Gerd Lüdemann's Homepage
Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 1999
Gespräch mit dem Bibelforscher Gerd Lüdemann
Professor Dr. Gerd Lüdemann (52) unterrichtet an der
Georg-August-Universität Göttingen das Fach "Geschichte und
Literatur des frühen Christentums". Bekannt geworden ist er durch
seine Kritik an der Kirche. Seiner Auffassung nach verpflichtet sie
ihre Pastoren auf Bekenntnisse, die sich wissenschaftlich nicht mehr
halten lassen.
Evangelische Kommentare: Herr Professor Lüdemann, im vergangenen
Jahr haben Sie sich vom christlichen Glauben losgesagt. Sie bezeichnen
sich öffentlich als Nicht-Christ. Haben Sie die Absage an Ihren alten
Glauben hin und wieder bereut?
Professor Dr. Gerd Lüdemann: Nein, allerdings habe ich mich
zwischenzeitlich gefragt, ob es klug war, diesen Schritt öffentlich zu
machen, weil er zu erheblichen finanziellen Einbußen für meine
Mitarbeiter geführt hat. Ich habe Drittmittelanträge nicht mehr
durchbekommen, und auch andere Finanzquellen sind mittlerweile
versiegt.
Kommentare: Wenn Sie Ihren Schritt nicht öffentlich gemacht
hätten, hätten Sie sich viel Ärger erspart.
Lüdemann: Ja, aber ich wollte nicht mit den anderen schweigenden
Fakultätskollegen die Frage nach der Wahrheit einfach aufgeben, nur um
meinen Status quo zu erhalten.
Kommentare: Gehen Sie davon aus, daß andere Ihrer Kollegen in der
gleichen Gewissensnot sind wie Sie, darüber aber nicht öffentlich
reden?
Lüdemann: Ja.
Kommentare: Ihre wissenschaftliche Arbeit hat Sie in einen
Konflikt mit der verfaßten Kirche geführt. Sind auch die damit
verbundenen Erlebnisse ausschlaggebend für Ihren Abschied vom
christlichen Glauben?
Lüdemann: Wenn mein Bischof, der hannoversche Landesbischof Horst
Hirschler, behauptet, ich legte es darauf an, sanktioniert zu werden
und er anschließend die öffentliche Diskussion ablehnt, hinterläßt das
schon Spuren. Erfahrungen wie diese haben mich in dem Eindruck
bestärkt, daß in der Kirche nicht mehr die Suche nach der Wahrheit im
Vordergrund steht. Es scheint eine weitverbreitete stillschweigende
Übereinkunft zu geben, die bestehenden Verhältnisse nicht
grundsätzlich infragezustellen.
Kommentare: Sie reden von Wahrheit, und scheinen dabei ein sehr
rationalistisches Verständnis zu haben. Müssen Sie nicht zugestehen,
daß dies nur einem Teil der Wirklichkeit gerecht wird?
Lüdemann: Ich weiß, daß es verschiedene Ebenen von Wirklichkeit
gibt. Das gestehe ich sofort zu. Mit Blick auf die biblischen Quellen
geht es aber zunächst einmal darum festzustellen, welche Aussagen in
ihnen wirklich gemacht werden.
Kommentare: Sie meinen, es geht um die Frage, ob das Grab voll
oder leer war?
Lüdemann: Ja, das ist der Kernpunkt. Wenn die biblischen Quellen
von der Auferstehung Jesu berichten, setzen sie einen wiederbelebten
Leichnam voraus. Hier wird Wahrheit nicht symbolisch verstanden,
sondern körperlich und historisch. Deswegen ist mein ursprünglicher
Versuch, das leere Grab symbolisch zu interpretieren, gescheitert. Wer
die Auferstehung Jesu nicht körperlich und historisch versteht, kann
sich nicht auf die biblischen Quellen berufen.
Kommentare: Sie sehen einen Widerspruch zwischen
wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Verkündigung. Wäre es da
nicht konsequent, wenn Sie sich auch offiziell von der Kirche
trennten?
Lüdemann: Es gibt zwei Gründe, warum ich nicht aus der Kirche
austrete. Der erste ist beruflicher Natur. Ich spreche hier fast wie
ein Gewerkschaftler, denn mein Kirchenaustritt würde nach geltendem
Recht dazu führen, daß ich meinen Lehrstuhl verliere. Das aber möchte
ich vermeiden. Zum zweiten aber erhalte ich eine große Unterstützung
von vielen Pfarrern. Mein Kirchenaustritt würde auf sie wie ein Schlag
ins Gesicht wirken.
