Gerd Lüdemann's Homepage
Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 2012
Prof. Dr. Gerd Lüdemann, Göttingen, im März 2012
Webseite: gerdluedemann.de
Literatur: Gerd Lüdemann, Die Auferweckung Jesu von den Toten, 2.
Aufl., 2012.
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Neue Deutung der Auferstehung Jesu als Trauerarbeit
KURZTEXT
Das Grab blieb voll, Jesus ist nicht körperlich auferstanden. Die
biblischen Texte, die es anders sagen, sind spätere Ausformungen des
Auferstehungsglaubens. Jesu Leichnam verweste oder wurde - wie die
Leichname der meisten Gekreuzigten auch - von Tieren gefressen. Ostern
begann mit der Vision des Petrus. Eine psychologische Erklärung dieser
Vision als Trauerarbeit lässt uns die Genese des christlichen
Auferstehungsglaubens besser begreifen.
LANGTEXT
Für Petrus ist in der Dramatik der Karfreitags- und
Verleugnungssituation die Welt zusammen gebrochen.1 Zu Ostern
ist dem erschütterten, trauernden Petrus - trotz seiner Verleugnung
Jesu und trotz dessen Tod - Jesus noch einmal als redende Person
begegnet: er hat ihn "gesehen".
Dass sich die Situation des Petrus als Trauergeschehen beschreiben
lässt, zeigt ein Vergleich mit Berichten v on Trauernden, die
gelegentlich auch das Element der bildhaften Vergegenwärtigung des
verlorenen geliebten Menschen enthalten. Yorick Spiegel2 führt
einige Fälle an:
Der Trauernde hört die Schritte des Verstorbenen auf der Treppe,
hört den Kies vor dem Haus knirschen und glaubt, die Tür öffne sich:
Ich sah Kay, wie er innerhalb der Haustür stand. Er sah aus, wie
er immer aussah, wenn er von der Arbeit zurückkam. Er lächelte, und
ich rannte in seine ausgestreckten Arme, wie ich es sonst immer tat,
und lehnte mich gegen seine Brust. Ich öffnete die Augen, und das Bild
war verschwunden.
Eine Mutter, die ein Baby verloren hat, mag es im Halbschlaf
weinen hören und zu seinem Bett stürzen, bevor sie realisiert, daß
dies alles nur ein Wunsch war.3
Besonders häufig berichten Kinder, die den Vater oder die Mutter
verloren haben, in anschaulicher Weise, wie diese am Bettrand sitzen
und mit dem Kinde sprechen. Fast die Hälfte der Patienten, die (Colin
Murray) Parkes4 untersucht hatte, berichtete von ähnlichen
Sehstörungen. Oft werden Schatten als Erscheinung des Verstorbenen
wahrgenommen.5
Neben Halluzinationen und Auditionen findet sich fast noch
häufiger das Gefühl, der Verstorbene sei präsent. Parkes gegenüber
erzählten verwitwete Frauen:
Ich habe immer noch das Gefühl, er ist in der Nähe, und da ist
irgendetwas, was ich für ihn tun soll oder ihm erzählen soll. Er ist
mit mir jederzeit. Ich höre und sehe ihn, obgleich ich weiß, daß er
nur eine Vorstellung ist; wenn ich meine Haare wasche, dann habe ich
das Gefühl, er ist da und beschützt mich, im Falle, jemand käme durch
die Tür.
Für einige ist die Gegenwart des Toten besonders stark an seinem
Grab. Zu der Kategorie des Mechanismus, durch Abbau der
Realitätskontrolle den Verlust abzuwehren, gehören auch die Träume
über den Verstorbenen.6
Weiter sei ein Bericht angeführt, der als Antwort auf eine
Erhebung der Zeitschrift "Schweizerischer Beobachter" an die
Redaktion geschickt wurde. (Es ging um die Frage, ob die Leser Träume,
die sich später bewahrheiteten, Geistererscheinungen, Vorahnungen usw.
erlebt hätten.) Der Bericht einer Frau lautet:
Mit 9 1/2 Jahren habe ich meinen Vater verloren, ich war immer
untröstlich und habe viele Jahre noch nach ihm geweint ... Dann in
einer Weihnachtsnacht geschah es. Ich war schon im Bett, wollte aber
dann in die Christmesse gehen. Es war gerade Zeit, daß ich wieder
aufstehen sollte, da bekam ich heftige Bauchschmerzen, mußte liegen
bleiben. Kurz darauf hörten sie wieder auf, da war es aber schon zu
spät für die Messe. Also blieb ich im Bett, dann hörte ich die Türe
gehen und leise Schritte, von einem eigentümlichen Klopfen begleitet,
ich war allein in der Wohnung und hatte ziemlich Angst. Dann geschah
das Wunderbare, mein Vater selig kam auf mich zu, so schön, so
strahlend wie Gold, so durchsichtig wie Nebel; er sah so aus, wie er
immer war, ich konnte seine Umrisse genau erkennen, dann machte er
halt vor meinem Bett und sah mich so gütig an und lächelte. In mir zog
ein tiefer Friede ein, und ich war glücklich wie nie zuvor. Dann ging
er wieder.7
In psychoanalytischer Hinsicht mag man sagen: Das Denken kann in
der Dramatik der Verlustsituation archaische Züge annehmen. Der
Zusammenbruch der Welt des Trauernden setzt in hohem Maße libidinöse
und aggressive Energien frei.8 Oft gewinnt auch die Frage der
Schuld in dieser regressiven Phase eine erhöhte Bedeutung.9
Dabei kann sich ein Abbau der Realitätskontrolle vollziehen, denn das
Unbewusste kann sich nicht mit dem Verlust einer geliebten Person
abfinden und "benutzt gerade die Organe, die wesentlich an der
Bildung des Realitätsprinzips beteiligt sind, um sich eine
Scheinbefriedigung zu verschaffen."10
So geurteilt, wäre dann allerdings die Vision des Petrus ein
Wahnglaube bzw. Wunschdenken, ja eigentlich Beispiel einer
missglückten Trauerarbeit11, weil sie den Trauerprozess abrupt
abschneidet.
Um das Verstehen der "Trauer" und der "Vision"
des Petrus zu fördern, sei in diesem Zusammenhang hingewiesen auf
Untersuchungen an der Harvard-Universität über Trauerfälle und den
damit verbundenen schmerzlichen Verlust.12 Die Forscher
begleiteten 43 Witwen und 19 Witwer bei dem Prozess der Trauer und
befragten sie in Abständen von drei Wochen, acht Wochen und dreizehn
Monaten nach dem Tod des Partners. Ziel der Arbeit war die Erforschung
der Gründe, die eine Verarbeitung der Trauer ermöglichten. Unter
anderem ermittelte man drei Faktoren, die eine Trauerarbeit
behinderten: 1. einen plötzlichen Tod, 2. eine ambivalente Beziehung
zum Verstorbenen, die mit Schuldgefühlen verbunden war, und 3. eine
abhängige Beziehung.
Auf die Situation des Petrus und der Jünger bezogen, ist
festzustellen, dass alle drei Faktoren, die Trauerarbeit erschweren,
auf sie zutreffen:
¥ Die Kreuzigung Jesu geschah unvorhergesehen und
plötzlich.13
¥ Die Beziehung der Jünger zu Jesus war von Ambivalenz und
Schuldgefühlen bestimmt: Judas verriet Jesus und beging anschließend
Selbstmord. Die Jünger verließen Jesus fluchtartig und wurden so quasi
zu Deserteuren. Petrus verleugnete Jesus und weinte bitterlich.
¥ Eine Abhängigkeit der Jünger von Jesus kann darin gesehen
werden, dass die meisten Beruf und Heimat verlassen hatten, um mit ihm
zu sein. Die Abhängigkeit wurde vielleicht dadurch noch verstärkt,
dass die Jesusanhänger eine kleine religiöse Gruppe darstellten, die
sich aus ihren ursprünglichen sozialen Strukturen gelöst hatte.
Ein kühner Sprung trug Petrus in die Wahnwelt seiner Wünsche. Er
"sah" Jesus und schuf damit die Voraussetzung dafür, dass
auch die anderen Jünger Jesu diesen "sehen" konnten. Und
nicht nur dies: Einige Jahre später "sah" ein anderer Jude -
der spätere Heidenapostel Paulus - Jesus, obwohl er ihn persönlich nie
kennen gelernt hatte. Die Folgerungen, die sich daraus ergaben, haben
die ganze abendländische Zivilisation zwei Jahrtausende lang bestimmt.
FUSSNOTEN
1 Vgl. Gerd Lüdemann, Die Auferweckung Jesu von den Toten.
Ursprung und Geschichte einer Selbsttäuschung, 2. Aufl., 2012, S.
140-143.
2 Yorick Spiegel, Der Prozeß des Trauerns. Analyse und Beratung,
7. Aufl., 1989.
3 Ebd., S. 171.
4 S. unten, Anm. 12.
5 Spiegel, Prozeß (wie Anm. 2), S. 172.
6 Ebd., S. 173.
7 Aniela Jaffé, Geisterscheinungen und Vorzeichen. Eine
psychologische Deutung. Mit einem Vorwort von C.G. Jung, 1958, S. 67f.
8 Spiegel, Prozeß (wie Anm. 2), S. 68.
9 Ebd., S. 71.
10 Ebd., S. 171.
11 Vgl. Samuel Vollenweider, Ostern - der denkwürdige Ausgang
einer Krisenerfahrung, in: Theologische Zeitschrift 49. 1993, S.
34-53, hier S. 41.
12 Colin Murray Parkes / Robert S. Weiss: Recovery from
Bereavement, 1983.
13 Vorausgesetzt sei, dass die Leidens- und
Auferstehungsweissagungen Jesu (Mk 8,31; 9,31; 10,32-34) Erfindungen
sind.
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