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Theologie wohin?

Entweder eine kirchenfreie Wissenschaft oder gar keine

Von Gerd Lüdemann

Theologie und Kirche sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil unseres Staates mit einer soliden Absicherung selbst in unruhigen und von knapper Kasse bestimmten Zeiten. In Deutschland erheben die Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts Steuern von ihren Mitgliedern, die vom Staat eingezogen werden, und die theologischen Fakultäten sind durch Verträge zwischen Staat und Kirche geschützt. Das Grundgesetz (Art. 7, Abs. 3) sieht die Erteilung von Religionsunterricht "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften" vor. Doch die Dinge beginnen sich zu ändern. Die Plausibilität der christlichen Religion nimmt langsam aber sicher ab, und die theologischen Wissenschaften verspielen in Öffentlichkeit und Universität zunehmend den Kredit als akademische, staatlich bezahlte Disziplinen, auch wenn sie seit der Gründung der europäischen Universitäten im 13. Jahrhundert zum Fächerkanon der Wissenschaften gehören.

Dabei hat besonders die evangelische Theologie eine imponierende Leistung vorzuweisen und ist ein wichtiger Bestandteil deutscher Geistesgeschichte gewesen. Zu Anfang dies Jahrhunderts faßte Albert Schweitzer ihre Bedeutung so zusammen: "Wenn einst unsre Kultur als etwas Abgeschlossenes vor der Zukunft liegt, steht die deutsche Theologie als ein größtes und einzigartiges Ereignis in dem Geistesleben unsrer Zeit da." Schweitzer bezog sich mit dieser Bemerkung einmal auf die unbestechliche, in der Wahrhaftigkeit gegründete Erforschung der Quellen christlichen Glaubens, wie sie im Alten und Neuen Testament vorliegen. Sodann hatte er die von jeder neuen Generation unternommenen Versuche im Blick, die Botschaft der Bibel mit der jeweiligen Welt des Betrachters in eine ehrliche Beziehung zu setzen.

Man mag hinzufügen: Die so auf deutschen Lehrstühlen betriebene wissenschaftliche Theologie hat überall in der Universitätswelt, wo es theologische Fakultäten gab, Maßstäbe gesetzt, und zumindest bis Mitte dieses Jahrhunderts war Deutsch die Wissenschaftssprache internationaler Theologie. Worin ist die Kraft einer so betriebenen Theologie begründet? Wie geht sie vor?

Ihr Ansatz besteht erstens darin, die eigene Religion radikal historisch zu erforschen. Das führt in den meisten Fällen zu Ergebnissen, die diametral im Gegensatz zu Aussagen der Bibel stehen. So ist Jesus nicht von einer Jungfrau geboren worden, er wollte nicht für die Sünden der Menschen sterben, und er ist mit Sicherheit nicht aus dem Grabe gestiegen, wie es die Evangelien voraussetzen - nämlich leibhaftig.

Zweitens übt sie einen konsequenten Religionsvergleich und setzt das frühe Christentum zu anderen mit ihm gleichzeitigen Religionen in Beziehung. Das führt dann oft gegen den Anspruch der biblischen Verfasser zu einer Relativierung des christlichen Glaubens. So sind praktisch alle Lehren Jesu in der jüdischen Religion seiner Zeit nachzuweisen, angefangen vom Liebesgebot bis hin zu den Gleichnissen; und auch was das Neue Testament "Glauben" nennt, hat zahlreiche Entsprechungen außerhalb der frühen Kirche.

Drittens und viertens fließen in die theologische Arbeitsweise soziologische und psychologische Fragestellungen ein. Diese führen zu einem besseren Verstehen frühchristlicher Gemeinden und der in ihnen handelnden Personen. Jedoch ergibt sich auch hier ein deutlicher Unterschied zu dem von der Bibel gezeichneten Bild. Was sie in bezug auf die Gemeinde und in bezug auf Einzelpersonen "Erfüllt-Sein mit dem Heiligen Geist" nennt, war in Wirklichkeit eine Massenpsychose oder die Halluzination eines hocherregten Individuums. In jedem Fall handelte es sich um innerseelische Vorgänge und nicht um übernatürliche Eingaben, wie das kirchliche Dogma bis heute annimmt.

Theologische Wissenschaft bedeutet in den meisten Fällen eine Relativierung der Wahrheitsansprüche der christlichen Kirchen. Aber gleichzeitig besucht, in Deutschland bis heute, deren Nachwuchs zur wissenschaftlichen Vorbildung die staatlichen theologischen Fakultäten. Der hier vorliegende Konflikt zieht sich wie ein roter Faden durch die Theologiegeschichte der beiden letzten Jahrhunderte. Er wird von der heute herrschenden Theologie überwiegend so gelöst, daß sie sich als kirchliche Wissenschaft versteht. Der Wert einer Theologie wird dann danach bemessen, inwieweit sie der Kirche dient. Theologieprofessoren biegen die bohrende Kritik der wissenschaftlichen Methode einfach um und machen aus Lanzenspitzen quasi Halsketten. Das ist schön, aber nicht notwendig wahr. Denn Wissenschaft strebt Objektivität an und vermag schon deswegen niemals, vorweg, den Wahrheitsanspruch der Kirchen vorauszusetzen. Theologie kann überhaupt keine kirchliche Wissenschaft sein. Entweder ist sie freie Wissenschaft oder sie ist gar keine.

Aber auch angesichts einer veränderten gesellschaftlichen Situation darf Theologie sich nicht mehr klerikal verstehen. Sie sollte vielmehr in der Kultur der Gegenwart generell für Religion zuständig sein. Dabei ist ihre Aufgabe nicht auf die wissenschaftliche Vorbildung von künftigen Pfarrern und Religionslehrern zu beschränken - sie hätte auch alle mit Religion verflochtenen Berufsgänge in Religion einzuführen und darüber aufzuklären: Sozialarbeiter, Journalisten, Politiker, Bestatter, aber immer nur im Rahmen einer Religionskunde vom Katheder aus, niemals bekenntnishaft von der Kanzel.

Solange die Kirchen eng mit unserem Staat verflochten sind und an der Kultur der Gegenwart Anteil haben, spricht alles dafür, ihre künftigen Pfarrer weiter wissenschaftlich an der theologischen Fakultät vorzubilden. Sie erhalten dann die für ein Verstehen des christlichen Glaubens nötigen Vor-Kenntnisse. Ihre eigentliche Ausbildung würde erst nach dem Studium erfolgen, wenn sie von kirchlicher Seite in den Glauben an den Gottessohn eingeführt werden. Sein Reich ist bekanntlich nicht von dieser Welt. Demgegenüber bleibt das eigentliche Standbein der wissenschaftlichen Theologie diese Erde, wo sie, finanziert vom säkularen Staat, Religion als Funktion des menschlichen Geistes erforscht und lehrt. Für ihre Reifung und Fortentwicklung gilt uneingeschränkt das Wort des englischen Philosophen Bertrand Russell: "Selbst wenn uns die offenen Fenster der Wissenschaft nach der gemütlichen Wärme der traditionellen, vermenschlichenden Mythen zunächst vor Kälte erschauern lassen, so macht uns die frische Luft am Ende stark, und die unermeßlichen Weiten besitzen eine eigene Großartigkeit."

Der Verfasser ist Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen. Zuletzt publizierte er Der große Betrug und was Jesus wirklich sagte und tat.

Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 15.04.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 16.04.1999


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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