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Veröffentlichungen 2012
Brief an Jesus. Ein Bekenntnis (Auszug) 1
Zum Buch
Lieber Herr Jesus, so habe ich Dich seit meiner Kindheit angeredet
und es beim Tischgebet (»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne
uns und was du uns aus Gnaden bescheret hast!«) jahrelang gesagt. Ein
anderes Gebet (»Herr Jesus, du Sohn des lebendigen Gottes, erbarme
dich meiner!«) habe ich am Abend wie eine magische Formel immer wieder
gesprochen, obwohl ich gar nicht mehr wußte, was ich da eigentlich
tat. Aber gerade deswegen hat sich mir
Deine Anrede als »Herr Jesus« so tief eingeprägt. Dieses Beten zu
Dir als dem Herrn Jesus hat sich aus Gründen der Gewohnheit,
Gedankenlosigkeit und Angst auch noch in späteren Zeiten fortgesetzt,
obwohl ich schon seit langem wußte, daß Du ganz anders warst, als es
mir von meinen Eltern, meinen Lehrern und meinem Pastor nahegebracht
wurde.
Du bist mir als Person, die ich anreden kann, nämlich ganz fremd
geworden. Denn das allermeiste, was Du der Bibel zufolge gesagt bzw.
getan hast, hast Du gar nicht gesagt und getan. Außerdem bist Du gar
nicht der, als den Dich Bibel und kirchliche Tradition darstellen. Du
warst nicht ohne Sünde und bist nicht Gottes Sohn. Du wolltest
überhaupt nicht für die Sünden der Welt sterben. Und was mir besonders
schmerzlich war: Du hast das Abendmahl, das ich jahrelang
allsonntäglich zu Deinem Gedächtnis beging, nicht eingesetzt. Das
Brot, das ich aß, war nicht Dein Leib, und der Wein, den ich trank,
war nicht Dein Blut. Es war nur meine Sehnsucht, die das alles
erhoffte. Sie hat sich vollständig auf die Diener Deiner Kirche
verlassen. Aber statt meinen Zweifel daran ernstzunehmen, ob ich, fast
wie ein Kannibale, wirklich Dein Fleisch essen und wirklich Dein Blut
trinken soll - als Juden war Dir selbst immerhin Blutgenuß strengstens
verboten -, haben sie mich auf Martin Luthers Erklärung verwiesen: Das
Heilige Abendmahl »ist der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesu
Christi, unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und zu trinken
von Christus selbst eingesetzt«.
Doch sie haben Dich zu Unrecht in Anspruch genommen. Denn Du warst
ganz anders. Du hast wie ein Magier Dämonen ausgetrieben und darin die
Ankunft des Reiches Gottes geschaut. Du hast intimen Kontakt zum
Teufel gehabt und ihn schließlich wie einen Blitz vom Himmel fallen
sehen. Du erwartetest in naher Zukunft den Zusammenbruch der ganzen
Welt, die dem neuen Reich Gottes endgültig Platz machen sollte.
Einstweilen führtest Du mit Deinen Anhängern ein unstetes Wanderleben
im Dienste des Gottesreiches und lehrtest einen Verhaltenskodex, der
das mosaische Gesetz im Lichte der Liebe interpretiert und damit die
besten Traditionen Israels verkörpert. Dazu gehören Deine ethischen
Maximen, die auch den Feind in die Liebe einschließen, und Deine
tollkühnen Gleichnisse, die - echt menschlich - Helden auf krummen
Wegen zeigen.
Aber es hilft alles nichts: Auch Du bist gestorben, und zwar im
besten Mannesalter. Auch Du hast den Kelch des Todes getrunken, ja,
trinken müssen - unvorhergesehen. Trotz tiefer Erfahrungen mit Deinem
Gott, den Du vertrauensvoll Vater nanntest und von dem Du praktisch
alles erwartet hast, sind auch Deine Zukunftshoffnungen zerstoben. Sie
sind mit der brutalen Realität zusammengeprallt.
Spätestens am Kreuz hast Du lernen müssen, was es heißt, ein
gottverlassenes Opfer zu werden. Und hätten Deine Anhänger, die
verständlicherweise von Dir begeistert waren, nicht den Glauben an
Deine Auferstehung verkündet, so wären all Deine Worte und Taten wie
Blätter vom Wind verweht worden. Hätten sie ferner nicht Deine baldige
Wiederkunft zum Gericht und ewigen Heil gepredigt, so wäre das
christliche Gedankengebäude bald in sich zusammengefallen.