Kommentare: Welche Gründe haben die Pfarrer, Sie zu unterstützen?
Lüdemann: Darüber kann ich nur spekulieren. Aber wie zum Beispiel
die jüngste Studie von Klaus-Peter Jörns zeigt, glauben auch die
Pfarrer längst nicht mehr alles, worauf sie ordiniert worden sind. Sie
haben aber keine Möglichkeit, ihre Zweifel vor der Gemeinde zu zeigen.
Vielleicht stelle ich stellvertretend für sie ihre Fragen an die
Kirche.
Kommentare: Sie beobachten demnach eine große Unaufrichtigkeit
zwischen dem, was viele in der Kirche glauben und dem, was die
offizielle Kirche nach außen darstellt?
Lüdemann: Ja, als ich noch in den kirchlichen Prüfungskommissionen
vertreten war, habe ich oft erlebt, daß man mit Oberlandeskirchenräten
beim Wein oder beim Kaffee locker über die menschliche Seite des
frühen Christentums sprechen konnte. Dabei spielten dogmatische Dinge
fast überhaupt keine Rolle. Problematisch wird es anscheinend erst
dann, wenn man als öffentliche Person Stellung bezieht. Ich weigere
mich aber mittlerweile, zwischen meinen Aussagen in der Öffentlichkeit
und im privaten Bereich zu unterscheiden. Ich halte mich nicht mehr an
die Spielregeln, die in der Kirche häufig gelten und werde deswegen
mit Sanktionen belegt.
Kommentare: Trotzdem müssen Sie doch zugestehen, daß Ihre
Weigerung, aus der Kirche auszutreten, inkonsequent ist.
Lüdemann: Ja, das sage ich auch ganz offen: Mein Verbleib in der
Kirche ist eine Frage der Taktik. Damit unterscheide ich mich aber
keineswegs vom Verhalten anderer Kollegen an unserer Fakultät.
Kommentare: Wie meinen Sie das?
Lüdemann: Mit als eine Konsequenz aus dem Streit um meine Person
hat die Fakultät die sogenannte Gieselersche Formel aus dem Jahr 1848
wieder bekräftigt. Darin wird die Verpflichtung ausgesprochen, die
theologischen Wissenschaften in Übereinstimmung mit den Grundsätzen
der evangelisch-lutherischen Kirche vorzutragen. Ich frage mich, wie
Kollegen die Gieselersche Formel sprechen können und gleichzeitig eine
symbolische Interpretation der Auferstehung vertreten, wenn die
Bekenntnisse doch von einer körperlichen Auferstehung ausgehen. Dieses
Vorgehen kann man auch als Taktik bezeichnen. Angesichts der Geltung
der Bekenntnisse kommt eigentlich keiner in der Kirche ohne Taktik
aus.
Kommentare: Auch der Bischof nicht?
Lüdemann: Auch Bischof Hirschler hat mir gegenüber einmal
eingeräumt, daß seiner Meinung nach das Grab voll war und das auch als
junger Pastor gepredigt hat. Wenn er nur einmal heute den Mut hätte,
das auch in der Öffentlichkeit zu sagen! In einem Brief an mich
bezeichnet er sich als Bultmann-Schüler. Auch Bultmann sagte, daß das
Grab voll war.
Kommentare: Vermutlich ist Bischof Hirschler aber der Auffassung,
daß es auf diese Frage eigentlich nicht ankommt, weil das Bekenntnis
der geistlichen Erfahrung der ersten Christen Ausdruck gibt, aber
keinen Anspruch auf Historizität erhebt.
Lüdemann: Das letztere bestreite ich entschieden. In jedem Fall
ist es doppelbödig, wenn man die Fakten zugunsten ihrer Deutung
auflöst.
Kommentare: Die dogmatischen Grundlagen der Kirche beruhen nun
einmal auf einer bestimmten Deutung der geschichtlichen Überlieferung.
Wenn Sie diese Deutung infrage stellen, stellen Sie die Grundlagen der
Kirche infrage. Müssen Sie deshalb nicht damit rechnen, daß die Kirche
empört reagiert?
Lüdemann: Das verstehe ich schon, aber ich finde es bedauerlich,
daß sich die Kirche nur auf bestimmte Traditionen beruft, andere aber
vernachlässigt; zum Beispiel den liberalen Protestantismus, oder auch
andere Formen des Christentums, wie etwa die Quäker, die keine
Bekenntnisse kennen. Die Kirche könnte sich ja ändern. Aber ich sehe
in ihr viele, die ein Interesse daran haben, daß die Kirche bleibt,
wie sie ist, weil auf diese Weise viele Vorteile - auch
gesamtgesellschaftlicher Art - gewahrt werden. Dafür werden selbst
Bibelverse instrumentalisiert.
Kommentare: Zum Beispiel?
Lüdemann: Zum Beispiel bei den Denkschriften oder dem Sozialwort
der evangelischen und katholischen Kirche. Bei diesen Dokumenten habe
ich den Eindruck, daß sie von gewieften Gesellschaftswissenschaftlern
geschrieben und nachträglich biblisch begründet werden. Auf diese
Weise wird die Bibel zu einem Steinbruch. Ich glaube, so kann die
Kirche nicht weitermachen. Einerseits vertritt sie die alten
Bekenntnisse, andererseits will sie völlig modern in einem säkularen
Staat mitarbeiten. Das kann nicht funktionieren.
Kommentare: In früheren Zeiten hätte man jemanden wie Sie als
Häretiker bezeichnet. Läßt sich der Begriff heute noch verwenden?
Lüdemann: Ich glaube nicht. Der Begriff Häretiker oder Ketzer hat
heute eigentlich keine Bedeutung mehr. In einer freien
Christengemeinde jedenfalls darf man den Begriff nicht gebrauchen.
Denn hier sollte jede Meinung akzeptiert werden, soweit sie den
anderen nicht bedroht oder beleidigt.
Kommentare: Aber es gibt in der Kirche doch eine verbindliche
Lehre von der man abweichen und insofern auch zum Häretiker werden
kann.
Lüdemann: Ich finde, die gibt es nicht. Und es muß sie meines
Erachtens auch nicht geben. Denn die Lehre ist eine Reflexion des
gelebten Glaubens. Die Kirche lebt aber nicht aus der
Rechtgläubigkeit, sondern aus Singen, Beten und dem Feiern des
Gottesdienstes. Religion kann auch ohne Theologie leben, die Theologie
aber nicht ohne Religion. Das ist die Reihenfolge.
Kommentare: Ihre anfechtbaren Auffassungen wirken sich vermutlich
stark auf das Klima innerhalb der theologischen Fakultät in Göttingen
aus. Wie verhalten sich Ihre Kollegen Ihnen gegenüber?
Lüdemann: Das Kollegium hat kürzlich mit fünfzehn Stimmen zu einer
dem Präsidenten der Universität empfohlen, mich aus der theologischen
Fakultät auszugliedern. Es gab vorher eine Stellungnahme am 22. April
1998, daß die Kollegen, im Unterschied zu mir, den christlichen
Glauben und die Wissenschaft von vornherein für vereinbar halten.
Hinter den Kulissen sieht es aber etwas anders aus. Da sichert mir der
eine oder andere durchaus Solidarität zu. Aber der Druck, den die
hannoversche Landeskirche auf die Fakultät ausübt, ist enorm. Ohne
diesen Druck wäre das Votum der Kollegen gegen mich wahrscheinlich
nicht zustande gekommen.
Kommentare: Kritik erfahren Sie nicht nur aus dem Bereich der
Kirche, sondern auch aus der Theologie. Bedenken gibt es vor allem
gegen Ihre wissenschaftlichen Methoden. Sie arbeiteten mit Mitteln des
vorigen Jahrhunderts, lautet der Vorwurf.
Lüdemann: Ich stehe in der Tradition Rudolf Bultmanns und verwende
die Methoden der Religionsgeschichtlichen Schule, deren Archiv ich
gegründet habe und leite. Insofern könnte man sagen, daß ich eine
konservative Methodik vertrete, weil ich die neueren Wendungen zum
Strukturalismus oder zur Linguistik nicht mitgemacht habe. Das heißt
aber nicht, daß ich ein Außenseiter in der Forschung wäre. Meiner
Beobachtung nach teilen die meisten Bibelforscher meinen methodischen
Ansatz.
Kommentare: In dem Interview, das wir vor dreieinhalb Jahren mit
Ihnen geführt haben und das der eigentliche Ausgangspunkt für die
Kontroverse um Ihre Person wurde, haben Sie den ordinierten Theologen
Heuchelei vorgeworfen. Bleiben Sie dabei, oder hat sich der Vorwurf
als zu pauschal herausgestellt?
Lüdemann: Ich habe nicht die Pastoren kritisiert, sondern die
Kirche, und zwar insofern, als die Pastoren auf etwas ordiniert
werden, was sie nicht glauben können. Das wird ja auch durch die
jüngste Untersuchung von Klaus-Peter Jörns bestätigt. Ich bin weiter
davon überzeugt, daß mein Vorwurf der Scheinheiligkeit gerechtfertigt
ist.
Kommentare: Heißt das, die Kirche hat Sie falsch interpretiert?
Lüdemann: Sie hat meine Bemerkungen als Verleumdung ihres
ordinierenden Handelns interpretiert und als Angriff auf die Pastoren.
Dabei will ich doch nur die Pastoren gegenüber der Kirche in Schutz
nehmen.
Kommentare: Müßten Sie dann nicht sogar die Theologiestudierenden
davor warnen, sich für ein kirchliches Amt ausbilden zu lassen?
Lüdemann: Das ist schon wahr, denn im Grunde stellt das Vorgehen
der wissenschaftlichen Theologen die Spitze der Heuchelei dar. Indem
sie den Studierenden die Ergebnisse der historisch-kritischen
Forschung vermitteln, nehmen sie ihnen den Glauben der Bekenntnisse,
den sie in ihrem kirchlichen Dienst vertreten sollen. Das ist das
Fatale.
Kommentare: Ihr Status an der theologischen Fakultät ist
umstritten. Wie sehen Sie ihren weiteren beruflichen Weg?
Lüdemann: In einem Brief vom 17. Dezember 1998 hat mir der
Präsident der Universität Göttingen mitgeteilt, daß ich mit einem
Sonderstatus in der theologischen Fakultät bleibe, und zwar als
Professor für "Geschichte und Literatur des frühen
Christentums". Ich betrachte diese Lösung als Teilsieg
meinerseits und als eine Bestätigung dafür, daß auch ein Nicht-Christ
Theologieprofessor sein kann. Das nämlich ist die Voraussetzung dafür,
daß es eines Tages theologische Fakultäten gibt, die nicht mehr nach
Konfessionen organisiert sind.
Kommentare: Der Entscheidung des Präsidenten ist das
Wissenschaftsministerium aber nur teilweise gefolgt. Minister
Oppermann hat jüngst deren vorläufigen Charakter betont. Weitere
Rechtsfragen sollen auf Wunsch der Konföderation der Evangelischen
Kirchen in Niedersachsen weiter geprüft werden. Außerdem dürfen Sie
auch keine Religionslehrer mehr ausbilden. Wie beurteilen Sie diese
Zuspitzung?
Lüdemann: Zunächst bin ich erleichtert, daß ich vorerst überhaupt
an der theologischen Fakultät verbleibe. Gleichzeitig aber bin ich
erschrocken, wie brutal die Konföderation vorgegangen ist. Ich bin nun
nämlich jeglicher Beteiligung an der akademischen Ausbildung beraubt.
Kommentare: Sie dürfen also in keinem Studiengang mehr Scheine
ausstellen und Prüfungen abnehmen?
Lüdemann: Ja, weder innerhalb der staatlichen theologischen
Diplomprüfung noch im Rahmen der Gymnasiallehrerausbildung im Fach
"Evangelische Religion". Das Fach soll an der Schule
offenbar wieder Katechismusunterricht werden. Mein einziges Vergehen,
für das ich abgestraft werde, ist ein historisches Ergebnis, das im
Widerspruch zu den Grundsätzen der evangelischen Kirche steht. Die
evangelische Kirche vertritt im Streit gegen mich eine erzkatholische
Position.
Kommentare: Inwiefern?
Lüdemann: Sie entspricht dem sogenannten Antimodernisteneid aus
dem Jahre 1910. Danach mußte jeder Professor und Priester schwören:
"Ich verwerfe den Irrtum jener, die behaupten, daß der von der
Kirche vorgetragene Glaube der Geschichte widerstreiten kann."
Ein solcher Eid aber kann nicht im Sinne der evangelischen Kirche
sein.
Mit Professor Dr. Gerd Lüdemann sprachen Michael Strauß und Götz
Planer-Friedrich am 28. Januar und 9. Februar in Göttingen.