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Aktuelle Interviews und Presseberichte
Veröffentlichungen 1999
Entweder eine kirchenfreie Wissenschaft oder gar keine
Von Gerd Lüdemann
Theologie und Kirche sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil
unseres Staates mit einer soliden Absicherung selbst in unruhigen und
von knapper Kasse bestimmten Zeiten. In Deutschland erheben die
Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts Steuern von ihren
Mitgliedern, die vom Staat eingezogen werden, und die theologischen
Fakultäten sind durch Verträge zwischen Staat und Kirche geschützt.
Das Grundgesetz (Art. 7, Abs. 3) sieht die Erteilung von
Religionsunterricht "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der
Religionsgemeinschaften" vor. Doch die Dinge beginnen sich zu
ändern. Die Plausibilität der christlichen Religion nimmt langsam aber
sicher ab, und die theologischen Wissenschaften verspielen in
Öffentlichkeit und Universität zunehmend den Kredit als akademische,
staatlich bezahlte Disziplinen, auch wenn sie seit der Gründung der
europäischen Universitäten im 13. Jahrhundert zum Fächerkanon der
Wissenschaften gehören.
Dabei hat besonders die evangelische Theologie eine imponierende
Leistung vorzuweisen und ist ein wichtiger Bestandteil deutscher
Geistesgeschichte gewesen. Zu Anfang dies Jahrhunderts faßte Albert
Schweitzer ihre Bedeutung so zusammen: "Wenn einst unsre Kultur
als etwas Abgeschlossenes vor der Zukunft liegt, steht die deutsche
Theologie als ein größtes und einzigartiges Ereignis in dem
Geistesleben unsrer Zeit da." Schweitzer bezog sich mit dieser
Bemerkung einmal auf die unbestechliche, in der Wahrhaftigkeit
gegründete Erforschung der Quellen christlichen Glaubens, wie sie im
Alten und Neuen Testament vorliegen. Sodann hatte er die von jeder
neuen Generation unternommenen Versuche im Blick, die Botschaft der
Bibel mit der jeweiligen Welt des Betrachters in eine ehrliche
Beziehung zu setzen.
Man mag hinzufügen: Die so auf deutschen Lehrstühlen betriebene
wissenschaftliche Theologie hat überall in der Universitätswelt, wo es
theologische Fakultäten gab, Maßstäbe gesetzt, und zumindest bis Mitte
dieses Jahrhunderts war Deutsch die Wissenschaftssprache
internationaler Theologie. Worin ist die Kraft einer so betriebenen
Theologie begründet? Wie geht sie vor?
Ihr Ansatz besteht erstens darin, die eigene Religion radikal
historisch zu erforschen. Das führt in den meisten Fällen zu
Ergebnissen, die diametral im Gegensatz zu Aussagen der Bibel stehen.
So ist Jesus nicht von einer Jungfrau geboren worden, er wollte nicht
für die Sünden der Menschen sterben, und er ist mit Sicherheit nicht
aus dem Grabe gestiegen, wie es die Evangelien voraussetzen - nämlich
leibhaftig.
Zweitens übt sie einen konsequenten Religionsvergleich und setzt
das frühe Christentum zu anderen mit ihm gleichzeitigen Religionen in
Beziehung. Das führt dann oft gegen den Anspruch der biblischen
Verfasser zu einer Relativierung des christlichen Glaubens. So sind
praktisch alle Lehren Jesu in der jüdischen Religion seiner Zeit
nachzuweisen, angefangen vom Liebesgebot bis hin zu den Gleichnissen;
und auch was das Neue Testament "Glauben" nennt, hat
zahlreiche Entsprechungen außerhalb der frühen Kirche.
Drittens und viertens fließen in die theologische Arbeitsweise
soziologische und psychologische Fragestellungen ein. Diese führen zu
einem besseren Verstehen frühchristlicher Gemeinden und der in ihnen
handelnden Personen. Jedoch ergibt sich auch hier ein deutlicher
Unterschied zu dem von der Bibel gezeichneten Bild. Was sie in bezug
auf die Gemeinde und in bezug auf Einzelpersonen "Erfüllt-Sein
mit dem Heiligen Geist" nennt, war in Wirklichkeit eine
Massenpsychose oder die Halluzination eines hocherregten Individuums.
In jedem Fall handelte es sich um innerseelische Vorgänge und nicht um
übernatürliche Eingaben, wie das kirchliche Dogma bis heute annimmt.
Theologische Wissenschaft bedeutet in den meisten Fällen eine
Relativierung der Wahrheitsansprüche der christlichen Kirchen. Aber
gleichzeitig besucht, in Deutschland bis heute, deren Nachwuchs zur
wissenschaftlichen Vorbildung die staatlichen theologischen
Fakultäten. Der hier vorliegende Konflikt zieht sich wie ein roter
Faden durch die Theologiegeschichte der beiden letzten Jahrhunderte.
Er wird von der heute herrschenden Theologie überwiegend so gelöst,
daß sie sich als kirchliche Wissenschaft versteht. Der Wert einer
Theologie wird dann danach bemessen, inwieweit sie der Kirche dient.
Theologieprofessoren biegen die bohrende Kritik der wissenschaftlichen
Methode einfach um und machen aus Lanzenspitzen quasi Halsketten. Das
ist schön, aber nicht notwendig wahr. Denn Wissenschaft strebt
Objektivität an und vermag schon deswegen niemals, vorweg, den
Wahrheitsanspruch der Kirchen vorauszusetzen. Theologie kann überhaupt
keine kirchliche Wissenschaft sein. Entweder ist sie freie
Wissenschaft oder sie ist gar keine.
Aber auch angesichts einer veränderten gesellschaftlichen
Situation darf Theologie sich nicht mehr klerikal verstehen. Sie
sollte vielmehr in der Kultur der Gegenwart generell für Religion
zuständig sein. Dabei ist ihre Aufgabe nicht auf die wissenschaftliche
Vorbildung von künftigen Pfarrern und Religionslehrern zu beschränken
- sie hätte auch alle mit Religion verflochtenen Berufsgänge in
Religion einzuführen und darüber aufzuklären: Sozialarbeiter,
Journalisten, Politiker, Bestatter, aber immer nur im Rahmen einer
Religionskunde vom Katheder aus, niemals bekenntnishaft von der
Kanzel.
Solange die Kirchen eng mit unserem Staat verflochten sind und an
der Kultur der Gegenwart Anteil haben, spricht alles dafür, ihre
künftigen Pfarrer weiter wissenschaftlich an der theologischen
Fakultät vorzubilden. Sie erhalten dann die für ein Verstehen des
christlichen Glaubens nötigen Vor-Kenntnisse. Ihre eigentliche
Ausbildung würde erst nach dem Studium erfolgen, wenn sie von
kirchlicher Seite in den Glauben an den Gottessohn eingeführt werden.
Sein Reich ist bekanntlich nicht von dieser Welt. Demgegenüber bleibt
das eigentliche Standbein der wissenschaftlichen Theologie diese Erde,
wo sie, finanziert vom säkularen Staat, Religion als Funktion des
menschlichen Geistes erforscht und lehrt. Für ihre Reifung und
Fortentwicklung gilt uneingeschränkt das Wort des englischen
Philosophen Bertrand Russell: "Selbst wenn uns die offenen
Fenster der Wissenschaft nach der gemütlichen Wärme der
traditionellen, vermenschlichenden Mythen zunächst vor Kälte
erschauern lassen, so macht uns die frische Luft am Ende stark, und
die unermeßlichen Weiten besitzen eine eigene Großartigkeit."
Der Verfasser ist Professor für Neues Testament an der Universität
Göttingen. Zuletzt publizierte er Der große Betrug und was Jesus
wirklich sagte und tat.
Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 15.04.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 16.04.1999