Aber Deine Wiederkunft fällt aus, da Deine Auferstehung gar nicht
stattfand, sondern nur ein frommer Wunsch war. Das ist deswegen
sicher, weil Dein Leib im Grab verwest ist, wenn er überhaupt ins Grab
gelegt und nicht von Geiern und Schakalen aufgefressen wurde. Gewiß,
Deine Anhänger haben den Glauben an die Auferstehung und Deine
Wiederkunft gebraucht, um nach dem Schock von Karfreitag nicht zu
verzweifeln, aber heute? Noch immer - oder heute wieder - klammern
sich die Christen an Deine Auferstehung, wobei viele längst die
ursprüngliche Bedeutung von Auferstehung hinter sich gelassen haben.
Man gibt zu, daß Dein Leichnam gar nicht wiederbelebt wurde, und
spricht lieber von Deinem Sein bei Gott. Gleichzeitig legen Bischöfe,
gebildete Kirchenfunktionäre und christliche Intellektuelle, zu denen
manchmal auch Theologieprofessoren gehören, Wert darauf, das
Bekenntnis zur Auferstehung festzuhalten, egal, was darunter zu
verstehen sei.
Aber dieses intellektuelle Verwirrspiel kann auf die Dauer nicht
gut gehen und verlangt nach rücksichtsloser Aufklärung. Auf
Projektionen, Wünschen und Visionen kann keine echte Religion
aufgebaut werden, auch dann nicht, wenn sie so gewaltig auftritt wie
die christliche Kirche, die Dich sogar zum Weltenherrn und kommenden
Richter erhoben hat. Du aber bist nicht der Weltenherr, als den Dich
Deine Anhänger infolge Deiner Auferstehung erklärt haben, und Du
wolltest es auch nicht sein. Du hast das zukünftige Reich Gottes
verkündigt, gekommen aber ist die Kirche. Du hast Dich getäuscht, und
Deine Botschaft ist von Deinen Anhängern zu ihren eigenen Gunsten
gegen die historische Wahrheit verfälscht worden. Deine Lehre war ein
Irrtum, denn das messianische Reich ist ausgeblieben.
Bitte, schau Dir an, was seit Deinem Tod bis heute alles in Deinem
Namen verbrochen worden ist! Es beginnt schon im Neuen Testament, wo
man Deine Landsleute als Söhne des Teufels bezeichnet, nur weil sie
nicht an Dich glauben. Das Infame daran ist, daß Dir diese Worte der
Verdammung in den Mund gelegt werden, als ob Du sie gesprochen
hättest. Dieser Antisemitismus setzt sich dann in der gesamten
Kirchengeschichte fort, und zwar nicht als Abweichung von den
ursprünglichen Lehren der Kirche, nein: er mußte sich ausbilden, weil
Du zum Weltenherrscher erhoben worden warst. Fortan bestraftest Du vom
Himmel aus und im Auftrag Deines allmächtigen Vaters die ungläubigen
Juden für ihren Unglauben, für ihren Ungehorsam und für ihre Untaten,
die sie gegen Dich und Deine Gemeinden begangen haben sollen.
Sage nicht, das alles sei eine Verirrung und Verfälschung Deiner
Botschaft gewesen! Vielmehr ist die christliche Kirche, wie aus ihrer
zweitausendjährigen Geschichte hervorgeht, notwendig so; sonst hätte
sie sich gar nicht gebildet, und ihre pure Existenz wäre unmöglich und
überhaupt überflüssig gewesen. Daher können wir wirklich nicht mehr
zur Tagesordnung übergehen und fortan Deine wahre Botschaft
verkündigen, als ob es die letzten 2000 Jahre nicht gegeben hätte.
Ich empfinde eine große Sympathie für Deine Landsleute, die Dich
in unserer Zeit durch die Ergebnisse der historischen Forschung als
eigenen Bruder haben neu entdecken können, ohne die kirchliche Lehre
von Deiner Auferstehung und Deiner Wiederkunft zu übernehmen. Aber
gleichzeitig sehe ich selbst keinen Grund, nun zur jüdischen Religion
überzutreten. Ich bin selbst noch zu entsetzt über den eifernden Gott
Jahwe des Alten Testaments, der überhaupt keine Toleranz kennt und
dessen sich die Christen dann bedient haben, um die Juden aus dem
Weinberg Gotteszu verjagen. Dieser Jahwe kennt keine Gleichheit aller
Völker und ebenso keine Rechte, die allen Menschen auf der Welt in
derselben Weise zukommen. Daher bin ich der festen Überzeugung, daß
unser Grundgesetz mit den Artikeln von dem Schutz der Menschenwürde,
von den Freiheitsrechten, von der Gleichheit vor dem Gesetz, von der
Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit das Leben aller Menschen
mehr schützt als die Bibel der Juden (das Alte Testament), aber auch
die Bibel der Christen (das Alte und das Neue Testament). Zwar betonen
heutzutage Kirchenführer und Theologen, daß die gerade genannten
Grundrechte unseres Grundgesetzes biblischen Ursprungs seien, doch
frage ich mich, warum Kirche und Theologie bis zum 18. Jahrhundert
keine dem Grundgesetz entsprechenden Grundrechte, die für alle gelten,
ausgebildet haben und warum diese zusammen mit dem Toleranzgedanken
von der Aufklärung erst in zum Teil erbittertem Kampf gegen die Kirche
haben durchgesetzt werden müssen.
