalistische Bewegungen sehr nahe,
auf apokalyptisch-millenaristische Deutungsmuster der (Mutter-)Tradition
zurückzugreifen und sich als "Künder vom nahen Millen[n]ium"
oder als "Vorhut des erwarteten Messias bzw. Imam Mahdi" zu
verstehen (RIESEBRODT
223).
Grundlegende
Mobilisierungsursachen für Fundamentalismus
Die
Plausibilität fundamentalistischer Bewegungen und Deutungsangebote ist von
bestimmten Mobilisierungsursachen abhängig. Zentral sind hierbei
milieuspezifische gesellschaftliche
Anomieerfahrungen,
die zu einer Politisierung der Theodizeefrage führen und in Protest dazu
die eigene (Neu-) Legitimation durch religiösen Nativismus und
Manichäismus attraktiv machen. Eine zusätzliche Dramatisierung kann
durch heilsgeschichtliche Interpretationsmuster aus dem Millenarismus und
Messianismus erfolgen. Häufig zu beobachtende Mobilisierungsursachen sind
hierbei Urbanisierung, kultureller Privilegentzug, kulturelle
Reproduktionsprobleme, Generationenkonflikte, enttäuschte
Aufstiegserwartungen, ökonomische Marginalisierung (usw.), die in ganz
bestimmten "sozialmoralischen Milieus" entstanden sind und eine
Bereitschaft zu
kollektiven
Reaktionsbildungen nahelegen. Unter
sozialmoralischen
Milieus
versteht
RIESEBRODT
solche gesellschaftliche Größen, in denen Religion, wirtschaftliche
Lage, regionale Tradition, schichtspezifische Zusammensetzung, Ethnizität,
Generationszugehörigkeit und kulturelle Orientierung weitestgehend
zusammenfallen. Eine fundamentalistisch reinterpretierte Religion bzw.
religiöse Bewegung kann in einem solchen Kontext neue Sicherheit,
Geborgenheit und Bestätigung liefern, indem sie ihren innovativen
Komplexitätsreduktionen im ideologisch-dogmatischen Bereich einen
überzeugenden,
durch
Kultus und Ritus auch dramatisch erfahrbaren Ausdruck
verleiht und auf diese Weise die kollektiven und individuellen Motivationen
für eine Mobilisierung dauerhaft zu stärken vermag
[8]
(z.B. exstatische Frömmigkeit, Zungenreden, Heilungen als zeichenhafte
Vorwegnahme der nahenden Endzeit bzw. als deutlicher Erweis der Erwählung
der frommen Enklave oder ihrer Führerpersönlichkeiten). Obwohl
Riesebrodts vergleichende Fallstudie den erfahrenen Wandel v.a. im Bereich
Familie und Sexualmoral festmachen konnte (daher formierten sich die von ihm
analysierten fundamentalistischen Reaktionen in den USA und im Iran als
"patriarchalische" Protestbewegungen), hat er sich jedoch
ausdrücklich davor gehütet, dieses sehr spezifische Ergebnis
verallgemeinern zu wollen.
Im
folgenden möchte ich nun die wichtigsten systematischen Ergebnisse jenes
umfassenden Studienprojekts über Fundamentalismus skizzieren, das im
Auftrag der US-amerikanischen
Academy
of Arts and Sciences
in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre auf einer beeindruckend breiten
empirischen Basis durchgeführt und mittlerweile auch in insgesamt
fünf Bänden publiziert wurde. Ich beziehe mich dabei v.a. auf den
auswertenden Abschlußband V,
Fundamentalisms
Comprehended
(Chicago
1995).
4. Die analytischen Ergebnisse aus dem "Fundamentalism-Project" (FP)
Die
religions- und kulturübergreifend breite empirische Basis sichert den
systematischen Ergebnissen des FP eine große Relevanz für alles
weitere Nachdenken über den Fundamentalismus-Begriff. So kommen die Autoren
ALMOND,
SIVAN, APPLEBY
in ihrem Essay über "Fundamentalism: Genus and Species" (FP V,
§16) zu dem grundlegenden Ergebnis, daß Fundamentalismus weder
einfach als eine neue religiöse Bewegung, noch als traditionelle bzw.
orthodoxe Religionsform angesehen werden kann; es handelt sich beim
Fundamentalismus vielmehr um "a hybrid form of religious modes, and it
belongs in a category by itself" (402). Meist läßt sich eine
(nativistische) Inklusion neuer Elemente beobachten, ohne daß diese
Neuheit positiv eingestanden wird; andererseits findet sich nach Maßgabe
des betonten Traditionsbezugs eine negative Bezugnahme auf etwaige
Neuoffenbarungen:
"In
other words, fundamentalists argue that
to
be 'merely' a conservative or a traditionalist
in these threatening times
is
not enough
.
At
the same time, fundamentalists would
reject
the suggestion that they are doing something radically new
;
a crucial element of their rhetoric and self-understanding is the assertion
that their innovative programs are based on the authority of the sacred
past" (402; Hervorh. A.G.).
Im
FP wurde der auszuwählende Phänomenbereich zeitlich auf das 20.
Jahrhundert beschränkt. Dadurch kam Fundamentalismus als Reaktion auf die
säkular-moderne "Kontamination" traditioneller Religion und
auf negative "Nebeneffekte" der Moderne (Unmoral, Zusammenbruch von
Familie und Gemeinschaft, Umweltzerstörung, etc.) in den Blick.
Hinsichtlich einer eventuell möglichen allgemeineren Anwendung des
Fundamentalismus-Begriffs wird daher betont, daß dann völlig
verschiedene
endogene
(religionsimmanente) und
exogene
(kontextuelle) Bedingungsgefüge zu beachten sind (404).
Gemeinsamkeiten
in
den
endogenen
Ursachengefügen lassen sich über die Zeit hinweg in verschiedenen
religiösen Traditionen feststellen, aber sie dürfen nicht mit dem
Phänomen "Fundamentalismus" gleichgesetzt werden. Nicht jede
religiöse Bewegung oder Tradition, die ein autoritatives
Schriftverständnis propagiert, ist
per
se
"fundamentalistisch". Dafür müssen spezifische
exogene
Mobilisierungsursachen aus dem gesellschaftlichen Kontext hinzutreten. Jede
ablehnende Reaktion auf kritische hermeneutische Exegese -- im Sinne eines
biblischen (oder koranischen) Schriftprinzips sollte zum Beispiel nicht einfach
in die Kategorie "biblischer Fundamentalismus" eingeordnet werden:
"Dies würde die Projektion eines zeitgenössischen
Phänomens in die Vergangenheit darstellen" (MAKRIDES,
14)
Die
Grundbedeutung des Fundamentalismus-Konzepts sollte m.E. ausschließlich
anhand der Phänomene des 20. Jahrhunderts gewonnen werden --
Phänomene also, die sich tatsächlich auf die Auswirkungen der
Aufklärung der Moderne beziehen. Außerdem muß für eine
reflektierte religionswissenschaftliche Anwendung des Fundamentalismus-Begriffs
die religionssoziologische Grundregel gelten, daß von einem
religiösen System als real existierender Größe erst dann zu
sprechen ist, wenn es sowohl im Bereich der
religiösen
Theorie
(Dogmatik, Mythos, religiöse Lehre), als auch in
kultisch-ritueller
Hinsicht
(Gottesdienst) und im Bereich der
religiösen
Gruppenbildung
(Gemeinschaftsbildung, Vergesellschaftung) eine beobachtbare Ausformung
erhalten hat.
[9]
Nur wenn in
allen
diesen drei Bereichen -- Dogmatik, Kultus/Ritus und Sozialgestalt --
eine Ausdifferenzierung stattgefunden hat, kann von "Religion" im
Vollsinn des Wortes gesprochen werden -- dies gilt auch für die
Sonderform "Fundamentalismus". Alle anderen Redeweisen sind
uneigentlich
und dürften den Begriff allenfalls in Anführungszeichen benutzen.
4.1. Charakteristische Eigenschaften des Fundamentalismus
Das
FP hat auf der Basis seiner empirischen Forschungen eine
Tafel von neun grundlegenden Eigenschaften
entwickelt, die jeweils in (fast) allen fundamentalistischen Erscheinungsformen
anzutreffen sind. Es handelt sich, wie die
Überblickstabelle
"Fundamentalistische Eigenschaften"
zeigt, um fünf
"ideologische" und vier
"organisatorische" Charakteristika. (Trotz Überschneidungen
mit den von mir bereits angeführten Charakteristika halte ich es wegen der
wissenschaftlichen Bedeutung des FP für sinnvoll, alle diese spezifischen
Eigenschaften kurz im Zusammenhang darzustellen.) Die Autoren des Projekts
weisen darauf hin, daß diese Charakteristika nicht isoliert zu betrachten
sind, sondern miteinander in einer komplexen
Wechselwirkung
stehen (dazu unten mehr).
-- Ideologische
Charakteristika --
(1) Reaktivität (reactivity)
Fundamentalismen
sind
Reaktionen
auf die Marginalisierung von Religion, die durch verschiedene Gründe
(mit-) verursacht sein können ("die" Moderne, ethnische
Konflilkte, Säkularer Staat, Konfrontation mit anderen Religionen). Daraus
ergibt sich folgende
definitorische
Grundregel
:
"Um
als genuiner Fundamentalismus in unserem Sinne gelten zu können, muß
sich eine Bewegung in erster Linie mit religiöser Erosion und der
eigentlich notwendigen Rolle von Religion in der Gesellschaft befassen.
Sie muß folglich einen bestimmten religiösen Inhalt zu schützen
suchen, oder eine Anzahl traditioneller kosmologischer Vorstellungen und der
damit verbundenen Verhaltensnormen" (405).
Diese
"Reaktivität" hat
zwei
gegenläufige Aspekte
:
Fundamentalistische Bewegungen "reagieren auf den Prozeß der
Säkularisierung, indem sie sich ihm entgegenstellen
und
ihn
zugleich für ihre eigenen Zwecke benutzen" (405). Dies beinhaltet
die Akzeptanz moderner Kommunikations- und Werbemittel, den Wettstreit auf dem
Marktplatz der Ideen und die Imitation der spätmodernen selektiven
Bezugnahme auf Geschichte und Tradition.
(2)
Selektivität (selectivity)
Der
für fundamentalistische Komplexitätsreduktionen charakteristische
Gesichtspunkt der Selektivität läßt sich anhand der
Übersichtstafel
zu
den jeweils wahrgenommenen
"Feinden
des Fundamentalismus"
beispielhaft veranschaulichen. Die Relationierungen des Fundamentalismus
erweisen sich bei näherem Hinsehen aber in dreifacher Hinsicht als
selektiv (systemintern wie -extern):
- Selektive Affirmation
und Neugestaltung partikularer Traditionselemente
(z.B. Vorrang apokalyptischer Traditionen der Bibel: Daniel, Joh.-Offenbarung)
- Selektive
Affirmation
von bestimmten Aspekten der
Moderne
(z.B. wissenschaftliche und technologische Errungenschaften; ferner auch
"Imitation" des Feindes wie in der Hindu-"Mission")
- Selektive
Opposition
gegen bestimmte Aspekte oder Folgen der
Moderne,
denen besondere Aufmerksamkeit im Sinne eines
fokussierten
Widerstands
zukommt
(z.B. Abtreibungskliniken in den USA)
Diese
drei Formen der "Selektivität" sind miteinander verzahnt: Es
werden ganz bestimmte Texte oder Techniken der Moderne gegen andere
ausgespielt, um auf dem Hintergrund der nativistisch reformulierten
Traditionselemente ein anvisiertes Ziel zu erreichen (z.B. "Die Bibel hat
doch recht"-Archäologie im Dienst des Literalismus).
(3) Moralischer Manichäismus und Dualismus
Wie
bereits oben erwähnt, ist für fundamentalistische Bewegungen die
schroffe Gegenüberstellung von Innen und Außen
charakteristisch, die durch dualistische Metaphern wie Licht--Dunkel, Geist--Materie, Gut--Böse,
göttlich--satanisch, etc. bewerkstelligt wird. Der Innenbereich wird
mit "Reinheit" und "Heiligkeit" assoziiert, der
Außenbereich unterliegt dagegen schlimmster "Kontamination".
Im Laufe einer allmählichen gesellschaftlichen Etablierung
fundamentalistischer Bewegungen können diese schroffen
Distanzierungsmuster jedoch in Modelle konzentrischer Kreise bzw. gradueller
Abstufung differenziert und abgeschwächt werden.
(4) Absolutismus und Unfehlbarkeit von Schrift und Tradition
Auch
dieser Punkt wurde bereits angesprochen: Die jeweilige "heilige
Schrift" ist göttlichen Ursprungs (Inspiration); sie ist wahr und in
allen Einzelheiten genau zutreffend (Literalismus). Diese Grundeinstellung kann
zwar unter Umständen weiter differenziert werden, wenn etwa ein bestimmter
"sakraler Code" oder "Kanon im Kanon" (bzw. in der
Tradition) als der eigentlich verbindliche Urgrund angesehen wird, aus dem die
fundamentals
gewonnen werden. Dennoch teilen alle fundamentalistischen Bewegungen einen
gemeinsamen "approach to religious sources": sie stehen (a) in
strikter Opposition gegen moderne, historisch-kritische
"hermeneutische" Methoden und bedienen sich (b) einer
traditionalistischen Auslegung
(hardened,
updated)
,
die den absolutistischen Charakter des Textes bzw. der Tradition erhalten und
verfestigen soll.
(5) Millenarismus und Messianismus
Ein
weiteres bereits erwähntes Kennzeichen ist die häufig (wenn auch
nicht immer) anzutreffende Vorstellung von einem wunderhaften
Kulminationspunkt
der Geschichte
:
Gott wird endgültig über das Böse siegen. Typisch sind hierbei
die Versprechen einer baldigen Erlösung oder Entrückung durch Modelle
des Millenarismus (Kompensation für erlittenes Unrecht und Leiden) oder
durch Modelle des Messianismus (allmächtiger Heilsbringer).
-- Organisatorische Charakteristika --
(6) Gemeinschaft der Erwählten
Die
fundamentalistische Gruppe versteht sich als Gemeinschaft der
"Erwählten", "Gerufenen", "wahrhaft
Gläubigen", als "heiliger Rest", Gemeinschaft der
"Zeugen" (etc.), womit sie sich in schroffen Gegensatz zur
Außenwelt setzt. Unter Umständen kann innerhalb der Gemeinschaft
wieder zwischen einem innersten und einem äußeren Kreis
differenziert werden. -- Dieses starke Erwählungs- und
Sendungsbewußtsein korrespondiert unmittelbar mit dem folgenden
Charakteristikum.
Starke
räumliche Metaphern zur Grenzziehung zwischen Geretteten und Sündern
führen zur scharf betonten Abgrenzung gegenüber der stigmatisierten
Außenwelt. Gegebenenfalls kann eine zusätzliche raumzeitliche
Zentrierung um ein bestimmtes (mythologisch aufgeladenes) Zentrum stattfinden.
(8) Autoritäre Organisationsstruktur
Da
die Mitgliedschaft in einer fundamentalistischen Gruppe in der Regel
unbürokratisch geregelt ist und auf Freiwilligkeit basiert, folgt daraus
meist ein egalitärer Status der einzelnen Mitglieder. Aber die typische
Organisationsform ist das
charismatische Führerprinzip .
Der Führerpersönlichkeit werden außergewöhnliche
Fähigkeiten und ein besonderes Schrift- und Traditionsverständnis
zugeschrieben, zwischen Führer(in) und Anhängern wird eine Distanz
hergestellt und durch Körpersprache und -rituale dramatisiert. Da es im
Kontext derartiger charismatischer Autoritäten keinen richtigen Raum
für eine "loyale Opposition" gibt, sind die Gruppen letztlich
sehr
zerbrechlich
und neigen zur Zersplitterung.
(9) Strikte Verhaltensvorschriften
Das
Individuum tritt in seiner Bedeutung zurück: Zeit, Raum und Aktivität
sind vorrangig Ressourcen der Gruppe, keine individuellen. Ein Kodex
elaborierter Verhaltensvorschriften sorgt für starke affektive Bindungen,
regelt Kleidung, Konsum, zwischengeschlechtliche Beziehungen, mögliche
Zensur, etc.
