Gerd Lüdemann's Homepage
Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 2003
Kurzfassung aus: Gerd Lüdemann, Jesus nach 2000 Jahren. Was er
wirklich sagte und tat (Lüneburg: zu Klampen, 2000), S. 877-887
(überarbeitet).
Wenn die Bilder, in denen der Mensch spricht, ein getreuer Spiegel
seiner Umgebung sind, so steht fest, dass Jesus ein Mann aus dem Dorf
war. Denn die Welt seiner Gleichnisse ist durch ein ländliches Milieu
geprägt. Jesus kennt den Sämann auf dem Acker (Mk 4,3-8), er sieht den
Hirten mit seiner Herde (Lk 15,4-6), die Vögel unter dem Himmel (Mt
6,26) und die Lilien auf dem Felde (Mt 6,28). Selbst das winzige
Senfkorn im Garten wird dem Dorfmenschen Jesus zum Bild für das
sichere Kommen des Reiches Gottes (Mk 4,30-32).
Aufgewachsen ist Jesus im Kreis von mehr als fünf Geschwistern,
wohl als der Älteste, im galiläischen Dorf Nazareth. Seine
Muttersprache war Aramäisch, was nicht ausschließt, dass er einige
Brocken Griechisch verstanden hat. Von seinem Vater lernte er den
Beruf des Handwerkers. Lesen und schreiben konnte er, wie die meisten
seiner Zeitgenossen, nicht. Doch war die heimatliche Synagoge neben
dem Elternhaus der Ort seiner religiösen Erziehung. Hier und bei
anderen Gelegenheiten lernte er mündlich Partien aus der Thora:
Gebote, prophetische Weisungen und Voraussagen sowie spannende
Geschichten aus den Schriften, beispielsweise die Erzählungen von den
Wunderpropheten Elia und Elisa, die viele fromme Gemüter der damaligen
Zeit erhitzten.
Die Grenzen seines damaligen Umfelds werden durch einen Vergleich
mit dem Apostel Paulus sichtbar, der gleichaltrig mit ihm war. Paulus
kam nicht vom Dorf, sondern war ein Städter. Das weisen wiederum die
von ihm gebrauchten Bilder aus. Seine Briefe zeigen das Leben in der
Stadt mit ihren Krämerbuden (2Kor 2,17), an denen vorbei der Erzieher
(Gal 3,24f) mit seinen Zöglingen an der Hand zur Schule geht, und die
Straße, durch die sich der feierliche Triumphzug bewegt (vgl. 2Kor
2,14). Oft entnimmt Paulus seine Bilder dem Leben der Soldaten (2Kor
10,3-5), und selbst ihre Trompeten dienen ihm zum Vergleich. Ebenso
benutzt er Entsprechungen aus dem Rechtsleben (Gal 3,17), ja sogar aus
dem Theater (1Kor 4,9) und von den Wettspielen her (1Kor 9,24ff) für
seine Argumentation. Jesus dagegen hat wohl niemals ein Theater oder
eine Arena gesehen. Dabei war die von griechischer Kultur geprägte
Stadt Sepphoris, wo er beispielsweise als Handwerker Arbeit gefunden
hätte, keine fünf Kilometer von Nazareth entfernt. Im Gegensatz zu
Jesus konnte Paulus lesen und schreiben und hatte zusätzlich sowohl
eine jüdische als auch eine griechische Ausbildung erhalten. Aramäisch
beherrschte er zwar auch, doch seine Muttersprache war Griechisch. Als
römischer Bürger war er mit zahlreichen Privilegien ausgestattet. Von
Herkunft und Bildung her standen sich in Paulus und Jesus Welt und
Provinz gegenüber. Bei einer persönlichen Begegnung hätten sie sich
vermutlich wenig zu sagen gewusst. Die sozialen Barrieren wären der
Kommunikation nicht förderlich gewesen. Vielleicht hätte Paulus
gegenüber einem solchen Naturburschen wie Jesus aus Galiläa lediglich
geschmunzelt, womöglich aber auch nur mit den Achseln gezuckt. Jesus
wäre es umgekehrt kaum anders gegangen. Die hoch gestelzte
theologische Argumentation des Paulus hätte er ohnehin nicht
verstanden. Denn die schulmäßige, strenge Auslegung von Geboten,
Propheten und Schriften mit all ihren kniffligen Unterscheidungen wäre
nicht nach seinem Geschmack gewesen.
Aber trotz aller Unterschiede haben die beiden auch
Gemeinsamkeiten. Jesus und Paulus waren entschiedene Juden, die stolz
auf ihren Gott waren, den Vater, der Himmel und Erde geschaffen und
der Israel erwählt hat. Beide lebten in der Gewissheit, dass Gott
Jerusalem zum Mittelpunkt der Erde bestimmt hatte. Hier sollte am Ende
der Tage der "Retter" kommen, und hier wurden, von Gott
angeordnet, die Opfer für die Sünden der Juden dargebracht.
Gleichzeitig hielten die wiederum von Gott angeordneten großen Feste
wie Passah, Pfingsten und Laubhüttenfest den Zyklus des Jahres
zusammen. Dieses Grundgerüst religiöser Überzeugungen hatten Jesus und
Paulus mit den meisten anderen Juden gemeinsam. Zusätzlich mag man
noch bemerken, dass sowohl Jesus als auch Paulus die Spezialbegabung
besaßen, Dämonen auszutreiben, und dass beide meinten, Kontakt zum
Teufel zu haben.
Es gibt im Leben eines jeden Menschen Besonderheiten, die von
Naturanlagen bis hin zu Schicksalsschlägen reichen. Bei Paulus war es
wahrscheinlich eine Krankheit, die ihn bis zum Ende seines Lebens
plagte und die ihn offenbar für ekstatische Erfahrungen besonders
geeignet machte. Er spricht in Andeutungen hierüber als den Pfahl im
Fleisch, den Engel des Satans, der ihn - natürlich auf Geheiß Gottes -
mit Faustschlägen bearbeitet (2Kor 12,7). Jesus war mit einem ungleich
schwereren Makel behaftet, der auch über seiner Mutter Maria lag.
Jesus, ihr ältestes Kind, war nämlich unter dubiosen Umständen gezeugt
worden. Heißt er in der ältesten Quelle verächtlich "Sohn der
Maria" (Mk 6,3), so erkennt die Geburtsgeschichte des Mt
(1,18-25) das Fehlen eines Vaters an und schiebt sofort den Heiligen
Geist als Erzeuger nach. Gleichzeitig wird Maria gegenüber dem Vorwurf
unsittlichen Verhaltens in Schutz genommen, denn auch die Ahnfrauen
des Messias seien in unsittliche Dinge verwickelt gewesen. Aber all
dies habe Gott nicht von seinem Plan abgebracht, aus dem Geschlecht
dieser anrüchigen Frauen den Messias und Gottessohn erstehen zu
lassen: Jesus, den Sohn Marias. Doch ist theologische Deutung auf
goldenem Grund eines. Etwas anderes ist die teilweise brutale
Geschichte im Staub dieser Erde, und die bekam Jesus in verstärktem
Maße zu spüren. Er wurde seit seinem Auftreten in seiner Heimat
Nazareth angegriffen unter Hinweis darauf, dass er ein Bastard ohne
rechten Vater sei. Daher das Hohnwort "Sohn der Maria". Die
spätere Adoption durch Joseph - lange vor Jesu öffentlichem Auftreten
- änderte nichts daran, dass Jesus durch diesen Schatten in seiner
Herkunft stigmatisiert worden sein muss. Er lernte also früher oder
später, was es heißt, als Sohn einer Hure zu gelten. Vielleicht lag
hier eine der Wurzeln für seine spätere Zuwendung zum verachteten
Volk: zu Huren, Zöllnern und Sündern. Und möglicherweise erklärt sich
von hier aus sein zerstörtes Verhältnis zu seiner eigenen leiblichen
Familie. Denn nach dem offenbar frühen Tod seines Adoptivvaters hätte
er sich als Ältester normalerweise um die Familie, insbesondere seine
Mutter, kümmern müssen. Doch die Quellen sprechen hier eine andere
Sprache. Das vierte Gebot, das die Ehrung von Vater und Mutter
vorschrieb, galt für Jesus nicht mehr. Er wählte den Weg der radikalen
Trennung.
Nun reichen Neigungen und Verletzungen noch nicht aus, um eine
Bewegung ins Leben zu rufen. Es müssen weitere Gründe und Anregungen
durch andere Menschen hinzukommen. Das wurde für Jesus in der Gestalt
Johannes des Täufers Wirklichkeit.
Johannes der Täufer stand in einer langen Reihe von jüdischen
Unheilspropheten, die zur Umkehr angesichts des bevorstehenden Tages
Gottes mahnten. Zugleich verband er seine Gerichtspredigt mit der
Ansage einer Sündenvergebung, die allen jenen zuteil werden sollte,
die sich von ihm taufen ließen. Damit sei gewährleistet, dass sie dem
kommenden Zorn entgehen könnten. Seine Predigt zündete wie der Blitz
und führte zahlreiche Juden zu ihm an den Jordan. Unter ihnen war der
Galiläer Jesus von Nazareth, den es in den Süden verschlagen hatte.
Auch in ihm brach sich eine bohrende Unruhe Bahn, und sie fand eine
vorläufige Beruhigung im Umkreis des Täufers. Mit dem Anschluss an ihn
hatte Jesus eine neue Familie gefunden, die sich von seiner leiblichen
Familie sehr unterschied. Er gehörte nun zu einer Gruppe von Asketen,
die Gott allein gehorsam sein wollten und ihm dafür dankten, dass er
ihnen eine letzte Frist zur Umkehr geschenkt hatte. Die Mitglieder der
Priesteraristokratie dürften über den Sonderling am Jordan und seine
Anhänger irritiert gewesen sein. War nicht ihnen allein von Gott
selbst Aufsicht, Verwaltung und Durchführung der Sühne wirkenden Opfer
anvertraut worden? Aber solange der Tempel nicht unmittelbar gefährdet
war, ließ man die exotisch anmutende Täufersekte am Jordan gewähren.
Außerdem gab es auch damals inspirierte Propheten in Hülle und Fülle,
die einmal dies, das andere Mal das behaupteten. Aber gefährlich war
Johannes schon. Mochte man mit seiner indirekten Tempelkritik noch
klarkommen, so wurde es für die Machthaber brenzlig, als seine Predigt
politische Implikationen hatte. Das bekam der Landesherr Jesu, Herodes
Antipas, zu spüren, der daraufhin Johannes kurzerhand als
messianischen Prätendenten hinrichten ließ.
Wie lange sich Jesus in der Umgebung des Täufers aufhielt, wissen
wir nicht. Allerdings ist sicher, dass er sich nicht erst nach der
Hinrichtung des Johannes von ihm ablöste. Vielmehr zeigt die Rivalität
zwischen Jesus- und Johannesjüngern, dass Jesus schon vor dem Tod des
Täufers eigene Wege gegangen sein muss. Das ist nicht im Sinne eines
Traditionsabbruches zu verstehen, sondern als Weiterführung oder
Zuspitzung der Täuferpredigt durch Jesus. Dieser Aufbruch war bei
Jesus mit dreierlei verbunden: Erstens behagte ihm auf Dauer die
asketische Grundhaltung des Johannes nicht. Dem entspricht, dass er
zweitens die ungeheure Erfahrung des Reiches Gottes machte, das sich
ihm in einem starken Maße im Akt der Gemeinschaft und des Essens und
Trinkens zeigte. Und drittens wurde ihm die Fähigkeit zur Heilung eine
umstürzende Erfahrung, die er sogar mit der Ankunft des Gottesreiches
verband.
Wie sich die drei genannten Punkte chronologisch und sachlich
zueinander verhalten, ist nicht mehr aufzuklären. Wichtig bleibt die
Beobachtung, dass keine der drei Besonderheiten sich für Johannes
belegen lässt, so dass von einem echten Neuanfang zu sprechen ist, der
ein neues Stadium in Jesu Wirksamkeit einleitete. Allerdings blieben
wesentliche Züge der Verkündigung Johannes des Täufers Bestandteil der
religiösen Überzeugung Jesu: zum einen das unmittelbar bevorstehende
Endgericht, sodann der unerbittliche Ernst in der Auslegung und
Befolgung des Willens Gottes. Schließlich blieb Jesus ebenso wie
Johannes unverheiratet. In dieser Gemeinsamkeit trafen die beiden mit
dem Apostel Paulus überein. Dies verdient um so mehr Aufmerksamkeit,
als die Zeugung von Nachkommen Pflicht eines jeden männlichen Juden
war.
Jesu neu entdeckte Fähigkeit zur Heilung sprach sich in Galiläa
bald herum. Seine Exorzismen, in denen er psychisch Kranke heilte,
sind die am besten bezeugten Wundertaten im Neuen Testament. Nerven-
und Geisteskrankheiten wurden damals auf die Besessenheit durch
Dämonen zurückgeführt. Als Oberster dieser bösen Geister galt Satan.
Jesus verlieh dem Kampf gegen ihn Realität. Er sah in Vorwegnahme des
Reiches Gottes den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen (Lk 10,18)
und war damit stärker als dieser selbst geworden. Er konnte daher
Männer und Frauen heilen, indem er sie der Herrschaft des Teufels mit
der Zusage der Vergebung der Sünden entriss. Krankheit und Sünde
bildeten für ihn einen unzerreißbaren Zusammenhang. Auch darin war ihm
Paulus ähnlich. Dieser konnte sich die zahlreichen Krankheitsfälle in
der Gemeinde von Korinth nur durch den sündhaften Missbrauch des
Abendmahls erklären (1Kor 11,29-30).
Das Reich Gottes verband sich für Jesus aber nicht nur mit
Heilungen und der Befreiung von Krankheiten und Bösem jeglicher Art.
Entscheidend war vielmehr die Erwartung der universalen Herrschaft
Gottes, an der Jesus zusammen mit den Zwölf beteiligt sein sollte.
Dieser Erwartung lag die tollkühne Hoffnung zugrunde, dass am bald
eintretenden Ende der Zeiten, wenn Gott sein Reich herbeiführen werde,
auch jene zehn Stämme wiederhergestellt würden, die 700 Jahre zuvor
von den Assyrern zerrieben worden waren. Von ihnen waren zur Zeit Jesu
nur die beiden Stämme Juda und Benjamin übriggeblieben. Am Abschluss
der Geschichte, so Jesus, werde jeder einzelne seiner zwölf Jünger
einen dieser Stämme richten (Mt 19,28). Die Würde, neben Gott und
seinem Auserwählten, in richterlicher Funktion tätig zu sein, war kaum
zu überbieten. Doch hat auch der Apostel Paulus ähnliches erhofft. Er
verlangte von den Gemeindegliedern in Korinth, nicht gegeneinander zu
prozessieren, da sie selbst, jeder einzelne, über Engel richten würden
(1Kor 6). Hier sehen wir in das Herz der frühen Christen und der von
Jesus gesammelten Gemeinde förmlich hinein. Nicht Vernunft oder
Überlegung, sondern die Aussicht auf Anteilhabe an Gottes Herrschaft
waren die Wurzeln ihres Glaubens. Und diese Herrschaft erstreckte sich
nicht auf die Menschen allein. Sie umfasste vielmehr den ganzen
Kosmos, den es in die von Gott gewollte, schöne Ordnung
zurückzubringen galt. Selbstverständlich war das alles von einem
jüdischem Blickwinkel aus gedacht, denn ausschließlich um das jüdische
Volk samt dem neuen Jerusalem im Mittelpunkt ging es; die übrigen
Völker waren zumeist nur Anrainergruppen. Glühende Hoffnung erfüllte
Jesus, dass Gott demnächst seine Zusage einlösen werde. Und im Laufe
seines Auftretens - nach der Ablösung von Johannes dem Täufer - gewann
er die Überzeugung, dass er selbst einen wesentlichen Teil in diesem
Enddrama zu spielen habe. Auch hier ist die Parallele zu Paulus
frappierend und erhellend, denn auch dieser meinte, eine ähnliche
Rolle im Enddrama spielen zu können, wo es um die Eingliederung der
Heiden in das Gottesreich ging (vgl. Röm 11,13-36).
Jesu Leben war in seiner entscheidenden Phase geprägt von dem
felsenfesten Glauben, im Namen Gottes dessen Gesetz vollständig
auslegen zu müssen. Zu weiten Teilen war seine Thoraauslegung als
Verschärfung des Willens Gottes wahrzunehmen. So verbot er die
Ehescheidung unter Berufung auf die gute Schöpfung Gottes, bei der
Mann und Frau in der Ehe unwiderruflich ein Fleisch geworden seien (Mk
10,9.11). Das Liebesgebot spitzte er zur Forderung der Feindesliebe zu
(Mt 5,44a). Das Richten (Mt 7,1) und Schwören (Mt 5,34a) verbot er. Ab
und zu reduzierte er das Gesetz grandios und spitzte es z.B. beim
Sabbat auf den Menschen zu (Mk 2,27). Aber all das, was - modern
gesprochen - nach Autonomie aussah, war gegründet in Theonomie. Jesus
konnte diese freien und gleichzeitig radikalen Interpretationen des
Gesetzes nur durchführen, weil er dazu von Gott, den er ebenso wie
später Paulus (Gal 4,6) liebevoll als Abba (= Papa) anredete (Lk
11,2), die Vollmacht erhalten hatte. An diesem Punkt waren Jesus und
sein göttlicher Vater fast eins, und das musste für die jüdischen
Zuhörer sehr anstößig sein.
Dämonenaustreiber und Gesetzesausleger war er, aber gleichzeitig
auch ein Dichter und Weisheitslehrer. Jesus erzählte spannende
Geschichten von Betrügern und sah in ihrer realistischen Einschätzung
der jeweiligen Situation ein Vorbild für sich und seine eigenen
Jünger. In moralischer Hinsicht ähnelte sein Leben selbst dem eines
unmoralischen Helden, um so mehr, als er wegen seiner Wanderschaft
keine Einkünfte hatte, sondern sich von Sympathisanten aushalten ließ
oder einfach auf Gott vertraute. In seine Erzählungen waren
Klugheitsregeln eingebettet, die man eher von Philosophen erwartet
hätte. In anderen Gleichnissen veranschaulichte er, wie Gott sein
Reich herbeiführen werde, nämlich leise und gleichzeitig doch
unwiderruflich. Wieder andere Gleichnisse legen schlagend dar, wie
Gott das Verlorene sucht. Jesus lieferte in seinem Leben den Kommentar
dazu: Er war oft zu Gast bei Zöllnern und Huren. Manchmal bekamen
seine Gleichnisse auch einen drohenden Klang: Am Ende wird Gericht
sein, und Gott wird seine Feinde vernichten. Gleichzeitig wendet Gott
dann das Schicksal der Armen, Hungernden und Weinenden zum Guten, wie
die Seligpreisungen der Bergpredigt eindrucksvoll darlegen.
Man hat gefragt, wie sich die quasi zeitlosen Weisheitsregeln bei
Jesus sich zu jenen Stücken verhalten, die von einer ungebrochenen
Naherwartung zeugen. Manche hauen den Knoten mitten durch und erklären
das eine für echt und das andere für unecht. So entsteht dann
wenigstens ein für uns heute verständlicher Jesus. Aber das ist
wahrscheinlich zu modern gemacht. Was wir nicht zusammenbringen
können, gilt für einen Menschen des ersten Jahrhunderts noch lange
nicht. Jesu Zeitgenosse Paulus ist für das Beieinander von zeitloser
Weisheit und ungestümer Naherwartung ein schlagendes Beispiel. Er war
davon überzeugt, das Kommen seines Herrn Jesus auf den Wolken des
Himmels noch selbst zu erleben, und wollte, wie in einem Fiebertraum
befangen, das gesamte römische Weltreich noch vor der Wiederkunft Jesu
missionieren. Doch finden sich bei ihm gleichzeitig quasi zeitlose
Ausführungen darüber, dass die menschliche Weisheit vor Gott Torheit
sei (1Kor 1,18-2,16), und er selbst hat der Nachwelt das schöne Lied
von der Liebe überliefert, das keinerlei Naherwartung kennt. In 1Kor
13 spricht er davon, dass die Liebe größer sei als die Hoffnung (auf
das Ende) und größer auch als der Glaube (an Christus, der die
Naherwartung erst ermöglicht hat). Daraus folgt: Bei Jesus ebenso wie
bei Paulus stehen Naherwartung, Weisheitslehre und Ethik gegen alle
moderne Logik nebeneinander. Wahrscheinlich hat bei Jesus die
Naherwartung aber die Überhand gehabt, wie sich aus der Betrachtung
der letzten Tage seines Lebens noch ergeben wird.
Jesus hatte in Galiläa große Erfolge erlebt. Die Massen waren ihm
zugetan. Nun zog es ihn nach Jerusalem. Dort wollte er Volk und
Führung zur Umkehr aufrufen. Er marschierte nach Jerusalem, begleitet
von einer Schar von Jüngern und Jüngerinnen. In einer Symbolhandlung
gab er im Tempelvorhof seiner Hoffnung auf den neuen Tempel dadurch
Ausdruck, dass er einige Tische der Wechsler und Verkäufer umstieß.
Das konnte ihm die jüdische Aristokratie nicht verzeihen. Was nun kam,
war nichts im Verhältnis zu den gelegentlichen Auseinandersetzungen
zwischen Pharisäern und Jesus in Galiläa. Ging es dort im wesentlichen
um Sticheleien, so wurde es in Jerusalem bald ernst. Jesus wurde als
politischer König der Juden verleumdet, und Pilatus machte kurzen
Prozess. Offenbar hatte Jesus seine Jünger schlecht darauf
vorbereitet. Andernfalls wären sie nicht alle geflohen. Spätestens am
Kreuz wurde Jesus zum Opfer inmitten von Verbrechern. Er litt hier für
etwas, was er gar nicht wollte. Es war anders gekommen, als er es
seinen Jüngern und dem jüdischen Volk gesagt hatte. Wahrscheinlich hat
er das aber so gar nicht wahrgenommen. Hier hilft noch einmal der
Blick auf den Apostel Paulus: Als dieser infolge des Todes einzelner
Gemeindemitglieder merkte, dass die Wiederkunft Jesu ausblieb, gab er
nicht etwa seinen Glauben auf, sondern hielt um so stärker an ihm
fest. Nun kam er zu der Überzeugung, dass er, ob er lebe oder sterbe,
dem "Herrn" gehöre. So wird wohl auch Jesus am Kreuzesbalken
in Ergebung gegenüber seinem Vater gedacht und gefühlt haben. Kein
Glaube kann je durch die Realität, von Argumenten ganz zu schweigen,
widerlegt werden.
Die Nachgeschichte Jesu gehört in gebotener Kürze auch zu seinem
Leben dazu, und zwar deshalb, weil wir ausschließlich ihretwegen
überhaupt noch etwas von ihm wissen. Die sich mit Leidenschaft auf
Jesus berufenden Jünger haben aus Jesus, dem Juden, einen Problemfall
ersten Ranges gemacht. Bald nach seinem Tod behaupteten sie nämlich,
Jesus sei von den Toten erweckt worden und werde als Gottessohn, als
Retter, als Christus, als der Menschensohn auf den Wolken des Himmels
wiederkommen. Doch es kam noch stärker: Anhänger Jesu trieben in
seinem Namen Dämonen aus und vollbrachten ähnliche Wunder wie er. Ja,
manche dienten sogar als Sprachrohr des auferweckten Jesus und gaben
stellvertretend für ihn, erfüllt vom heiligen Geist, Antworten auf
Probleme der Gemeinden. Den vorläufigen Gipfel bildete die Bekehrung
des Christenverfolgers Paulus, der durch den Auftrag des himmlischen
Christus der Heidenmission den entscheidenden Impuls vermittelte und
sie im großen Stil organisierte.
Was nun folgte, war eine Konfusion ohnegleichen, an deren Ende die
fast ausschließlich aus Heiden bestehende Kirche Jesu Christi stand,
die Jesu Volksgenossen unverzüglich als Gottesmörder abstempelte. Die
mit der "Auferstehung" Jesu einsetzende Springflut bizarrer
Deutungen des Alten Testaments war nicht mehr aufzuhalten. Überall
brachen die Dämme der Vernunft, die bisher religiöse
Allmachtsphantasien einigermaßen in Schach gehalten hatten. An vielen
Stellen des Alten Testaments - so die Christen - hatte Gott bereits
von Christus geredet und dessen Kommen angekündigt. Ja, bereits zu
Beginn der Weltgeschichte stand Christus Gott zur Seite. War es schon
eine Tragödie, wie der vollmächtige Exorzist, der Gesetzeskundige, der
Prophet, der Poet und der Weisheitslehrer Jesus in Jerusalem einer
politischen Intrige zum Opfer fiel, so gilt das potenziert von der Art
und Weise, wie Jesus in der Kirchengeschichte bis heute interpretiert
und für die Zwecke der jeweiligen Menschen missbraucht wurde.
Trotzdem bleibt die Frage: Was bedeutet er für die Gegenwart, wenn
einmal seine kirchliche Verbrämung als Maskerade erkannt ist? Meine
Einschätzung ist: Jesus war eine sympathische, naturwüchsige Gestalt,
ein Mensch mit Humor und Witz, über den ich manchmal schmunzele. Auch
seine Ernsthaftigkeit macht Eindruck. Aber in seiner Gesetzesauslegung
wird er mir zuweilen zu ernsthaft, und in seinem Schwärmertum, das die
Vernunft mit Füßen tritt, kann ich ihn nicht mehr ernst nehmen, denn
das von ihm angekündigte Reich Gottes ist ausgeblieben. Und in seinem
intimen Umgang mit Gott, den er Papa nannte, wirkt Jesus geradezu
lächerlich auf mich, denn damit teilt er einen Fehler vieler
religiöser Menschen: sich selbst im Mittelpunkt der Welt zu sehen. Als
ganze Person bleibt Jesus ein Problem, und von einem Problem können
wir nicht Antwort auf die uns bedrängenden Fragen erwarten.