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Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 2003
Göttinger Tageblatt vom 5. Juli 2003, Seite 24
Lüdemann: Kirchen sollen auf Geld vom Staat verzichten
Der umstrittene Göttinger Theologieprofessor Gerd Lüdemann
hat in einer Erklärung die großen christlichen Kirchen aufgefordert, auf
staatliche Zuwendungen zu verzichten. Auf diese Weise sollten sie
einen Beitrag zu überfälligen Reformen leisten. Kirchenvertreter haben
der Forderung widersprochen.
VON JÖRN BARKE
Göttingen. Die christlichen Kirchen in Deutschland, so Lüdemann,
seien "die reichsten auf der ganzen Welt", hätten keinerlei
Schulden und seien "in einzigartiger Weise" durch den Staat
begünstigt. Der Staat ziehe für die Kirchen die Kirchensteuer ein,
bezahle die Ausbildung der künftigen Geistlichen und Religionslehrer
an den Universitäten und ersetze auf Verlangen der Kirche sogar
missliebige Theologieprofessoren. Lüdemann selbst hatte sich Ende der
neunziger Jahre öffentlich vom Christentum losgesagt und war daraufhin
von der Universität im Einvernehmen mit der evangelischen Kirche von
seinem Lehrstuhl für den Bereich Neues Testament verwiesen worden. Dem
Wissenschaftler wurde mit dem Fach "Geschichte und Literatur des
frühen Christentums" ein Professorenposten zweiter Klasse
zugewiesen. Das Göttinger Verwaltungsgericht hat die Zwangsversetzung
im vergangenen Jahr für rechtens erklärt.
Lüdemann verweist in seiner Erklärung auf staatliche Zuwendungen,
deren Rechtsgrundlagen bis auf den Reichsdeputationshauptschluss aus
dem Jahr 1803 zurückgingen. Diese würden für die großen Kirchen in
Deutschland jährlich rund 400 Millionen Euro und für die evangelischen
Kirchen in Niedersachsen knapp 30 Millionen Euro betragen: "Mehr
als ein Drittel der deutschen Bevölkerung beteiligt sich so
zwangsweise an einer Abgabe, obwohl diese Menschen keiner der beiden
großen Konfessionen angehören." Man könne der Öffentlichkeit, so
Lüdemann weiter, nicht mehr verständlich machen, dass die
schuldenfreien großen Kirchen weiter jährlich 400 Millionen Euro als
Geschenk von einem überschuldeten Staat erhielten.
Der Dechant des katholischen Dekanates Göttingen, Norbert Hübner,
hält dagegen. Die Rechtsgrundlage von 1803 habe ihren Grund darin,
"dass der Staat im Rahmen der Säkularisierung die Kirchen ihrer
Lebensgrundlagen beraubt hat." Das ehemalige Kircheneigentum sei
großenteils nach wie vor in staatlichem Besitz und werfe Gewinne ab:
"Der Staat ist also zu diesen Zahlungen verpflichtet." Der
Staat selbst, so Hübner, habe die Kontrolle in der Ausbildung der
Theologen in der Hand behalten wollen, "damit keine
staatsfeindlichen Tendenzen unter den Theologen und Pastoren
aufkommen". Schließlich, so Hübner, leisteten die Kirchen nach
wie vor "erhebliche Dienste für das Gemeinwohl - und das in den
meisten Fällen ohne Rücksicht auf Kirchen- und
Konfessionszugehörigkeit". In Göttingen betreffe dies
beispielsweise Kindergärten, Krankenhäuser und Sozialstationen.
Der Landessuperintendent des evangelisch-lutherischen Sprengels
Göttingen, Burghard Krause, verweist auf die solide Finanzpolitik, die
betrieben worden sei: "Wir haben hart darum gerungen und
schmerzhafte Sparmaßnahmen durchgeführt, um keine Schulden zu machen.
Das schafft die Vertrauensgrundlage dafür, um die uns zu allererst von
unseren Mitgliedern und auch vom Staat übertragenen Aufgaben in Kirche
und Gesellschaft wahrzunehmen."
Göttinger Tageblatt vom 5. Juli 2003, Seite 24