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Veröffentlichungen 1997
Warum die Kirche lügen muss
Das bedrückendste Schauspiel im Kirchenjahr steht wieder vor der
Tür. Von allen Kanzeln der Welt wird der Ruf erschallen: Jesus ist
auferstanden. Obwohl eindeutig feststeht: Jesus hat sein Grab niemals
verlassen, sein Leichnam ist verwest. Doch die Kirchenführer der
beiden groÝen Konfessionen wagen es nicht, ihre Gemeindeglieder über
wissenschaftliche Tatsachen aufzuklären, aus Furcht diese könnten
sonst ihren Glauben verlieren. AuÝerdem, sagen die Kirchenführer, käme
es weniger auf die Historie als auf die Deutung an: In der
Auferstehung Jesu habe das Leben den Tod besiegt. Doch statt klar zu
sagen, dass die "Auferstehung" nur eine Interpretation ist,
greift man weiter zu erbärmlichen Ausflüchten. Aus gutem Grund: Die
Auferstehung Jesu ist unentbehrliches Requisit der Theologie - und
zugleich beweist sie scheinbar unser aller Unsterblichkeit. Sie ist
ein phantastisches Heilsangebot, mit dem die Kirchen der ganzen Welt
zur Beruhigung der menschlichen Angst beitragen. Auch deswegen wollen
die Staatsapparate die Macht der groÝen Kirchen erhalten, auch jetzt
noch, wo diese kein tragfähiges ideologisches Fundament mehr besitzen
und ihre Glaubwürdigkeit immer mehr einbüÝen.
Auf welch einer brüchigen Basis kirchliche Verkündigungen stehen,
zeigt sich nicht nur zu Ostern, sondern jeden Sonntag. In den
Gottesdiensten erfolgt regelmäÝig ein Bekenntnis zur Geburt Jesu durch
die jungfräuliche Maria. Ein harter Brocken, der besonders zu
Weihnachten nur schwer zu schlucken ist, wenn Kirchenchöre hundertfach
die "Jungfrau zart" rühmen. Die Protestanten sind hier in
einer besseren Lage als die Katholiken. Deren Papst erklärte erst im
Jahre 1950 die bis dahin als Fakt gehandelte körperliche(!)
Himmelfahrt der Maria zum sinnbildlichen Lehrsatz, zum "göttlich
offenbarten Dogma". Und erst vor vier Jahren stand im
"Katechismus der katholischen Kirche" wieder einmal der
steile Satz, Maria sei allezeit Jungfrau geblieben.
Was konkret heiÝt: Auch während der Geburt Jesu blieb Marias
Jungfernhäutchen unversehrt. Diese wunderbare Aussage ist zwar
durchaus im Sinne Martin Luthers, demzufolge die jungfräuliche Geburt
Jesu bei geschlossener Gebärmutter geschehen sei. Anders als ihre
katholischen Kollegen haben aber die evangelischen
BischöfesolcheTollheiten längst ebenso verdrängt wie Luthers
antisemitische Entgleisungen.
Doch auch die evangelische Kirche bemüht die Jungfrau Maria
weiterhin, statt die Bischöfe einhellig erklären zu lassen, die
Jungfrauengeburt sei zu streichen, denn Jesus sei nachweislich von
Frau und Mann gezeugt worden.
Das Beharren auf der Jungfräulichkeit ist eine seltsame Mischung
aus Frömmigkeit und Verteufelung der Herkunft Jesu aus dem
menschlichen Geschlecht. Zudem wertet es besonders die weibliche
Sexualität als etwas Schmutziges ab. Maria als "GefäÝ" des
Heiligen Geistes hat auch durch ihr Vorbild für Frauen nur als
williges Werkzeug der Männlichkeit Gottes viel Schaden angerichtet.
Noch mehr perfide Verlegenheiten zerrütten die Legitimationsbasis
beider groÝer Kirchen. Für die Christen der Gegenwart und
Vergangenheit gilt die Bibel als Wort Gottes. Doch sie ist
Menschenwerk. Und nur wer heute noch die geschichtliche Entstehung der
Bibel leugnet, kann behaupten, die damaligen Verfasser hatten über
ihre Zeitgenossen hinaus auch noch jene angesprochen, die 2000 Jahre
später ihre Worte lesen würden.
