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Ist das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik noch zeitgemäß?
Dazu der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts
VON REINHARD MAWICK UND JÜRGEN WANDEL
Herr Professor Mahrenholz, die Bundesrepublik ist einerseits ein
weltanschaulich neutraler Staat. Andererseits steht in der Präambel
des Grundgesetzes, dass dieses in der "Verantwortung vor
Gott" beschlossen worden ist. Ist das nicht ein Widerspruch?
Ernst-Gottfried Mahrenholz: Nein. Der Gottesbezug in der Präambel
des Grundgesetzes hat einen engen Bezug zu Artikel 1: "Die Würde
des Menschen ist unantastbar." Dass die Würde des Menschen nicht
in der Verfügungsgewalt des Staates steht, kommt hier durch eine
metaphysische Formel zum Ausdruck, die eine Verantwortung beschreibt,
die über irdische Instanzen hinausreicht. Wer dagegen aus dem
Gottesbezug des Grundgesetzes herausliest, dass Deutschland eine
christliche Gesellschaft ist oder werden muss, verfehlt den Sinn
dieser Wendung. Der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes muss
von der damaligen historischen Situation her gesehen werden. Er
markiert den fundamentalen Unterschied zwischen der Bundesrepublik und
dem Hitlerstaat.
ØDer Mensch darf über bestimmte Werte und den Mitmenschen nicht
verfügenÆ
Das heißt, der Hitlerstaat hat sich an die Stelle Gottes gesetzt,
der Gottesbezug des Grundgesetzes dagegen macht deutlich, es gibt
Werte, über die der Mensch, auch eine Mehrheit des Volkes, nicht
verfügen kann.
Mahrenholz: Ja, der Mensch darf nicht über bestimmte Werte und er
darf auch nicht über seinen Mitmenschen verfügen.
Das Grundgesetz regelt zum Teil auch die Beziehung zwischen Staat
und Kirche. Artikel 7 Grundgesetz bestimmt, dass der
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach ist,
das in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften
erteilt wird. Halten Sie diese Regelung für zeitgemäß?
Mahrenholz: Sie ist eine deutsche Bildungstradition, die die
verfassunggebenden Versammlungen 1919 und 1949 nach Kämpfen akzeptiert
haben. Ich sehe keinen Grund, sich von ihr zu trennen. Im Übrigen kann
sich jeder Schüler, der 14 Jahre alt und damit religionsmündig ist,
vom Religionsunterricht abmelden.
Nun sind ja die neuen Bundesländer sehr stark säkularisiert. Daher
hat das Land Brandenburg das Fach
"Lebenskunde-Ethik-Religion" (LER) eingeführt. Halten Sie es
für rechtlich einwandfrei, dass der Staat ein solches Fach in eigener
Regie eingeführt hat?
Mahrenholz: Zu den verfassungsrechtlichen Fragen möchte ich mich
nicht äußern. Das ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes...
... dort liegt die Klage gegen LER schon sehr lange!
Mahrenholz: Man will ein gutes Urteil, kein schnelles. Und das
Gericht macht sich schwierige Fragen selbst schwer.
Aber während die Klage in Karlsruhe liegt, werden doch in
Brandenburg Fakten geschaffen.
Mahrenholz: Das ist klar. Aber das eigentliche Faktum ist ein
Gesetz, das der brandenburgische Landtag demokratisch mit Mehrheit
beschlossen hat. Das liegt nun einmal in seiner Verantwortung. Im
Übrigen sollten sich die Kirchen einmal fragen, ob sich der
Religionsunterricht, der in Sachsen erteilt wird, tatsächlich vom LER
in Brandenburg kategorial unterscheidet.
Sie widersprechen sich. Sie haben doch selber die Regelung des
Grundgesetzes gelobt, die den konfessionellen Religionsunterricht
vorsieht.
Mahrenholz: Wieso? Wenn sich ein Bundesland anders entscheidet -
sofern es sich so entscheiden darf, was das Gericht prüft -, muss ich
das hinnehmen.
Sie sind also für den konfessionellen Religionsunterricht nur
deswegen, weil er sich so entwickelt hat?
Mahrenholz: Nein, ich bin dafür, dass die Schüler mit der Bibel
und dem Christentum vertraut werden, wenn das Grundgesetz die
Möglichkeit hierzu gibt. Das ist auch eine Bildungsfrage.
Der Religionsunterricht soll also die Werte der Bibel und des
Christentums vermitteln.
Mahrenholz: Zunächst geht es erst einmal um Kenntnisse. Werte
werden auch außerhalb des Religionsunterrichts vermittelt.
Aber wenn es nur um Informationen geht, dann würde doch eine
Religionskunde genügen, mit der die Kirchen gar nichts zu tun haben.
So wie im Gemeinschaftskundeunterricht Informationen über die
staatlichen Institutionen vermittelt werden.
Mahrenholz: Es ist doch ein Unterschied, ob ein Katholik über
Luther redet oder ein Protestant oder ein nichtchristlicher Lehrer.
Und von LER würde ich auch verlangen, dass über Religion nicht nur
informiert, sondern dass sie als existentielle Daseinsform auch
nachvollziehbar wird. ØIch habe keine Schwierigkeiten mit einer
Lehrerin, die ein Kopftuch trägtÆ
Die Frage, ob der Staat in alleiniger Regie Religionsunterricht
erteilen darf oder nur zusammen mit den Religionsgemeinschaften,
stellt sich auch beim Islamunterricht. Das Land Nordrhein-Westfalen
will in eigener Regie einen Islamunterricht für muslimische Schüler
anbieten. Halten Sie das als Übergangsregelung für möglich?
Mahrenholz: Ja, aber nur, wenn kein antipluralistischer Unterricht
in fundamentalistischem Sinn stattfindet. Das Toleranzgebot ist auch
hier schlechthin entscheidend. Im Übrigen habe ich auch keine
Schwierigkeit damit, wenn eine muslimische Lehrerin ein Kopftuch
trägt. So wie eine katholische Ordensfrau an einer staatlichen Schule
in ihrem Habit unterrichten darf.
Sie haben gegenüber der muslimischen Kopftuchträgerin keine
verfassungsrechtlichen Bedenken?
Mahrenholz: Nein, es sei denn, es lässt sich nachweisen, dass die
muslimische Lehrerin ihr Kopftuch als Bekenntnis gegen den
Wertepluralismus versteht.
Viele haben Bedenken, islamischen Religionsgemeinschaften oder
Sekten wie den Zeugen Jehovas die Rechte einer Körperschaft des
Öffentlichen Rechtes zu verleihen. In den meisten Schweizer Kantonen
können nur die Religionsgemeinschaften Körperschaftsrechte erhalten,
die eine demokratische Verfassung haben. Sollte Deutschland dem
Schweizer Beispiel folgen?
Mahrenholz: Nein. Denn man darf zum Beispiel der katholischen
Kirche nicht ihre innere Organisation vorschreiben. Wem die Verfassung
einer Religionsgemeinschaft zu undemokratisch ist, der kann ja
austreten.
Die Verfassung einer Religionsgemeinschaft hat Folgen für ihre
Angestellten. Um es zugespitzt zu formulieren, wenn der geschiedene
Heizer eines katholischen Krankenhauses wieder heiratet, kann er
entlassen werden. Denn die Kirchen dürfen nach dem Grundgesetz ihre
Angelegenheiten selbständig regeln. Das kollidiert doch mit dem
heutigen Rechtsempfinden.
Mahrenholz: Die Kirche darf das Verhalten des Heizers als illoyal
werten. Ob aber ein Kündigungsgrund vorliegt, das bestimmt sich
ausschließlich nach dem staatlichen Recht. Dies hat das
Bundesverfassungsgericht entschieden.
Viele Bundesländer zahlen den Kirchen immer noch Millionenbeträge
für die Liegenschaften, die der Staat den Kirchen Anfang des 19.
Jahrhunderts unter Napoleon weggenommen hat. Das Grundgesetz dagegen
bestimmt, dass diese Staatsleistungen abzulösen sind. Herrscht an
diesem Punkt ein verfassungswidriger Zustand?
Mahrenholz: Ach wissen Sie, diese Bestimmung des Grundgesetzes
stand schon in der Weimarer Reichsverfassung. Würde der Staat seine
finanziellen Leistungen für die Kirche ablösen, gäbe es angesichts der
komplizierten Rechtslage einen lang andauernden Rechtsstreit, und am
Ende würde es für den Staat eine teure Angelegenheit. Ich denke, es
gibt wichtigere Dinge.
Konkordate und Kirchenverträge regeln die Stellung der
theologischen Fakultäten an den Universitäten. Dabei ist dann
festgelegt, dass ein Theologieprofessor nur mit Zustimmung der Kirche
ernannt werden darf. Verliert er seine kirchliche Lehrerlaubnis, muss
der Staat den Professor aus der theologischen Fakultät entfernen, ihn
aber gleichzeitig weiter beschäftigen, weil er staatlicher Beamter
ist. Außerdem muss der Staat einen Nachfolger einstellen, der den
Segen der Kirche hat. Halten Sie diese Regelung, die auch viel Geld
kostet, in einem weltanschaulich neutralen Staat für angemessen?
Mahrenholz: Die Regelungen sind für die beiden Kirchen durchaus
unterschiedlich. Die Grundsatzfrage lautet: Was passiert, wenn ein
Theologieprofessor sich vom Glauben und der Kirche lossagt. Das hat
zum Beispiel Küng in Tübingen nicht getan, wohl aber Lüdemann in
Göttingen. Was Herrn Lüdemann betrifft, er kann sich nicht vom
Evangelium lossagen und gleichzeitig an einer Einrichtung arbeiten,
die der kirchlichen Ausbildung dient. Im Übrigen geht es mir mit den
theologischen Fakultäten an den Universitäten wie mit Gott in der
Präambel des Grundgesetzes. Wenn es ihn dort nicht gäbe, würde ich ihn
jetzt nicht extra hineinschreiben. Wenn es keine theologischen
Fakultäten gäbe, würde ich sie nicht einrichten. Doch ich gehe von dem
aus, was historisch gewachsen ist und sich bewährt hat. Die
theologischen Fakultäten, die an den alten deutschen Universitäten
traditionell ihren Platz haben, sind auch eine Bereicherung des
Wissenschaftsbetriebes insgesamt.
Aber das ist doch das Problem, dass eine staatliche Einrichtung
gleichzeitig eine kirchliche Ausbildungsstätte ist.
Mahrenholz: So ist es. Aber müssen wir deswegen etwas abschaffen,
das existiert und sich bewährt hat? Worin liegt der Sinn, etwas
Hergebrachtes zu zerstören, nur um ein Prinzip durchzusetzen.
Aber das ist doch etwas wenig, nur mit der normativen Kraft des
Faktischen zu argumentieren. Es gibt doch auch positive,
zukunftsweisende Gründe, die für theologische Fakultäten an
staatlichen Universitäten sprechen.
Mahrenholz: Ich habe nicht von der Normativität des Faktischen
gesprochen, sondern vom Hergebrachten. Und ich habe auch positive
Gesichtspunkte genannt. Ich wäre im Übrigen auch nicht für die
Abschaffung des Oberhauses in Großbritannien (schmunzelt).
Sie sind ja ein Konservativer!
Mahrenholz: Ich habe Respekt vor dem, was geschichtlich gewachsen
ist, wenn es die Grundlagen unseres freiheitlich verfassten
Gemeinwesens nicht antastet.
Ein Konfliktfeld zwischen Staat und Kirche ist das sogenannte
Kirchenasyl, das Kirchengemeinden Asylbewerbern gewähren, die von
Behörden und Gerichten abgelehnt wurden. Ist das nicht eine Anmaßung
der Kirche? Schließlich leben wir doch in einem Rechtsstaat.
Mahrenholz: Wir haben immer mal wieder ein Urteil, das bestimmte
Einzelheiten eines Asylgesuches vielleicht nicht hinreichend würdigt.
Wenn in diesen Fällen Kirchengemeinden Asylbewerber unterstützen, sehe
ich das als Teil ihres kirchlichen Auftrags, auch wenn sie dadurch in
Konflikt mit dem Staat kommen.
In dieser Frage wird deutlich, dass es für Christen eine Spannung
gibt zwischen Recht und Gerechtigkeit, Gesetz und Gnade. Wie sind Sie
denn als Richter mit diesem Problem umgegangen? ØIch musste mich als
Richter nie gegen mein Gewissen entscheidenÆ
Mahrenholz: Meine Antwort wird Sie erstaunen. Ich kann mich keines
einzigen Falles entsinnen, in dem ich gegen mein Gewissen entscheiden
musste. Das Normengeflecht der Grundrechte und des Rechtsstaates ist
offenbar verlässlich.
Nach der Wiedervereinigung gab es Diskussionen um eine neue
Verfassung, denn das Grundgesetz war ja nur als Übergangslösung
während der Teilung gedacht. Braucht das wieder vereinigte Deutschland
eine neue Verfassung?
Mahrenholz: Nein. Ich sehe nur an zwei Punkten Handlungsbedarf. So
sollte es auch auf Bundesebene die Möglichkeit des Volksbegehrens und
der Volksabstimmung geben. Denken Sie daran, dass die Bayern über so
wichtige Fragen wie die Konfessionsschule, den Rundfunk und die
Entsorgung des Abfalls abgestimmt haben. Wenn die Bürger in Bayern
über so wichtige Fragen abstimmen dürfen, warum will man dann den
Bürgern dies Recht auf Bundesebene vorenthalten? Außerdem sollte das
deutsche Volk entscheiden dürfen, ob es das Grundgesetz als Verfassung
des wieder vereinigten Deutschlands haben will.
Warum?
Mahrenholz: Das Grundgesetz spricht von der verfassunggebenden
Gewalt des Volkes, die das Grundgesetz geschaffen hat. Das muss
eingelöst werden. Und ein Volk kann sich nur in Wahlen und
Abstimmungen äußern.
Wenn Sie am Grundgesetz als Verfassung für das wieder vereinigte
Deutschland festhalten, dann sind Sie auch für das von ihm geregelte
Verhältnis von Staat und Kirche, die sogenannte hinkende Trennung von
Staat und Kirche?
Mahrenholz: Richtig. Doch die entscheidende Frage ist: Wie verhält
sich die Kirche in der Gesellschaft? Eine Kirche muss ihr Wächteramt
wahrnehmen und als kritisches Gegenüber zur Gesellschaft ihren Mund
aufmachen. Das ist für mich der Kern eines zeitgerechten
Staat-Kirche-Verhältnisses. Früher haben die Kirchen zum Beispiel den
Kriegsdienstverweigerern vor den Prüfungsausschüssen beigestanden. Und
sie haben in der DDR das Recht auf Kriegsdienstverweigerung
durchgesetzt, wenn auch mit Abstrichen. Heute erwarte ich von den
Kirchen, dass sie zum Beispiel ein nachdenkliches Wort zum Kosovokrieg
sprechen. Wobei ich natürlich davon ausgehe, dass die Kirchen über die
Sachfragen informiert sind.
Zur Biographie
Ernst-Gottfried Mahrenholz, 69, wurde 1981 Richter am
Bundesverfassungsgericht. Von 1987 bis 1993 war er dessen
Vizepräsident. Der Pfarrerssohn ist Ritter des Ordens vom heiligen
Silvester. Diese Auszeichnung erhielt Mahrenholz vom Papst für die
Mitwirkung beim Zustandekommen des niedersächsischen Konkordats 1964.
Von 1974 bis 1976 war der Sozialdemokrat Kultusminister in Hannover
©DS - DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT