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Brief an Jesus

Brief an Jesus. Ein Bekenntnis (Auszug) 1

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Lieber Herr Jesus, so habe ich Dich seit meiner Kindheit angeredet und es beim Tischgebet (»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne uns und was du uns aus Gnaden bescheret hast!«) jahrelang gesagt. Ein anderes Gebet (»Herr Jesus, du Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!«) habe ich am Abend wie eine magische Formel immer wieder gesprochen, obwohl ich gar nicht mehr wußte, was ich da eigentlich tat. Aber gerade deswegen hat sich mir

Deine Anrede als »Herr Jesus« so tief eingeprägt. Dieses Beten zu Dir als dem Herrn Jesus hat sich aus Gründen der Gewohnheit, Gedankenlosigkeit und Angst auch noch in späteren Zeiten fortgesetzt, obwohl ich schon seit langem wußte, daß Du ganz anders warst, als es mir von meinen Eltern, meinen Lehrern und meinem Pastor nahegebracht wurde.

Du bist mir als Person, die ich anreden kann, nämlich ganz fremd geworden. Denn das allermeiste, was Du der Bibel zufolge gesagt bzw. getan hast, hast Du gar nicht gesagt und getan. Außerdem bist Du gar nicht der, als den Dich Bibel und kirchliche Tradition darstellen. Du warst nicht ohne Sünde und bist nicht Gottes Sohn. Du wolltest überhaupt nicht für die Sünden der Welt sterben. Und was mir besonders schmerzlich war: Du hast das Abendmahl, das ich jahrelang allsonntäglich zu Deinem Gedächtnis beging, nicht eingesetzt. Das Brot, das ich aß, war nicht Dein Leib, und der Wein, den ich trank, war nicht Dein Blut. Es war nur meine Sehnsucht, die das alles erhoffte. Sie hat sich vollständig auf die Diener Deiner Kirche verlassen. Aber statt meinen Zweifel daran ernstzunehmen, ob ich, fast wie ein Kannibale, wirklich Dein Fleisch essen und wirklich Dein Blut trinken soll - als Juden war Dir selbst immerhin Blutgenuß strengstens verboten -, haben sie mich auf Martin Luthers Erklärung verwiesen: Das Heilige Abendmahl »ist der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesu Christi, unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und zu trinken von Christus selbst eingesetzt«.

Doch sie haben Dich zu Unrecht in Anspruch genommen. Denn Du warst ganz anders. Du hast wie ein Magier Dämonen ausgetrieben und darin die Ankunft des Reiches Gottes geschaut. Du hast intimen Kontakt zum Teufel gehabt und ihn schließlich wie einen Blitz vom Himmel fallen sehen. Du erwartetest in naher Zukunft den Zusammenbruch der ganzen Welt, die dem neuen Reich Gottes endgültig Platz machen sollte. Einstweilen führtest Du mit Deinen Anhängern ein unstetes Wanderleben im Dienste des Gottesreiches und lehrtest einen Verhaltenskodex, der das mosaische Gesetz im Lichte der Liebe interpretiert und damit die besten Traditionen Israels verkörpert. Dazu gehören Deine ethischen Maximen, die auch den Feind in die Liebe einschließen, und Deine tollkühnen Gleichnisse, die - echt menschlich - Helden auf krummen Wegen zeigen.

Aber es hilft alles nichts: Auch Du bist gestorben, und zwar im besten Mannesalter. Auch Du hast den Kelch des Todes getrunken, ja, trinken müssen - unvorhergesehen. Trotz tiefer Erfahrungen mit Deinem Gott, den Du vertrauensvoll Vater nanntest und von dem Du praktisch alles erwartet hast, sind auch Deine Zukunftshoffnungen zerstoben. Sie sind mit der brutalen Realität zusammengeprallt.

Spätestens am Kreuz hast Du lernen müssen, was es heißt, ein gottverlassenes Opfer zu werden. Und hätten Deine Anhänger, die verständlicherweise von Dir begeistert waren, nicht den Glauben an Deine Auferstehung verkündet, so wären all Deine Worte und Taten wie Blätter vom Wind verweht worden. Hätten sie ferner nicht Deine baldige Wiederkunft zum Gericht und ewigen Heil gepredigt, so wäre das christliche Gedankengebäude bald in sich zusammengefallen.