Doch trotz dieser gesicherten wissenschaftlichen Einsichten gilt
die Bibel den Kirchen immer noch als Anrede Gottes, auch wenn diese
Anrede in und durch Menschenwort geschieht. Diese Auffassung beruht
auf einem naiv-durchtriebenen Schriftverständnis, das sich an der
Oberfläche zwar historisch-kritisch gibt, aber gleichzeitig die
historische Kritik zurechtstutzt und notfalls diffamiert. Unter der
scheinbar aufgeklärten Oberfläche ist bei der katholischen, aber auch
bei der evangelischen Kirche doch noch viel Fundamentalismus zu
erkennen.
Das ist umso weniger verwunderlich, als beide groÝe Kirchen einem
Gottesbild huldigen, verwurzelt im Alten und Neuen Testament, das
weder Toleranz gegenüber Andersdenkenden noch Demokratiefähigkeit
kennt: Gott gilt als König, als Herr, dem einfach zu gehorchen ist.
Deswegen kam es früher zu den blutigen Auseinandersetzungen der
beiden Kirchen untereinander, deswegen haben sie auch heute noch
Schwierigkeiten, in einem demokratischen Staatswesen wirklich
mitzuarbeiten. Und daher rührt auch der christliche Antisemitismus der
Vergangenheit.
Natürlich enthalten sich die Kirchen der Gegenwart tunlichst
jeglicher antijüdisch klingenden Aussage und bemühen sich um einen
echten Dialog mit Israel. Will man aber den kirchlichen Antisemitismus
der Vergangenheit richtig verstehen, muss man erkennen, dass er in der
Heiligen Schrift selbst wurzelt.
Dort wird nämlich Gewalt im Namen Gottes glorifiziert, Intoleranz
geht mit dem Bewusstsein einher, aus-erwählt zu sein. Texte des Alten
Testaments enthalten den rücksichtslosen Befehl Gottes, ganze Völker
im heiligen Krieg rituell auszurotten.
Der heilige Krieg, wie er im 5. Buch Muse und im Buch Josua
beschrieben wird, blieb zwar mehr Wunsch und Fiktion, als er Realität
werden konnte. Trotzdem gilt in diesen Büchern des Alten Testaments
das Abschlachten von besiegten Frauen, Kindern und Männern
abscheulicherweise als Gebot Gottes, über dessen Einhaltung Gott
eifersüchtig wacht, ja, auf dem er unbedingt besteht. GemäÝ dem Buch
Esra sollen im erwählten Volk Israel auch Mischehen aufgelöst werden.
Der biblische Psalm 137 preist denjenigen Rächer, der die Kinder der
Widersacher Israels am Felsen zerschmettert.
Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, rechnet
diejenigen Juden, die in Jesus von Nazareth nicht den erwarteten
Messias sehen können, der Synagoge des Satans zugehörig; das
Johannes-Evangeliun diffamiert die jüdischen Gegner rundweg als
Teufelssöhne.
Die Evangelien verwischen auch die Schuld der Römer am Tod Jesu,
so dass der in Wahrheit brutale Pontius Pilatus am Ende sogar als
Christenfreund in die Geschichte eingehen konnte. Für gläubige
Christen ist die jüdische Niederlage gegen die römische
Besatzungsmacht und die Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalein
nach Jesu Tod die gerechte Strafe Gottts. Am Ende der
Apostel-geschichte spricht die entstehende Kirche der jüdischen
Religionsgemeinschaft das Existenzrecht ab und ruft sich selbst zu
deren Erben aus.
Die Tragödie des chistlichen Antisemitismus beruht darauf, dass
die christliche Kirche Gewalt ausgerechnet gegen ihre eigene Wurzel
richtete, gegen das jüdische Volk. Sie entfachte eine
Unheilsgeschichte sondergleichen; blutige Schatten reichen von
endlosen Diskriminierungen über die mittelalterlichen Kreuzzüge
indirekt bis hin zu den Konzentrationslagern der Nazizeit. Diese wären
undenkbar gewesen, hätten nicht die Kirchen fast einhellig 2000 Jahre
lang verkündigt, die Juden würden für alle Zeiten büÝen müssen, dass
sie Jesus umgebracht hätten.
Angemessene Kritik kann daher nicht vor dem Inhalt der Bibel Halt
machen. Man muss sich dem Befund stellen, dass dort
Grausamkeit,Intoleranz und Genozid sozusagen von Gott verordnet oder
zumindest legitimiert werden. Die Krit'k muss ernst nehmen, was die
religiöse Propaganda und ihre Gewaltutopien in der Geschichte bewirkt
haben, und muss verhindern, dass all dies theologisch verharmlost
wird.
Doch wie viele der angeführten historischen Ergebnisse,
wissenschaftlich eindeutig belegt, kommen in den Erklärungen der
Bischöfe beider Konfessionen und in den Kirchen-predigten zum Tragen?
Vermutlich sehr wenige. Im gerade verflossenen
Martin-Luther-Gedenkjahr sprachen die bischöflichen Verlautbarungen
Luthers antisemitische Hetzschrift von 1543 ("Von den Juden und
ihren Lügen") nicht an. Zur Jungfrau Maria äuÝern sich
evangelische Bischöfe auch nicht, um ihre katholischen Kollegen zu
schonen: Die Kirche muss lügen, um ihre Machtstellung im Staat nicht
zu verspielen und um die schein-bar ahnungslosen Gläubigen bei der
Stange zu halten.
Fast vollkommen gelingt das perfide Spiel. An unseren
Universitäten erforschen, natürlich nach Konfessionen getrennt, streng
an ihr kirchliches Glaubensbekenntrnis gebundene Professoren die
christliche Wahrheit. Ungetaufte dürfen kein staatliches Examen
ablegen und schon gar nicht als Dozenten der theologischen Fakultät
arbeiten: Theologie an den Hochschulen ist ausschlieÝlich eine
kirchliche Wissenschaft, abgesichert durch Monopolverträge mit dem
Staat.
Um ihren gesellschaftlichen Einfluss zu erhalten, treten beide
groÝe Kirchen öfter gemeinsam auf. Letztes Beispiel dafür ist das
gerade veröffentlichte "Sozialwort". Hier haben die Kirchen
alle gesellschaftlichen Gruppen aufgerufen, Arbeitsplätze zu erhalten
und neue zu schaffen. Gleich-zeitig ziehen sie sich selber - als
immerhin zweitgröÝter Arbeitgeber Deutschlands - aus der
Verantwortung. Im evangelischen Bereich wird der früher so begehrte
Nachwuchs heute groÝenteils vor die Tür gesetzt.
Verhaltensweisen, doppelbödig und nicht wahrhaftig. Wie lange mag
die auf Verdummung der Gläubigen und enormen Privilegien beruhende
Allgegenwärtigkeit der Kirche in unserem Staat noch dauern? Kann das
Possenspiel mit Bibel, Bekenntnis und Alleinvertretungsanspruch in
Sachen Sinn des Lebens auch in Zukunft gut gehen? Das Vertrauen weiter
Teile des Bildungsbürgertums und der politischen Elite in die
Ehrlichkeit der Kirchen ist an manchen Stellen bereits erschüttert.
Und die Glaubwürdigkeit der Kirche wird weiter bröckeln, wenn
Kirchenführer und Theologen nicht endlich ihre dogmatische
Rumpelkammer aufräumen und klar sagen, was christlicher Glaube unter
den Bedingungen unserer Neuzeit wirklich heißt.
Andernfalls verspielen unsere Kirchen das Erbe des Christentums,
ein Erbe, das zu unserer aller Kultur gehört. Und das kann in wirklich
niemandes Interesse sein.
(Die Woche Nr. 14, 28. März 1997)