Du hast zwar meine tiefe Sympathie, Herr Jesus, aber Du kannst
mich gar nicht verstehen und wir Dich nicht, weil die Zeit, in der Du
lebtest, und die, in der wir heute leben, so verschieden sind. Du
wärest vielleicht nachdenklich geworden, hättest Du erfahren, daß der
Himmel sich gar nicht über Dir befindet, daß die Erde eine Kugel und
nicht der Mittelpunkt des ganzen Universums ist. Und wahrscheinlich
hättest Du Dich sehr gewundert zu lernen, daß Mensch und Affe
gemeinsame Vorfahren haben, ja, daß alle existierenden Arten von
Lebewesen in einer Entwicklung begriffen sind, an deren Anfang
primitive Einzeller standen. Sicher aber wärest Du in Panik geraten,
wenn Du gewußt hättest, daß Dein Gott auch 2000 Jahre nach Dir noch
kein Ende der Zeiten herbeigeführt hat. Und nicht nur dies: Dein Gott
hat die Welt gar nicht geschaffen, wie Du als frommer Jude Deiner Tage
annehmen mußtest. Vielmehr ist das Universum durch eine Evolution
entstanden, an deren Anfang nach heutigem Wissen ein Urknall lag. Dein
und Deiner Zeitgenossen Bild vom Schöpfergott war viel zu sehr von
menschlicher Perspektive aus gebildet, und das gilt in verstärktem
Maße von den Dienern Deiner Kirche heute, die es besser wissen müßten,
aber trotzdem allsonntäglich Deinen Gott als den Schöpfer Himmels und
der Erden bekennen. Ich würde dagegen lieber sagen: Das, was unseren
Kosmos zusammenhält und begrenzt, ist ein großes Geheimnis, das wir
nicht lüften werden, das sich aber zu erforschen lohnt. Eine solche
offene Sicht der Dinge halte ich für unvereinbar mit der Annahme eines
biblischen Schöpfergottes, der alles aus dem Nichts erschaffen hat.
...
So, Herr Jesus, Schluß mit all dem. Ich halte die total verfahrene
Lage von Theologie, Kirche und Bibel nicht mehr aus. Bleibe Du dort,
wo Du bist, im Galiläa des ersten Jahrhunderts. Dann bist Du wieder
viel glaubwürdiger als charismatischer Exorzist und Lehrer von Rang,
und wir können dann wieder in ein normales Verhältnis zu Dir treten,
wie wir es zu anderen maßgeblichen Menschen der Antike, wie Buddha,
Konfuzius und Sokrates, auch haben. Deine Überhöhung jenseits aller
menschlichen Möglichkeiten war zu viel und entspringt maßlosen
Unsterblichkeitsphantasien und Sehnsüchten, die nun auf den Boden der
Realität zurückgebracht werden müssen.
Falls Du aber wirklich auf den Wolken des Himmels wiederkommen
solltest, freue ich mich schon jetzt darauf, Dich endlich
kennenzulernen. Und ich bin überzeugt, auch wenn ich nicht mehr zu Dir
bete und nicht mehr an Dich glaube, Deine Sympathie zu besitzen und
von Dir wegen meines Unglaubens nicht vernichtet zu werden, wie es
nach Bibel und Bekenntnis eigentlich geschehen müßte. Bis dahin muß
aber religiös Schluß sein mit uns beiden aus den Gründen, die ich Dir
genannt habe - endgültig.
Ich werde weiter Deine Verkündigung und die sich daran
anschließenden christlichen Deutungen erforschen - mit dem Ziel, die
heutigen Zeitgenossen in verständlicher Sprache über den eigentlichen
Ursprung unserer abendländischen Kultur aufzuklären. Denn die in der
Vernunft gegründete Aufklärung samt ihrer Kritik an
Offenbarungsansprüchen und Erkenntnisprivilegien jeglicher Art bleibt
ein fester Bestandteil der modernen Welt. Allein Aufklärung ermöglicht
einen konstruktiven Dialog zwischen den Angehörigen verschiedener
Nationalitäten und Kulturen, und sie allein wäre in der Lage, in dem
kommenden Jahrtausend Frieden zwischen den Menschen
unterschiedlichster Ideologien und Religionen anzubahnen.
Gerd Lüdemann
FUSSNOTEN 1. Eine vollständige Fassung des "Briefes an
Jesus" findet sich in meinem Buch "Der große Betrug. Und was
Jesus wirklich sagte und tat", Springe: zu Klampen Verlag, 5.
Aufl., 2011, in dem sich die Begründungen für die im "Brief an
Jesus" aufgestellten Thesen finden.
Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat