Gerd Lüdemann's Homepage
Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 2001
Das Unheilige in der Heiligen Schrift.
Die dunklen Seiten der Bibel
Teil 1: Hinführung
Für die christlichen Kirchen der Gegenwart und Vergangenheit gilt
die Bibel als heilige Schrift. Der überwiegende Teil der Christenheit
auf Erden - immerhin mehr als 2 Milliarden Menschen - liest die Bibel
im wörtlichen Sinne als vom Heiligen Geist eingegebenes Wort Gottes,
so wie es bis zur Aufklärung allgemein üblich war. Dies geschieht,
obwohl das dabei vorausgesetzte Schriftprinzip überholt und unhaltbar
geworden ist. Denn die Bibel ist nicht vom Heiligen Geist eingegeben
worden. Sie ist Menschenwort.
Dieses sichere Ergebnis hat bisher wenig gegen alle Spielarten von
fundamentalistischer Lektüre der Bibel auszurichten vermocht. Vielmehr
herrscht weiterhin fast ungebrochen die Meinung: Bei der Lektüre der
Heiligen Schrift redet mich Gott an, und die Anrede entspricht
derjenigen, welche die biblischen Zeugen empfangen haben bzw.
diejenigen, zu denen jene gesprochen haben.
Allerdings sind für eine solche Konstruktion mehrere
Voraussetzungen unabdingbar.
Erstens : Der vorliegende Bibelkanon ist durch Gott selbst
festgelegt.
Zweitens : Die in ihm redenden bzw. schreibenden Verfasser tun
dies im Auftrag Gottes.
Drittens : Sie reden nicht nur ihre Zeitgenossen an, sondern auch
jene, die später ihre Schriften bzw. Worte lesen werden. Dabei ist der
Sinn bzw. der Gehalt der Botschaft damals und heute identisch. Was
damals gesagt oder geschrieben wurde, gilt in gleicher Weise auch
heute. Deshalb konnte beispielsweise Martin Luther seine eigene Lehre
mit dem wörtlichen Inhalt der biblischen Schriften gleichsetzen.
Diese Annahme und das mit ihre verbundene Schriftprinzip können
heute nur noch als naiv bezeichnet werden, auch wenn im Lutherjahr
1996 das Erbe des Reformators förmlich beschworen wurde und der
ehemalige Hannoversche Landesbischof und gegenwärtige Abt von Loccum,
Horst Hirschler, in einem Buchtitel förmlich hervorhebt, um wieviel
Luther uns doch voraus sei. Denn unübersehbar hat sich zwischen damals
und heute der garstig breite Graben der Geschichte aufgetan. Der
historische Abstand zwischen dem frühchristlichen Zeitalter und der
heutigen Kirche ist die Ursache für einen krisenhaften Strudel
geworden, der liebgewonnene Gewohnheiten des Glaubens unbarmherzig mit
sich in die Tiefe reißt. Dies geschieht deswegen, weil die seit 250
Jahren betriebene historisch-kritische Erforschung der Bibel mit dem
bis dahin vorhandenen Bild der Bibel restlos aufgeräumt und jeden
einzelnen ihrer Verse als menschliches Wort verstehen gelehrt hat.
Doch sind ihre Ergebnisse - wenn überhaupt - nur geschönt
weitergegeben worden.
Wie die Bibel heutzutage der evangelischen kirchlichen
Öffentlichkeit vorgestellt und vermittelt wird, dafür ist das Vorwort
zur revidierten Lutherbibel aus dem Jahre 1985 ein Beispiel. Es heißt
dort in der "Vorrede zur Heiligen Schrift":
"Die Bibel will allen Menschen die gute Nachricht von Gottes
Barmherzigkeit ausrichten. Die ältesten Zeugnisse des Alten Testaments
reichen in die Zeit zurück, als Israel aus der Wüste in das verheißene
Land zog. Von der Geschichte dieses Volkes wird erzählt, die Botschaft
seiner Propheten wird verkündet, das Gotteslob der Psalmen wird
gesungen.
Die Schriften des Neuen Testaments sind zum großen Teil in der
zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. aufgezeichnet worden, zuerst
die Briefe des Apostels Paulus, dann die Berichte von Jesu
Wirksamkeit, seinem Leiden, Sterben und Auferstehen; dazu kamen
schließlich einige Briefe, die zu Anfang des 2. Jahrhunderts abgefaßt
wurden.
Jede biblische Schrift spricht in eine bestimmte geschichtliche
Lage hinein. Sie redet Menschen an, die Sorgen und Freuden, Leid und
Glück kennen, und sagt ihnen, daß Gottes Wort sie trösten und
aufrichten, ihr Leben bestimmen und leiten will. Die biblischen Zeugen
geben weiter, was sie erfahren haben: Gottes Wort ist wahr, darauf
kann man sich verlassen. Was gestern galt, gilt auch heute, morgen und
alle Zeit. Von einer Generation wurde dieses Zeugnis zur nächsten
weitergereicht. Kein anderes Buch ist in so viele Sprachen übersetzt
worden wie die Bibel. Kein anderes Werk wird in so vielen Völkern
gelesen wie sie."
Dieses Vorwort vereinigt in sich Ergebnisse historischer
Bibelwissenschaft und theologische Spitzenformulierungen. Entsprechend
werden Kernsätze der Bibel in der darauf folgenden Übersetzung in
halbfetter Schrift gebracht und am Ende eine chronologische Übersicht
über die mutmaßliche Abfassungszeit der biblischen Bücher sowie die
hier vorausgesetzten profanen Daten erstellt. Zusätzlich ist zu
vermerken, daß in der Übersetzung dem neuesten textkritischen Befund
Rechnung getragen wird: So ist z.B. Mk 16,9-20 ausdrücklich als ein
erst in späterer Zeit zum Mk-Evangelium hinzugefügter Schluß
gekennzeichnet.
Die Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1985 samt Vorrede
und Anhängen ist somit ein Beispiel für die heutige Stellung und den
Gebrauch der Bibel im Lager der evangelischen Kirche, das von der
Bibelkritik geprägt ist.
Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die Ergebnisse der
historischen Kritik in der revidierten Lutherbibel nicht konsequent
berücksichtigt werden. Im folgenden seien zwei Punkte näher
ausgeführt, die zum Widerspruch geradezu herausfordern.
Erstens : In der Übersetzung des Alten Testaments sind unter
anderem diejenigen Stellen fettgedruckt, welche die Christenheit seit
Jahrhunderten als Voraussagen auf Jesu Kommen angesehen hat und die
alljährlich in Weihnachts- oder Karfreitagsgottesdiensten zitiert
werden.
Nun hat aber die historische Bibelkritik allgemein und ein für
allemal gezeigt, daß diejenigen Stellen des Alten Testaments, die von
der christlichen Kirche als Voraussagen auf Christi Kommen angeführt
werden, keine solchen Voraussagen sind. Ist es dann aber nicht
erbärmlich, wie allweihnachtlich jenes Possenspiel mit dem Alten
Testament vor den nichtsahnenden Zuhörern aufgeführt wird, die
alljährlich nur einmal in die Kirche gehen?
Zweitens : Das Alte Testament sowie das Neue Testament bzw. ihre
Bestandteile werden in der Vorrede zur revidierten Lutherbibel
ausdrücklich als Wort Gottes betrachtet, und beide gelten als Heilige
Schrift.
Gewiß wird im protestantischen Lager die Auffassung der Bibel als
Wort Gottes nicht mehr im wörtlichen Sinne vertreten. Vielmehr zieht
man Formulierungen vor wie: Gottes Wort in, mit, unter Menschenwort
oder gar: in der Bibel sei Gottes Wort als Menschenwort enthalten.
Aber, was heißt hier konkret Gott und Gottes Wort? Spricht Gott etwa?
Zwar sagen die Propheten, Gott habe sie beauftragt, sein Wort an
bestimmte Menschen auszurichten. Doch ist sogleich hinzuzufügen: Die
Propheten dachten, daß es so sei. Wir aber wissen, daß sie es nur so
dachten. Mit anderen Worten, es war ihre eigene Deutung eines
religiösen Erlebens. Von dort bis hin zur Behauptung, Gott habe hier
wirklich gesprochen, ist ein sehr weiter Weg, der dem Menschen nach
der Aufklärung schwerlich nachvollziehbar ist.
Vielmehr gilt: Wir haben es in der Bibel immer nur mit
Gottesbildern zu tun, mit menschlichen Ansprüchen, daß Gott hier und
da gehandelt oder geredet habe. Wer sagt, die Bibel enthalte
Gotteswort als Menschenwort, bedient sich daher einer unklaren
Ausdrucksweise. Die Wendung "Gotteswort als Menschenwort"
suggeriert nämlich eine Entsprechung, die gar nicht besteht. Der
unvoreingenommene Hörer sieht sich schlichtweg getäuscht, sobald er
über den wahren Sachverhalt aufgeklärt wird.
Anders als die Mehrheit der Interpreten der Bibel, die im
kirchlichen Interesse Gottes Wort durch Menschenwort hindurch finden
wollen, nähere ich mich ihr von ihren dunklen Seiten. Ich nehme den
Verfasser des Vorworts zur revidierten Lutherübersetzung beim Wort,
daß die Bibel allen Menschen die gute Nachricht von Gottes
Barmherzigkeit ausrichten will, und prüfe sie daraufhin, ob das
wirklich der Fall war und auch heute zutrifft.
In dem nun folgenden alttestamentlichen Teil meines Votrags folgt
eine Analyse von Texten, die ein ganz anderes Bild des Alten
Testaments widerspiegeln, als daß in ihm die gute Nachricht von der
Barmherzigkeit Gottes an alle Menschen übermittelt würde. Es geht um
jene Partien, die den Befehl Gottes enthalten, ganze Völker
auszurotten.
Im neutestamentlichen Teil schließe ich Einzeluntersuchungen von
Texten an, die ebenfalls wenig von Gottes Barmherzigkeit spüren
lassen. Es geht um jene Stellen, welche die ungläubigen Juden der
damaligen Zeit als Feinde Gottes bezeichnen und sie kurzerhand von
seiner Barmherzigkeit ausschließen.
Ein solcher Zugang ist notwendig, weil die Bibel jahrhundertelang
allein in einem kirchlich-dogmatischen Rahmen gelesen wurde und die
Begegnung mit dem, was tatsächlich in ihr steht, auch heute nur selten
stattfindet.
Ich möchte provokativ jene Realität aufweisen, in welcher die
Menschen der Bibel zum Glauben kamen und die - in welchem Interesse
auch immer - in der historischen bzw. theologischen Betrachtung
vernachlässigt wurde. Historische Kritik lebt aus der nicht endenden
Radikalität des Fragens, der es nicht nur um die Oberfläche, sondern
um den Grund der damaligen Wirklichkeit geht. Mein Vorgehen ist darin
begründet, daß es zu der nicht mehr rückgängig zu machenden
Selbstverständlichkeit der Neuzeit gehört, daß weder die Kirche noch
eine sich absolut setzende Weltanschauung die Eigenständigkeit der
historischen Kritik antasten darf. Diese geht so vor, als ob es Gott
nicht gäbe. Sie ist aus methodischen Gründen atheistisch. Gerade die
Erfolge in der Aufdeckung und Aufhellung vergangener Geschichte
sprechen für die Berechtigung eines solchen Ansatzes. Nur er läßt
Angehörige verschiedener Konfessionen und Religionen
erfolgversprechend ihre gemeinsame Geschichte bearbeiten. Nicht die
historische, sondern die systematische Theologie macht die Krise
offenbar, in der sich Kirche und Theologie heutzutage befinden.
Teil 2: Unheilige Gewalt gegen andere im Alten Testament und ihre Begründung
Wir erinnern uns: Wissenschaft lebt aus einer nicht endenden
Radikalität des Fragens, in der es nicht nur um die Oberfläche,
sondern um den Grund der Wirklichkeit geht. Dabei gehört zu den
Merkwürdigkeiten der neueren sogenannten historisch-kritischen Exegese
die Auffassung, daß sie in Bescheidenheit nur historische Vorarbeiten
für die spätere systematisch-theologische Frage leisten solle.
Demgegenüber möchte ich die Autonomie der historischen
Rekonstruktion betonen und im Vollzug dieser Autonomie auf eine bisher
nicht genügend berücksichtigte Tiefendimension alttestamentlicher
Geschichte hinweisen, nämlich die Ausübung von Gewalt gegenüber
anderen.
Es gibt kaum etwas anderes im Alten Testament, das den Abscheu des
modernen Betrachters so provoziert wie die Praxis des Bannes als
Abschluß eines "Heiligen Krieges". Hier zwei Beispiele
dafür, wie der Bann aussah:
Deuteronomium 2,33f:
"(33) Jahwe, unser Gott, gab uns den König Sihon vor unseren
Augen dahin, so daß wir ihn schlugen mit seinen Söhnen und seinem
ganzen Kriegsvolk. (34) Da nahmen wir zu der Zeit alle seine Städte
ein und vollstreckten den Bann an allen Städten, an Männern, Frauen
und Kindern, und ließen niemand übrig bleiben."
Josua 6,21:
Das Volk "vollstreckte den Bann an allem, was in der Stadt
war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, jung und alt,
Rindern, Schafen und Eseln."
Der Bann war durch folgende Akte bestimmt: Durch das Stoßen in die
Posaune oder durch die Aussendung zerstückelten Fleisches wird das
Heer aufgeboten und versammelt sich im Lager, wo sich die Krieger,
fortan "Volk Gottes" genannt, mit kultischer Reinigung,
geschlechtlicher Askese, Opfern und Bußriten auf die bevorstehende
Schlacht vorbereiten.
Vor Beginn des Kampfes wird Gott befragt, der den Sieg voraussagt.
Daraufhin verkündet der Führer den Heerbann, und das Heer marschiert
mit Gott an der Spitze dem Feind entgegen. Mit Kriegsruf und
Kriegsgeschrei wird die Schlacht eröffnet. Den Sieg bringt der
Gottesschrecken, der die Feinde befällt und verwirrt, so daß ihnen der
Mut entsinkt. Den Höhepunkt und Abschluß bildet der Bann, die
Übereignung der Beute an Gott. Wie beim ganzen heiligen Krieg, so
handelt es sich auch hier um eine kultische Angelegenheit: die
Menschen und Tiere werden getötet, Gold, Silber usw. gehen in den
Schatz Gottes ein.
Wer die Texte über den Bann und die Abschlachtung fremder Völker
heute unvoreingenommen liest, kann darüber nur entsetzt sein. Ernest
Renan hat den Abscheu vor diesen "bluttriefenden
Barbarensitten" vor rund 100 Jahren so ausgedrückt:
"Die menschliche Grausamkeit nahm die Form eines Paktes mit
der Göttlichkeit an. Man legte ein feierliches Gelöbnis ab, alles zu
töten und verbot damit sich selbst, der Vernunft oder dem Mitleid
Folge zu leisten. Man weihte eine Stadt oder ein Land der Vernichtung
und glaubte Gott zu beleidigen, wenn man den greulichen Eid nicht
hielt."
Dennoch ist sofort darauf hinzuweisen, daß der Bann nicht dem
persönlichen Haß oder der Rache entsprang. Vielmehr handelte es sich
um eine Art Opferritual, in dem die Bevölkerung der eroberten Städte
oft sogar samt ihren Tieren vernichtet wurde. Ferner durften
unzerstörbare Gegenstände aus Gold und Silber nicht von beliebigen
Leuten als Beute einbehalten werden. Sie galten vielmehr als Geschenke
für den Gott Israels. Sodann gehört das hebräische Wort für
"Bann" zum semantischen Feld des Heiligen, Geheiligten, das
die Übersetzung "Weihung zur Zerstörung" rechtfertigt. Sie
ist dann die negative Seite des Heiligen, die den Aspekt des
Entfernens, des Unzugänglichmachens für den allgemeinen Gebrauch zum
Inhalt hat, während der bekanntere hebräische Ausdruck für das Heilige
seine positiven, zu bewahrenden Qualitäten anzeigt.
Mit anderen Worten: Das Ritual des Bannes war geradezu die
Negation einer Ethik des einfachen Plünderns und der Ausbeutung. Es
war eine rituelle Heiligmachung, in der die gefangenen Personen, Tiere
und Objekte Gott geweiht und die Gegenstände, die unzerstörbar waren,
einfach dem Heiligtum übergeben wurden. Indem man die Personen in
derselben Weise wie die Tieropfer der Gottheit übergab, erhielt Gott
sie als Geber des Lebens zurück.
Gegen die Anstößigkeit des Bannes wird zuweilen einschränkend
bemerkt: der Heilige Krieg, wie er im Deuteronomium und im Buch Josua
beschrieben wird, habe wohl niemals so stattgefunden.
Aber selbst wenn die Tradition des Heiligen Krieges teilweise eine
Fiktion sein würde, wäre das Phänomen an sich noch nicht zureichend
erhellt. Denn das eigentliche Problem besteht gar nicht darin, ob die
Erzählungen Tatsache oder Fiktion sind. Ärgernis erregt, daß die
rituelle Zerstörung überhaupt empfohlen wird. Viele Texte empfehlen
die totale Abschlachtung der kanaanäischen Bevölkerung, und die
Ausführung dieses Auftrages, z.B. bei der Eroberung von Jericho, wird
eigens betont, wie der schon zitierte Text Josua 6,21 zeigt: "Sie
vollstreckten den Bann aber an allem, was in der Stadt war, mit der
Schärfe des Schwerts, an Mann und Frau, jung und alt, Rindern, Schafen
und Eseln."
Wenn der Bericht von der Eroberung Jerichos auch reine Fiktion
war, so doch eine, die allgemeine Zustimmung fand. Und obwohl das Alte
Testament eine Fülle von Kriegsschilderungen enthält, gibt es keine
einzige Passage, die ausdrücklich den Bann kritisiert oder bestreitet,
daß er von Gott angeordnet wurde. Im Gegenteil: Wo vom Bann die Rede
ist, geschieht dies immer in engem Zusammenhang mit Gott selbst. Der
Bann hat also keineswegs einen nebensächlichen, sondern einen
erschreckend grundsätzlichen Charakter.
Um die Anstößigkeit noch zuzuspitzen: Nach den alttestamentlichen
Texten ist der Bann nichts, das nur einmal geschah; nein, es ist
etwas, das Gott befohlen hat und auf dem er immer wieder strikt
bestand. Und hier entsteht sofort die Anfrage: Wie kann eine solche
abstoßende Praxis mit dem vereinbart werden, was wir herkömmlich als
Gott betrachten?
Wie wird nun der Bann von alttestamentlichen Theologen behandelt,
die durchaus historisch-kritisch arbeiten? Ich beziehe mich im
folgenden auf die Disziplin der seit kurzem eifrig betriebenen
"Biblischen Theologie", die sich darum bemüht, Altes und
Neues Testament als Einheit zu sehen. Dies geschieht unter Hinweis
darauf, daß "in den beiden Testamenten nicht zwei Götter, sondern
der eine alleinige Herr bezeugt wird" und in der Absicht zu
präzisieren, "wie die an Israel ergangene Offenbarung Gottes und
die in Jesus Christus ,ein für allemal' ergangene Offenbarung
zusammenzudenken und in unserer Gegenwart theologisch zur Sprache zu
bringen" sind. Doch schneiden ihre Vertreter, wie ein Blick in
die einschlägigen Publikationen zeigt, die gerade aufgeworfene Frage
des Bannes gar nicht an und protestieren laut, wenn sie überhaupt
erörtert wird. Zweifel an der Vertretbarkeit des Bannes werden nämlich
durchweg als Zeichen eines theologischen Liberalismus gedeutet, der
die Autorität des Alten Testaments untergräbt.
Andere begnügen sich damit, den Erfahrungen nachzugehen, die
"zu derart befremdlichen Texten geführt haben. Warum hat man sie
stehen, warum sie überhaupt in den Kanon gelangen lassen? Antwort:
Unser theologisches Denken möchte Gott von allen grausamen,
intoleranten und bedrohlichen Zügen reinigen. Nur dann meinen wir, ihn
als Gott festhalten zu können. Vielleicht aber ist es genau umgekehrt.
Vielleicht ist nur ein Gott, der sich selbst das Äußerste an
Entfremdung, Schmerz und Betroffenheit zumutet, imstande, einer Welt
Hoffnung zu geben, die an solchen Zumutungen leidet".
Doch kann man an dieser Stellungnahme leicht erkennen, wie
historisch-theologische Exegese unvermittelt in allgemeine
theologisch-philosophische Überlegungen übergegangen ist, die m.E.
nicht mehr als Wissenschaft bezeichnet werden können. Denn Grausamkeit
bleibt Grausamkeit, auch wenn die Bibel sie Gott zuschreibt.
Es ist zu billig, wenn beispielsweise der strikten historischen
Analyse, welche der Aufklärung verpflichtet ist, vorgehalten wird, die
Menschen in Ratlosigkeit und Resignation geführt zu haben. Man
überprüfe die Logik dieser Argumentation: Es wird suggeriert, wir
müßten wenigstens zeitweise wieder in die Arme eines grausamen Gottes
fliehen, weil die Aufklärung keine positiven Rezepte für die heutige
Menschheit habe. (Dies aber ist eine glatte Diffamierung.) Ich kann
daher diese Versuche, dem radikal historischen Befund zu entgehen und
Hand in Hand damit die dunklen Seiten Gottes zu integrieren, nur als
ein verzweifeltes apologetisches Bemühen ansehen.
Das Faktum bleibt: Der Befehl zur Ausrottung ist in höchstem Maße
anstößig, auch wenn er damals von Gott selbst gegeben wurde, oder
genauer: auch wenn die damaligen Menschen glaubten, Gott ordne die
Extermination an. Wer mir an dieser Stelle unhistorisches Denken
vorwirft ("eine fremde Zeit kann man nicht an modernen Maßstäben
messen"), dem sei empfohlen, sich die beim Bann vollzogenen Akte
und ihre Konsequenzen zu vergegenwärtigen und konkret
nachzuvollziehen, welche Verbrechen hier in Wirklichkeit verübt
wurden: die gezielte Abschlachtung von Säuglingen, Kindern, Frauen und
Männern. Erst dann wird man auch den emotionalen Aspekt meiner Frage
verstehen, wie solche Akte noch etwas mit der Barmherzigkeit Gottes zu
tun haben können und warum die biblischen Theologen so schnell von
solchen angeblich von Gott angeordneten Verbrechen gegen die
Menschheit zur Tagesordnung übergehen können.
Im Kontext der Texte zum Bann erscheint regelmäßig das Stichwort
der Erwählung, das besonders häufig im Deuteronomium variiert wird.
Dieses biblische Buch verwendet das Verb "erwählen" als
Vorzugswort und gebraucht es viel häufiger als alle anderen Bücher des
Alten Testaments.
Das Deuteronomium ist eine von mehreren judäischen Gruppen
fabrizierte Utopie, deren Verfasser im 7. Jahrhundert sowohl eine
strenge Kultzentralisation forderten als auch die Reinheit des Kultus
sowie die rigorose Abgrenzung von anderen Völkern: Da Israel das
heilige, von Gott auserwählte Volk ist, muß es den Kontakt mit anderen
Völkern gänzlich meiden. Das Bestreben, die Sonderexistenz Israels
aufrechtzuerhalten und es um jeden Preis vor fremden Einflüssen zu
schützen, brachte dann fast zwangsläufig eine Kriegsideologie hervor,
die auch das uralte Banngebot in sich aufnehmen konnte.
Diese Absonderungsideologie wurde im Exil (587-539 v.Chr.) sowie
auch in nachexilischer Zeit (539-564 v.Chr.) gedanklich weiter
ausgesponnen und konsequent gegen alle gekehrt, die nicht zur reinen
Kultgemeinde gehörten. In ihr wurzelte die gedanklich vollzogene
Ausrottung der Kanaanäer; in ihr ist z.B. Psalm 137 zu Hause, in dem
es heißt: "An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten
..." (V. 1). Die Forderung nach Rache für die Vertreibung läßt
nicht lange auf sich warten: "Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl
dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! Wohl dem, der deine
jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!" (V. 8-9).
Ein neuerer Kommentator dieses Psalms, der in der
historisch-kritischen Exegese zu Hause ist, sieht in V. 9 nur einen
"Hinweis auf die Grausamkeit der antiken Kriegshandlungen
überhaupt ... Die Bitte um Rache ist eine Bitte, die an die
Geschichtsmächtigkeit Gottes appelliert ... Mitten im geschichtlichen
Leben steht es zur Entscheidung, ob Gott Gott ist oder ob die
Großmächte triumphieren." - Diese Auslegung ist ein Beispiel
dafür, wie trotz historisch-kritischer Exegese unbequeme Texte
geschichtlich eingeebnet, theologisch gezähmt und ihres Inhalts
beraubt werden. Vielmehr gehört dieser Psalm ohne Wenn und Aber zum
Vorstellungsrahmen des Heiligen Krieges. Dieser wurde zwar in den
meisten Fällen nur herbeigesehnt und nicht geführt. Doch die in ihm
enthaltene Botschaft und die des Deuteronomiums sind geladen mit
Gewalt, deren Träger im Namen Gottes ganze Völker gedanklich ausrotten
wollten.
Diese Dinge sind gleichsam nur als Schale um einen glühenden Kern
herum anzusprechen. Sein Inhalt ist der Ausschließlichkeitsanspruch
einer intoleranten Gottheit, genauer gesagt: des Bildes eines
intoleranten Gottes, der Israel erwählt und sich mit diesem Volk auf
Gedeih und Verderben verschworen hat.
Die damit verbundenen Visionen von Gewalt haben in den
nachfolgenden Jahrhunderten der jüdischen Geschichte, aber auch bis in
unsere Zeit hinein, verheerende Folgen gehabt.
Auf dieser Linie liegend, schildert und begründet das
alttestamentliche Buch Esra im vierten vorchristlichen Jahrhundert die
Auflösung der Mischehen. Sie hat zu geschehen, weil die natürliche
Verbindung mit heidnischen Geschlechtern Treuebruch gegenüber Gott und
damit Gefährdung der Heiligkeit des auserwählten Gottesvolkes
darstellt.
Die verhängnisvollste Konsequenz der mit dem Heiligen Krieg
verbundenen Gewaltutopien im Alten Testament ist die, daß diese sich
in der christlichen Wirkungsgeschichte, angefangen von den Kreuzzügen
bis zum Holocaust, gegen die Menschen wendeten, in deren Traditionen
sie hervorgebracht wurden.
Die Ehegesetzgebung unter Esra/Nehemia wird wirkungsgeschichtlich
zuweilen als Selbstmord von langer Hand betrachtet. Denn der
Antisemitismus habe Wurzeln im Alten Testament selbst, nur unter
umgekehrten Vorzeichen. Daran ist richtig, daß die diesbezüglichen
Maßnahmen gegen heidnische Frauen (und Mischlingskinder) eine
Entsprechung zu den Schritten aufweisen, die später gegen Juden selbst
eingeleitet wurden. So verbot die katholische Kirche auf der Synode
von Elvira (300/313 n.Chr.) die Ehe (und den Geschlechtsverkehr)
zwischen Christen und Juden. Diesem Beispiel folgten die
Nationalsozialisten in den sog. "Nürnberger Gesetzen", mit
denen die Ehe und der außereheliche Geschlechtsverkehr "zwischen
Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes"
untersagt wurde ("Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre" vom 15. September 1935; ÝÝ 1-2). So wandten die
Nazis von der Struktur her ähnliche Gedanken, wie sie Juden unter
Esra/Nehemia entwickelt hatten, erweitert um die Rassenideologie,
ruchlos gegen ihre jüdischen Mitbürger, steigerten sich in einen
antisemitischen Mordwahn und richteten im 20. Jahrhundert ein
grausiges Blutbad an.
Sie erhielten in ihrer Ehegesetzgebung sogar Unterstützung von
einem bekannten deutschen Neutestamentler, der im Jahre 1943 mit
vollem Ernst schrieb:
"Die durch den Nationalsozialismus vollzogene radikale
Ausmerzung der Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden ist nicht,
wie fast die ganze außerdeutsche Welt behauptet, eine unerhörte
Grausamkeit gegen die Juden ..., sondern in Wirklichkeit der heilsame
Zwang für das Assimilationsjudentum, zu seinen eigenen Grundlagen und
deren Gesetzen zurückzukehren."
Teil 3: Antijudaismus im Neuen Testament - eine Geste der Barmherzigkeit?
Ich möchte vorweg nochmals in Erinnerung rufen: Wissenschaft lebt
von einer nicht endenden Radikalität des Fragens, in der es nicht um
die Oberfläche, sondern um die Tiefe der Wirklichkeit geht. Mir
scheint, daß die Schriften des Neuen Testaments viel tiefer im
Antijudaismus verwurzelt sind, als bisher erkannt wurde. Ihre
Einzelaussagen sind nur die Spitze eines Eisberges, den es in seinem
gesamten Ausmaß, in seiner Entstehung und in seiner Herkunft
auszuloten gilt.
Ich beginne mit einem Zitat aus dem 4. Jh., in dem praktisch alle
antijüdischen Aussagen des Neuen Testaments gipfeln. In ihm ist - so
scheint es jedenfalls - die Saat aufgegangen, die die
neutestamentlichen Autoren gelegt haben. Der christliche Historiker
Euseb schreibt im Jahre 312 n.Chr. folgendes über die ungläubigen
Juden:
"Als nun nach der Himmelfahrt unseres Erlösers die Juden zu
dem Verbrechen an dem Erlöser auch noch die höchst zahlreichen
Vergehen an seinen Aposteln begangen hatten, ... da brach zuletzt das
Strafgericht Gottes über die Juden wegen der vielen Freveltaten, die
sie an Christus und seinen Aposteln begangen hatten, herein und
vertilgte gänzlich dieses Geschlecht der Gottlosen aus der
Menschengeschichte" (Kirchengeschichte III 5,2f).
Bringt man den Bericht Eusebs auf den Punkt, so lautet seine
"Botschaft": Die ungläubigen Juden sind wegen der Verbrechen
gegen Jesus und die ersten Jünger zu Recht bestraft und ausgetilgt
worden.
Kann man die neutestamentlichen Autoren für solche rüden
Verdammungsurteile verantwortlich machen?
Ich führe im folgenden an einem Themenkomplex, der
Passionsgeschichte, die Probe durch.
Die Leidensgeschichte des ältesten Evangeliums, des MkEv, kann
nicht verstanden werden ohne vorherige Betrachtung der drei
Weissagungen Jesu über sein Leiden (und seine Auferstehung), die das
MkEv geradezu gliedern. Sie befinden sich in Mk 8,31; 9,31 und
10,32-34 und dürften vom Vf. selbst formuliert worden sein. Ihr Inhalt
lautet: Jesus zieht nach Jerusalem, um von den Oberen der Juden zu
Tode gebracht zu werden.
Die dreifach gemachte und Jesus selbst in den Mund geschobene
Aussage findet eine Entsprechung in der vom zweiten Evangelisten
formulierten Stelle Mk 3,6: (Nach einer Heilung am Sabbat)
"gingen die Pharisäer hinaus und hielten alsbald Rat mit den
Anhängern des Herodes, wie sie ihn umbringen könnten." Dieser
Plan zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Evangelium
hindurch und findet dann seine Erfüllung in der Passionsgeschichte.
Angesichts dessen ist es nicht mehr verwunderlich, daß im MkEv
alle Hohenpriester, Ältesten und Schriftgelehrten Jesus zum Tode
verurteilen (Mk 14,64) und ihn dem Pilatus ausliefern (Mk 15,1).
Dieser will Jesus losgeben, weil er "erkannte, daß ihn die
Hohenpriester aus Neid überstellt hatten" (Mk 15,10). Sein
Ansinnen wird dann aber von den jüdischen Oberen verhindert. Als
Pilatus Jesus freilassen will, wiegeln sie erfolgreich das jüdische
Volk auf, damit es Jesu Kreuzigung fordere.
Das Fazit kann nur lauten, daß die Juden, d.h. Hohepriester,
Schriftgelehrte, Älteste, Pharisäer und das Volk, die alleinige
Verantwortung für Jesu Tod tragen.
Diese Tendenz setzt sich dann in brutaler Weise in den
Leidensgeschichten des MtEv, des LkEv und des JohEv fort. Ich hebe
hier nur einen Punkt heraus, die bei Matthäus sich findende
Selbstverfluchung des jüdischen Volkes im unmittelbaren Anschluß an
das Händewaschen des Pilatus: "Und alles Volk antwortete und
sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" (Mt 27,25).
Der hochgelehrte Kirchenvater Origenes (185/6-254 n.Chr.) schrieb
zu dieser Stelle und den daraus für die Juden resultierenden
Konsequenzen:
"Deswegen wurden sie nicht nur am Blut der Propheten
schuldig, sondern machten das Maß ihrer Väter voll und wurden auch am
Blut Christi schuldig ... Deshalb kam das Blut Jesu nicht nur über
die, die ehemals lebten, sondern auch über alle nachher folgenden
Generationen der Juden bis zur Vollendung."
Diese Worte enthalten die christliche Durchschnittsmeinung über
die Juden, wie sie sich in jahrhundertelanger Denktradition
ausgebildet hat und vom ältesten Christentum bis in die Neuzeit hinein
beherrschend war.
Heute ist historisch geklärt, daß die Belastung der Juden durch
die neutestamentlichen Evangelien jeglicher geschichtlicher Grundlage
entbehrt. Sie geht, wie wissenschaftlich allgemein anerkannt ist, auf
ihre apologetische Tendenz zurück, die Römer zu entlasten und die
Juden als Feinde hinzustellen.
Dies kann unzweifelhaft an den außerhalb des Neuen Testaments für
Pilatus bezeugten Quellen bewiesen werden. Während die
neutestamentlichen Evangelien Pilatus als einsichtsvollen Menschen
zeichnen, der die jüdischen Oberen durchschaut und die Unschuld Jesu
erkennt, ergibt sich aus den historisch zuverlässigen Quellen ein ganz
anderes Bild des Pilatus.
So berichtet der jüdische Philosoph Philo, ein Zeitgenosse des
Apostels Paulus, daß unter Pilatus "Bestechlichkeit, Gewalttaten,
Räubereien, Mißhandlungen, Kränkungen, fortwährende Hinrichtungen ohne
Urteilsspruch, endlose und unerträgliche Grausamkeiten"
vorgekommen seien.
Daher ist die Sicht der neutestamentlichen Evangelien, Pilatus sei
ein einsichtsvoller Herrscher gewesen, eine große Täuschung, um nicht
zu sagen: böse Absicht. Ihre Auffassung, Pilatus sei nur ein Werkzeug
der Juden gewesen, damit diese ihren Todesbeschluß verwirklichen
könnten, ist reiner Wunsch, historisch unzutreffend und entspringt -
wie bereits ausgeführt - ihrer Intention, die Römer zu entlasten und
damit besser im Römischen Reich dastehen zu können.
Wie gesagt, die meisten Neutestamentler sind sich in diesem Urteil
einig. Allerdings sagen sie im gleichen Atemzug, daß geschichtliche
Tatsachen unwichtig seien. Historie sei unwichtig und abgestorben,
einzig auf die Deutung komme es an, die sich über die Gegebenheiten
dessen, was einstmals geschah, erhebt. Doch was bei dieser
Betrachtungsweise auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit: die
unverschönerte, unverkerygmatisierte, untiefsinnige Wahrheit der
Tatsachen. Was bei dieser Betrachtungsweise zu kurz kommt, ist das
Gewissen.
Die weitere Frage stellt sich unverzüglich: Wie kann man
angesichts dieses brutalen historischen Befundes und angesichts der
historischen Verfälschung des Sachverhalts die neutestamentlichen
Evangelien als gute Nachricht von Gottes Barmherzigkeit ansehen? Fällt
nicht von dieser ihrer dunklen Seite, die in der nachfolgenden
Kirchengeschichte verheerende Folgen für die Juden hatte, ein tiefer
Schatten auf alles andere, was sie auch geschrieben haben? Kann man
sich auf sie überhaupt noch verlassen, wenn sie an einer
entscheidenden Stelle die historische Wahrheit so umgebogen haben? -
Über die Entstehung des Antijudaismus sind gut begründete Aussagen
möglich. Er ist direkt mit dem Anspruch der christlichen Gemeinden
verbunden, daß nur in Christus und in keinem anderen Heil ist. Vgl.
Apg 4,12 in der Predigt des Petrus: "Es ist in keinem anderen
Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen
gegeben, darin wir sollen selig werden." Mit anderen Worten, die
Christologie führte zu einem Anspruch, der alle anderen Glaubensweisen
ausschloß und sie, falls er nicht anerkannt wurde, sofort verteufelte.
Man vgl. ferner Joh 14, 6: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich."
Nun wurzeln die beiden genannten Texte gewiß in einer bestimmten
Situation und enthalten Urteile, die weder in allen Situationen und zu
allen Zeiten gelten noch der Absicht ihrer Verfasser zufolge Aufnahme
in einen Kanon heiliger Schriften finden sollten. Vielmehr sind sie
historisch verständlich zu machen. Doch gibt es von ihrem Inhalt her
und angesichts des Kontextes, in dem sie stehen, keine andere
Möglichkeit, als den Anspruch dieser Texte ernstzunehmen und ebenso
die christlichen Gruppen, die sich auf sie beriefen. Mit anderen
Worten, an der alleinigen Anerkennung Jesu Christi als des Heiles der
Welt führt ihrer Meinung nach kein Weg vorbei -für die Juden nicht und
auch für die Heiden nicht. Schlossen sich aber - wie oft geschehen -
Juden oder/und Heiden diesem Urteil über Jesus als Heil der Welt nicht
an, so mußten sie dem Bereich der Finsternis zugewiesen werden.
Antijudaismus ist also - historisch gesehen - die Kehrseite des
"Christus allein", gewissermaßen die linke Hand der
Christologie bzw. der Schatten der Christologie.
Gerade aus diesem Grunde ist die Christologie in Frage zu stellen,
um ein für allemal die Dogmatik auf den Boden der Tatsachen
zurückzuführen. Die historisch-kritische Forschung leistet dabei eine
unschätzbare Hilfe. Fest steht: Die Christologie wurzelt letztlich in
der Auferstehung Jesu. Diese hat aber nie stattgefunden; historisch
gesehen, sind als Tatsachen nur die Visionen der Jünger und
Jüngerinnen zu ermitteln. Wenn man so will, haben die Juden, die Mt
nennt, die "Auferweckung" Jesu sachgemäßer beurteilt als die
frühen Christen. Sie äußerten den dringenden Verdacht, die Jünger
hätten den Leichnam Jesu nur gestohlen, während die Christen steif und
fest behaupteten, Jesu Leichnam sei aus dem Grab in Jerusalem
entschwunden. Haben die Christen den Leichnam auch nicht entwendet, so
steht doch fest, daß er verweste. In dieser Voraussetzung, aber auch
in anderen, wie der Bestreitung der Historizität der Jungfrauengeburt
sowie der Lehre von der Gottheit Christi und von seiner Präexistenz,
behalten die ungläubigen Juden Recht. Ausgangspunkt der Theologie,
wenn sie überhaupt noch möglich ist, muß also etwas anderes sein als
die genannten dogmatischen Lehrstücke.
Als Fazit des neutestamentlichen Teiles meines Vortrags möchte ich
zwei Punkte benennen:
Erstens : Der Antijudaismus war und ist das schleichende Gift in
der Geschichte des Christentums. Ob er in der Geschichte der
christlichen Kirchen und der Theologie seinen Höhepunkt bereits
überschritten hat, bleibt abzuwarten.
Zweitens : Gleichzeitig hat der Antijudaismus tragische Züge, da
vieles in ihm gerade aus Israel übernommen und später gegen die Juden
selbst gekehrt wurde. Ein Teil des eigentlichen Problems scheint zu
sein, wie ein Volk plötzlich von sich behaupten kann, es sei erwählt.
Denn Erwählung setzt oftmals Feindseligkeiten gegen andere frei und
umgekehrt Feindseligkeiten gegen diejenigen, die den Anspruch auf
Erwählung erheben, und zwar seitens derjenigen, die außerhalb der
Erwählung stehen. Indem die christliche Kirche das unheilvolle Erbe
dieses Aspektes von Religion samt seinem Gottesbegriff aus dem
Judentum übernommen hatte und von sich behauptete, das erwählte Volk
Gottes zu sein, waren praktisch Gewaltanwendungen in ihr
vorprogrammiert, wobei die Kriegstheologie des Alten Testaments als
Vorbild diente. Und bis heute scheint das Gottesbild der christlichen
Kirchen noch stark von dem Gewalt anwendenden Gott des Alten
Testaments geprägt zu sein, dem ohne Widerrede zu gehorchen sei.
Aber wie soll ein solcher Gott in unseren demokratischen
Traditionen und dem hier verankerten Toleranzbegriff ein Zuhause
finden? Die Frage ist nach wie vor ungelöst, zumal die Reformation,
deren Erbe heute von vielen Bischöfen beschworen wird, gar nichts zu
dieser Frage beiträgt. Ich erinnere nur an den in den lutherischen
Kirchen bis heute gebrauchten Ausspruch bei der Kindertaufe: "Wer
da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer da nicht
glaubet, der wird verdammet werden", der ganz auf der Linie
Martin Luthers liegt. Viele Schriften Luthers strotzen ja geradezu von
Ausfällen gegen Papisten, Ketzer, Türken und Juden. So ist z.B. in der
Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" aus dem Jahre 1543
zu lesen:
"Erstlich, daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer
anstecke, und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und
beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe
ewiglich. Und solches soll man tun unserem Herrn und der Christenheit
zu Ehren, damit Gott sehe, daß wir Christen seien und solch öffentlich
Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen
wissentlich nicht geduldet noch gewilligt haben... Zum anderen, daß
man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre... Zum
dritten, daß man ihnen nehme ihre Betbüchlein und Talmudisten, darin
solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird..."
usw. usw.
Im Luther-Gedenkjahr 1996 war darüber wenig zu hören.
Teil 4: Ertrag und Konsequenzen
Wir nahmen unseren Ausgangspunkt bei der Frage, ob - wie es im
Vorwort der revidierten Luther-Übersetzung steht - die Bibel allen
Menschen die gute Nachricht von Gottes Barmherzigkeit übermittelt. Die
Antwort darauf war brutal negativ, denn den abgeschlachteten
Kanaanäern des Alten und den verteufelten Juden des Neuen Testaments
wurde schwerlich die gute Nachricht von Gottes Barmherzigkeit zuteil.
Jenes hochgestelzte, kirchlich-dogmatische Diktum aus der Vorrede zur
Luther-Übersetzung war damit ein für allemal widerlegt und als das
entlarvt, was es eigentlich ist: eine erbauliche, beschwichtigende,
gedankenlose Floskel.
Dies ist (und war in der Geschichte) ja ein ganz wesentliches
Merkmal der von mir angewandten historischen Kritik, die
Auseinandersetzung mit der Dogmatik. Die historische Arbeit an der
Bibel reibt sich an theologischen Sätzen, deckt verborgene
Zusammenhänge auf, reißt den Schleier weg von der gar nicht so
heiligen Schrift und steht ganz auf den eigenen Beinen. Damit hat sie
deutlich eine antimetaphysische Spitze. Gott ist ihr kein Gegenstand
der Forschung, sondern immer nur die menschlichen Bilder von Gott.
Sie setzt sich ebenfalls von dem Verständnis einer Theologie ab,
die vornehmlich historisch-kritische Schriftauslegung ist und deren
Vertreter es regelmäßig ablehnen, schwerpunktmäßig auf die Geschichte
hinter den Texten zu sprechen zu kommen, in der die alttestamentliche
und neutestamentliche Verkündigung wurzelt. Auf diese Freilegung des
Grundes kommt es der historischen Kritik aber besonders an, denn sonst
bleibt alles nur an der Oberfläche.
Die historisch-kritische Methode grenzt sich weiter ab gegen eine
Forschungsrichtung, die historisch-kritische Arbeit mit einer
heilsgeschichtlichen Sicht verbinden will. So wird bis heute teilweise
vorausgesetzt, allein die heilsgeschichtliche Schau könne das
Verhältnis von Kirche und Israel zutreffend in den Blick bekommen.
Aber meistens läuft das darauf hinaus, eine heilsgeschichtliche
Kontinuität vorauszusetzen, eine Erfüllung des Alten Bundes in Christi
Werk. Das ist aber dann nur eine primitive Ersatztheorie. So kann man
es in der Tat noch heute bei vielen wissenschaftlichen Vertretern
einer solchen Theologie lesen: Die Ablehnung des Evangeliums durch
Israel als Volksgemeinde sei die entscheidende Wende seiner Geschichte
und letztlich sogar die Ursache der zweiten Tempelzerstörung im Jahre
70. Eine solche für alle Juden der Folgezeit niederschmetternde Sicht
ist doch nur ein dogmatisch-triumphalistisches Postulat christlicher
Theologie und keineswegs Ergebnis historischer Forschung.
Die historisch-kritische Arbeit setzt in ihrer Darstellung
israelitischer und urchristlicher Geschichte absichtlich unten an. Das
heißt, sie bemüht sich um eine Vermenschlichung der Geschichte Israels
und des Urchristentums, damit heutige Zeitgenossen sich in dem
gewaltigen Prozeß der Geschichte Israels und der ältesten
Christentumsgeschichte wiedererkennen können - in den Konflikten,
Ängsten, Sehnsüchten und Träumen der damaligen Menschen. Eine so
gehandhabte historisch-pragmatische Methode hat eine ungeheure
Vermenschlichung der Geschichte Israels und der Geschichte der Kirche
zur Folge. Sie ist gewissermaßen eine anthropologische
Geschichtsbetrachtung, die für die Geschichte Israels, aber auch für
die Geschichte der Kirche förmlich eine kopernikanische Wende
bedeutet. Denn fortan ist auch hier der Rückgang auf Gott oder seinen
Heiligen Geist oder den erhöhten Christus als übernatürliche Größen
unmöglich.
Den in diesem Zusammenhang oft zu hörenden Einwand, jede
Geschichtsschreibung habe ihre Voraussetzungen, und so setze die
theologische Geschichtsschreibung voraus, daß Gott, Christus oder der
Heilige Geist in den Geschichtslauf eingreife, halte ich schlicht für
empörend. Natürlich ist jede Geschichtsschreibung subjektiv gefärbt.
Doch ist daraus lediglich die Forderung abzuleiten, sich dieser
Voraussetzung mit dem Ziel einer möglichst objektiven Forschung bewußt
zu werden, nicht aber unter der Hand quasi zu einem deus ex machina
Zuflucht zu nehmen.
Für die innere Haltung des Erforschers der Geschichte Israels und
der Geschichte der Kirche im Zwiespalt zwischen kirchlicher
Gebundenheit und freier Wissenschaft gilt entsprechend, was Theodor
Storm über das Verhältnis von Glaube und Zweifel gesagt hat:
Der Glaube ist zum Ruhen gut,
Doch bringt er nicht von der Stelle,
Der Zweifel in ehrlicher Männerfaust,
Der sprengt die Pforten der Hölle.
Das Ganze mündet in die Forderung: Entheiligt und gereinigt von
allen theologischen Sonderbestimmungen und Erkenntnisprivilegien, in
reiner Weltlichkeit, ja in Ruchlosigkeit, soll der Prozeß der
Geschichte Israels und der Prozeß der Entstehung der Kirche verfolgt
werden. Wir müssen sie kennenlernen, wie sie wirklich waren, wir
werden sie kennenlernen.
(Hinweis: Die im Text nicht nachgewiesenen Zitate finden sich in
meinem Buch: Das Unheilige in der Heiligen Schrift. Die dunkle Seite der Bibel, 3. Aufl. 2004.)