Aber Deine Wiederkunft fällt aus, da Deine Auferstehung gar nicht stattfand, sondern nur ein frommer Wunsch war. Das ist deswegen sicher, weil Dein Leib im Grab verwest ist, wenn er überhaupt ins Grab gelegt und nicht von Geiern und Schakalen aufgefressen wurde. Gewiß, Deine Anhänger haben den Glauben an die Auferstehung und Deine Wiederkunft gebraucht, um nach dem Schock von Karfreitag nicht zu verzweifeln, aber heute? Noch immer - oder heute wieder - klammern sich die Christen an Deine Auferstehung, wobei viele längst die ursprüngliche Bedeutung von Auferstehung hinter sich gelassen haben. Man gibt zu, daß Dein Leichnam gar nicht wiederbelebt wurde, und spricht lieber von Deinem Sein bei Gott. Gleichzeitig legen Bischöfe, gebildete Kirchenfunktionäre und christliche Intellektuelle, zu denen manchmal auch Theologieprofessoren gehören, Wert darauf, das Bekenntnis zur Auferstehung festzuhalten, egal, was darunter zu verstehen sei.

Aber dieses intellektuelle Verwirrspiel kann auf die Dauer nicht gut gehen und verlangt nach rücksichtsloser Aufklärung. Auf Projektionen, Wünschen und Visionen kann keine echte Religion aufgebaut werden, auch dann nicht, wenn sie so gewaltig auftritt wie die christliche Kirche, die Dich sogar zum Weltenherrn und kommenden Richter erhoben hat. Du aber bist nicht der Weltenherr, als den Dich Deine Anhänger infolge Deiner Auferstehung erklärt haben, und Du wolltest es auch nicht sein. Du hast das zukünftige Reich Gottes verkündigt, gekommen aber ist die Kirche. Du hast Dich getäuscht, und Deine Botschaft ist von Deinen Anhängern zu ihren eigenen Gunsten gegen die historische Wahrheit verfälscht worden. Deine Lehre war ein Irrtum, denn das messianische Reich ist ausgeblieben.

Bitte, schau Dir an, was seit Deinem Tod bis heute alles in Deinem Namen verbrochen worden ist! Es beginnt schon im Neuen Testament, wo man Deine Landsleute als Söhne des Teufels bezeichnet, nur weil sie nicht an Dich glauben. Das Infame daran ist, daß Dir diese Worte der Verdammung in den Mund gelegt werden, als ob Du sie gesprochen hättest. Dieser Antisemitismus setzt sich dann in der gesamten Kirchengeschichte fort, und zwar nicht als Abweichung von den ursprünglichen Lehren der Kirche, nein: er mußte sich ausbilden, weil Du zum Weltenherrscher erhoben worden warst. Fortan bestraftest Du vom Himmel aus und im Auftrag Deines allmächtigen Vaters die ungläubigen Juden für ihren Unglauben, für ihren Ungehorsam und für ihre Untaten, die sie gegen Dich und Deine Gemeinden begangen haben sollen.

Sage nicht, das alles sei eine Verirrung und Verfälschung Deiner Botschaft gewesen! Vielmehr ist die christliche Kirche, wie aus ihrer zweitausendjährigen Geschichte hervorgeht, notwendig so; sonst hätte sie sich gar nicht gebildet, und ihre pure Existenz wäre unmöglich und überhaupt überflüssig gewesen. Daher können wir wirklich nicht mehr zur Tagesordnung übergehen und fortan Deine wahre Botschaft verkündigen, als ob es die letzten 2000 Jahre nicht gegeben hätte.

Ich empfinde eine große Sympathie für Deine Landsleute, die Dich in unserer Zeit durch die Ergebnisse der historischen Forschung als eigenen Bruder haben neu entdecken können, ohne die kirchliche Lehre von Deiner Auferstehung und Deiner Wiederkunft zu übernehmen. Aber gleichzeitig sehe ich selbst keinen Grund, nun zur jüdischen Religion überzutreten. Ich bin selbst noch zu entsetzt über den eifernden Gott Jahwe des Alten Testaments, der überhaupt keine Toleranz kennt und dessen sich die Christen dann bedient haben, um die Juden aus dem Weinberg Gotteszu verjagen. Dieser Jahwe kennt keine Gleichheit aller Völker und ebenso keine Rechte, die allen Menschen auf der Welt in derselben Weise zukommen. Daher bin ich der festen Überzeugung, daß unser Grundgesetz mit den Artikeln von dem Schutz der Menschenwürde, von den Freiheitsrechten, von der Gleichheit vor dem Gesetz, von der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit das Leben aller Menschen mehr schützt als die Bibel der Juden (das Alte Testament), aber auch die Bibel der Christen (das Alte und das Neue Testament). Zwar betonen heutzutage Kirchenführer und Theologen, daß die gerade genannten Grundrechte unseres Grundgesetzes biblischen Ursprungs seien, doch frage ich mich, warum Kirche und Theologie bis zum 18. Jahrhundert keine dem Grundgesetz entsprechenden Grundrechte, die für alle gelten, ausgebildet haben und warum diese zusammen mit dem Toleranzgedanken von der Aufklärung erst in zum Teil erbittertem Kampf gegen die Kirche haben durchgesetzt werden müssen.

Du hast zwar meine tiefe Sympathie, Herr Jesus, aber Du kannst mich gar nicht verstehen und wir Dich nicht, weil die Zeit, in der Du lebtest, und die, in der wir heute leben, so verschieden sind. Du wärest vielleicht nachdenklich geworden, hättest Du erfahren, daß der Himmel sich gar nicht über Dir befindet, daß die Erde eine Kugel und nicht der Mittelpunkt des ganzen Universums ist. Und wahrscheinlich hättest Du Dich sehr gewundert zu lernen, daß Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren haben, ja, daß alle existierenden Arten von Lebewesen in einer Entwicklung begriffen sind, an deren Anfang primitive Einzeller standen. Sicher aber wärest Du in Panik geraten, wenn Du gewußt hättest, daß Dein Gott auch 2000 Jahre nach Dir noch kein Ende der Zeiten herbeigeführt hat. Und nicht nur dies: Dein Gott hat die Welt gar nicht geschaffen, wie Du als frommer Jude Deiner Tage annehmen mußtest. Vielmehr ist das Universum durch eine Evolution entstanden, an deren Anfang nach heutigem Wissen ein Urknall lag. Dein und Deiner Zeitgenossen Bild vom Schöpfergott war viel zu sehr von menschlicher Perspektive aus gebildet, und das gilt in verstärktem Maße von den Dienern Deiner Kirche heute, die es besser wissen müßten, aber trotzdem allsonntäglich Deinen Gott als den Schöpfer Himmels und der Erden bekennen. Ich würde dagegen lieber sagen: Das, was unseren Kosmos zusammenhält und begrenzt, ist ein großes Geheimnis, das wir nicht lüften werden, das sich aber zu erforschen lohnt. Eine solche offene Sicht der Dinge halte ich für unvereinbar mit der Annahme eines biblischen Schöpfergottes, der alles aus dem Nichts erschaffen hat. ...

So, Herr Jesus, Schluß mit all dem. Ich halte die total verfahrene Lage von Theologie, Kirche und Bibel nicht mehr aus. Bleibe Du dort, wo Du bist, im Galiläa des ersten Jahrhunderts. Dann bist Du wieder viel glaubwürdiger als charismatischer Exorzist und Lehrer von Rang, und wir können dann wieder in ein normales Verhältnis zu Dir treten, wie wir es zu anderen maßgeblichen Menschen der Antike, wie Buddha, Konfuzius und Sokrates, auch haben. Deine Überhöhung jenseits aller menschlichen Möglichkeiten war zu viel und entspringt maßlosen Unsterblichkeitsphantasien und Sehnsüchten, die nun auf den Boden der Realität zurückgebracht werden müssen.

Falls Du aber wirklich auf den Wolken des Himmels wiederkommen solltest, freue ich mich schon jetzt darauf, Dich endlich kennenzulernen. Und ich bin überzeugt, auch wenn ich nicht mehr zu Dir bete und nicht mehr an Dich glaube, Deine Sympathie zu besitzen und von Dir wegen meines Unglaubens nicht vernichtet zu werden, wie es nach Bibel und Bekenntnis eigentlich geschehen müßte. Bis dahin muß aber religiös Schluß sein mit uns beiden aus den Gründen, die ich Dir genannt habe - endgültig.

Ich werde weiter Deine Verkündigung und die sich daran anschließenden christlichen Deutungen erforschen - mit dem Ziel, die heutigen Zeitgenossen in verständlicher Sprache über den eigentlichen Ursprung unserer abendländischen Kultur aufzuklären. Denn die in der Vernunft gegründete Aufklärung samt ihrer Kritik an Offenbarungsansprüchen und Erkenntnisprivilegien jeglicher Art bleibt ein fester Bestandteil der modernen Welt. Allein Aufklärung ermöglicht einen konstruktiven Dialog zwischen den Angehörigen verschiedener Nationalitäten und Kulturen, und sie allein wäre in der Lage, in dem kommenden Jahrtausend Frieden zwischen den Menschen unterschiedlichster Ideologien und Religionen anzubahnen.

Gerd Lüdemann

FUSSNOTEN 1. Eine vollständige Fassung des "Briefes an Jesus" findet sich in meinem Buch "Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat", Springe: zu Klampen Verlag, 5. Aufl., 2011, in dem sich die Begründungen für die im "Brief an Jesus" aufgestellten Thesen finden.

Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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