4.2. Wechselbeziehungen
zwischen diesen neun Eigenschaften
Zentral
und grundlegend für jeden Fundamentalismus ist das Merkmal
"Reaktivität"
(reactivity):
Fundamentalistische
Bewegungen sind im wesentlichen religiöse Reaktionen
-- genauer: es handelt sich um "militante, mobilisierte und
defensive Reaktionen auf die Moderne" bzw. auf bestimmte modernistische
Auswirkungen (409).
Die selektive Reduktion des komplexen Problemgemenges auf wenige "grundlegende" Variablen
soll einen einfachen, klaren und verbindlichen Weg aus der Unübersichtlichkeit einer beängstigenden Krise weisen
.
Durch die Restitution des (vermeintlich) "Ursprünglichen" wird
die unerträgliche
Verunsicherung
nicht nur in "tragbare" Unsicherheit, sondern v.a. in die
Absolutheit
eines allein rettenden,
sicheren Wissens
überführt.
Der
Faktor
Millenarismus/Messianismus
ist, wie die empirische Analyse ergeben hat, für Fundamentalismen nicht
notwendig konstitutiv, aber er dient unter Umständen als ein
"starker Katalysator" für die Mobilisierung. -- Die
restlichen Charakteristika lassen sich unter die drei Gesichtspunkte
Selektivität,
Grenzen
und
Erwählung
gruppieren. -- Die aus der Krisensituation resultierende
Selektivität
ermöglicht eine Komplexitätsreduktion mit klaren Fronten
(Grenzziehung, sichtbar auch im Blick auf die Verhaltensvorschriften), die mit
nunmehr unbezweifelbaren
fundamentals
(Unfehlbarkeit) begründet werden. -- Die klaren
Grenzen
schaffen eine Gruppenkohäsion, die den Status der Mitglieder durch
Erwählungsbewußtsein und manichäischen Dualismus erhöht.
-- Das Bewußtsein der eigenen
Erwählung
wird durch möglichst egalitäre Mitgliedschaft und eine entsprechend
"kleine Hierarchie" befestigt -- idealerweise eine
charismatische Führungspersönlichkeit, die als Autorität
für die Selektionsprozesse fungiert. Die allmähliche Etablierung und
Bürokratisierung einer Bewegung kann hier (neben dem Wegfall mancher
Mobilisierungsursachen) aufweichende Tendenzen bewirken, auch wenn die
fundamentalistische Rhetorik noch weiter beibehalten wird.
5.
Zusammenfassung
des Ertrags und abschließende Folgerung aus dem FP: Was ist
Fundamentalismus?
Ich
will nun versuchen, den Ertrag des umfangreichen
Fundamentalism Project in begrifflicher Hinsicht noch einmal abschließend zu rekapitulieren. Zu diesem Zweck folgen nachstehend zwei
Übersichten:
(1)
Die
erste Übersicht ("Was ist Fundamentalismus?") formuliert eine
zusammenfassende Definition, die sich ausdrücklich auf die im
vorhergehenden Abschnitt aufgeführten charakteristischen (ideologischen
und organisatorischen) Eigenschaften bezieht.
(2)
Die
zweite Übersicht enthält jene grundlegenden "vier
patterns
des fundamentalistischen Weltbezugs", die im 17. Kapitel von
Fundamentalisms
Comprehended
aus den empirischen Untersuchungen herausdestilliert wurden. Alle vier Formen
der Bezugnahme auf die Umwelt können von unterschiedlichen Bewegungen (je
nach endo- und exogenen Kontexten), aber auch von derselben Bewegung zu
verschiedenen Phasen ihrer Geschichte (Entwicklungsaspekt) aufgewiesen werden.
Der Horizont Außenwelt kann dabei global, regional oder lokal definiert
sein und mit Konzeptionen einer "bösen" Gegen-Welt
korrespondieren (z.B. der "Satan USA"). -- Der Vorrang bzw.
die Plausibilität der einen oder anderen Form des Weltbezugs ist jeweils
bedingt durch:
- endogene
oder exogene
Strukturvorgaben
und Kontexte (Langzeit),
- plötzliche
eintretende,
kontingente
Ereignisse
,
- menschliche
Faktoren
der jeweiligen Wahl und charismatischen Führung.
|
Das
konkrete Profil, die Form des Weltbezugs und die Plausibilität
fundamentalistischer Reinterpretationen von Religion(en) verdanken sich der
jeweiligen Kombination
endogener
und
exogener
Faktoren.
(z.B.
depositäres Wahrheitsverständnis für-alle-Zeit /
Mobilisierungsmilieu)
|
Vier
typische "patterns" im fundamentalistischen Weltbezug
|
WELTEROBERUNG
drängt
auf die Eliminierung des Feindes: "Die primäre Strategie des
Welteroberers ist es, Kontrolle über diejenigen Strukturen der
Gesellschaft zu erringen, die dem Feind das Leben ermöglicht haben".
Rhetorisch tendieren zwar viele fundamentalistische Bewegungen zur
Welteroberung, sie machen in der Realität aber durchaus viele
(pragmatische) Kompromisse.
WELTVERÄNDERUNG
bekämpft den "Feind", "indem die Strukturen,
Institutionen, Gesetze und Praktiken einer Gesellschaft reinterpretiert und
beeinflußt" werden, um die fundamentalistische Option in einem
missionarischen Kulturkampf allmählich durchzusetzen und die Opposition
mehr und mehr zu marginalisieren.
|
WELTSCHAFFUNG
beruht auf Rückzug von der Außenwelt und konzentriert sich auf die
Bildung einer
alternativen
("neu-geborenen", "reinen")
Enklave,
die sich intentional zwar im Wettstreit mit der äußeren
"gefallenen" Welt befindet. Die Strategie beruht jedoch auf der
"Schaffung alternativer und umfassender sozialer Strukturen und
Institutionen". Mission dient hierbei der Rekrutierung neuer Mitglieder
für die Enklave, aber nicht der Veränderung der Außenwelt.
Jedem Fundamentalismus liegt diese Haltung des 'Weltschaffens'
primär zugrunde.
WELTVERZICHT
stellt eine eher seltene fundamentalistische Option dar, die ihre Energie auf
Reinheit
und
Selbsterhaltung
abstellt, statt auf Herrschaft über 'gefallene'
Außenseiter. Die Beziehung zur Außenwelt gestaltet sich hierbei
"in einer komplexen Struktur von Abhängigkeit und Ablehnung".
Trotz rigider fundamentalistischer Doktrin wird keine soziale Gegenwelt
geschaffen, sondern (zunächst) ein stiller Rückzug in häusliches
Leben, Erziehung und religiöses Ritual vorgezogen.
weltabgewandt
|
Ich
hoffe, daß mein Referat der Problemanzeigen und konzeptionellen
Präzisierungsversuche im Blick auf den unserer Tagung zugrundeliegenden
Begriff etwas zur Vorstrukturierung unseres Themas beitragen konnte. Am
auffälligsten erscheint mir gegenüber dem alltagssprachlichen
Gebrauch des Fundamentalismus-Begriffs, daß die empirisch breit
abgestütze Untersuchung des FP die
Gewaltbereitschaft
nicht
als
konstitutives Kriterium
verifizieren konnte. Manifeste Gewaltbereitschaft eignet vielmehr nur einer
bestimmten Form des "welterobernden" Fundamentalismus, der für
die Durchsetzung und Vollstreckung seines absoluten Wissens auf entsprechend
militant mobilisierbare sozialmoralische Milieus angewiesen ist. Diese
Erkenntnis deckt sich bereits mit den Ergebnissen der
RIESEBRODT-Studie,
die sich auf diesen besonderen Typus konzentriert hatte.
Im
Anschluß an die Ergebnisse des FP
plädiere
ich daher für eine möglichst enge und differenzierte Verwendung des
Fundamentalismus-Begriffs im akademischen Sprachgebrauch
.
Wie man aus der weiter oben angeführten Übersichtstafel über
"Fundamentalistische Eigenschaften" in der rechten Spalte ersehen
kann, sind die Autoren des FP zu dem nachvollziehbaren Ergebnis gelangt,
zwischen fundamentalistischen Bewegungen im Vollsinn
(Abrahamic
Fundamentalism)
und
lediglich "fundamentalismusartigen"
Gruppen
(Fundamentalistlike
Movements)
zu
unterscheiden (FP V, 416--423):
Kriterium
ist hierbei das größtmögliche Vorhandensein der bereits
erwähnten ideologischen und organisatorischen Charakteristika (und ihre
genauere Interpretation)
.
Anhand dieser Kriterien wird die
spezifische
Differenz
des Fundamentalismus-Begriffs als religionswissenschaftlicher Gattungsbegriff
wesentlich präzisiert. Außerdem wird dadurch sichergestellt,
daß der Begriff nicht notwendig zu einer schlichten polemischen Vokabel
verkommen muß, sondern tatsächlich als deskriptives Konzept
eingesetzt und heuristisch plausibel begründet werden kann. Hinter diese
empirisch verantworteten und analytisch ausgesprochen differenzierten
Ergebnisse des FP sollte daher nicht mehr ohne Grund zurückgegangen
werden.
ALMOND,
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zum Menschen
41 (1989), 52--70.
SCHÄFER,
H.:
Protestantismus
in Zentralamerika. Christliches Zeugnis im Spannungsfeld von US-amerikanischem
Fundamentalismus, Unterdrückung und Wiederbelebung
"indianischer" Kultur.
Frankfurt/M.
1992.
WIEßNER,
G
.:
"Der Fundamentalismus in der Religionsgeschichte", in: D.
LANGE
(Hg),
Religionen
-- Fundamentalismus -- Politik
(s.d.), 47--64.
Anmerkungen:
[1]
Ursprünglich das Einleitungsreferat zu dem Symposium "Fundamentalismus in der Dritten Welt" (29.-30. Januar 1999), das vom "Interdisziplinären Arbeitskreis Dritte Welt" und dem Studium Generale an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz veranstaltet wurde. -- Der Vortragsstil wurde in dieser Textfassung weitgehend beibehalten. (Die Publikation erfolgte unter demselben Titel mit kleineren Überarbeitungen und Aktualisierungen in: Tim Unger (Hg), Fundamentalismus und Toleranz. Hannover 2009, 163–195.).
[2]
Vgl. dazu noch immer die programmatische Grundlegung bei
JOACHIM WACH, Religionswissenschaft
-- Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung
(Leipzig 1924). Für Wach gilt: Fußend und aufbauend auf der
grundlegenden, längsschnittmäßig-historischen Darstellung
einzelner Religionsgebilde wäre in einem ersten
querschnittmäßigen Schritt eine
matriale
Systematik
zu entwickeln, die konkrete Begriffe und Strukturen dieser Religion zu erfassen
sucht; auf einer weiteren querschnittmäßigen, nämlich
religionsübergreifend komparatistisch orientierten Ebene ist dann auf
höherem Abstraktionsniveau die
formale
Systematik
anzusiedeln, die der Klärung allgemeiner religiöser Phänomene
und Typologien dient.
[3]
Vgl. zu dieser Feststellung
THOMAS
MEYER, Art. "Fundamentalismus", in: S. R. DUNDE (Hg),
Wörterbuch
der Religionssoziologie
.
Gütersloh 1994, 92.
[4]
Im Sinne von
HANS
LENK, Philosophie
und Interpretation.
Frankfurt/M.
1993.
[5]
So
JÄGGI
in C. J. JÄGGI & D. J. KRIEGER, Fundamentalismus.
Ein Phänomen der Gegenwart.
Zürich & Wiesbaden 1991, 17 (vgl. dort auch "Zum Begriff des
Fundamentalismus" 15--20).
[6]
Diese schematische Darstellung beruht auf den systematischen Analysen in meiner
Mainzer Habilitationsschrift
Der
eigene und der fremde Glaube
(z.Zt. Drucklegung bei Mohr/Siebeck, Tübingen), die an das
Synkretismus-Modell von Ulrich Berner (1982) anknüpfen.
[7]
Zit. n. B. LUCHESI, Art. "Nativismus", in:
Handbuch
religionswissenschaftlicher Grundbegriffe,
Band
4, Stuttgart 1998, 219--221.
[8]
So z.B. im Sinne von
CLIFFORD
GEERTZ, Dichte
Beschreibung. Frankfurt/M.1983, 46ff.
[9]
Vgl.
JOACHIM
WACH, Sociology
of Religion
.
Chicago/London 1971 (
11944),
17ff.
© Andreas Grünschloß 04/1999