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Die Agromyzidae sind phylogenetisch in drei große monophyletische Gruppen unterteilt, die auf der taxonomischen Rangstufe von Unterfamilien geführt werden (Xuan et al. 2023): Ophiomyiinae, Agromyzinae (sensu stricto) und Phytomyzinae (Abb. 1). Dies ist eine Erweiterung des bisherigen systematischen Konzepts, das Ophiomyiinae und Agromyzinae nicht unterschieden hat, sondern als eine gemeinsame Unterfamilie Agromyzinae (sensu lato) aufgefasst hat (siehe z. B. Papp & Cerny 2015). Dieses Konzept ist nach den Ergebnissen von Xuan et al. (2023) jedoch nicht haltbar, da die Agromyzidae (sensu lato) eine paraphyletische Gruppierung in Bezug auf die Phytomyzinae darstellen würden (siehe blauer Kasten in Abb. 1).
Subfamilia Ophiomyiinae
Die Systematik dieser Unterfamilie ist stark umstritten.
Allerdings deutet sich inzwischen eine Annäherung der
Ergebisse auf der Basis von morphologischen und
molekulargenetischen Untersuchungen an. Die
molekulargenetische Studie von Xuan et al. (2023) enthält
leider nur wenige Arten dieser artenreichen Gruppe, aber es
zeichnen sich wie in der morphologischen Studie von Lonsdale
(2014) zwei größere, deutlich getrennte Monophyla ab: das eine
ist die "Gattungsgruppe" um die Gattung Ophiomyia und das
zweite ist die Gattung Melanagromyza. Die Ergebnisse von
Scheffer et al. (2007) und Liang et al. (2023) scheinen dieser
Auffassung auf den ersten Blick zu widersprechen, da hier in
beiden Fällen Ophiomyia nicht monophyletisch dargestellt wird.
Bei genauem Hinsehen fällt jedoch auf, dass der "Außenseiter"
in beiden Fällen "Ophiomyia phaseoli" (plus eine nicht näher
bestimmte Art) ist. Bezeichnenderweise "hüpft" genau dieses
Taxon "phaseoli" seit den 1950er-Jahren je nach Autor zwischen
den Gattungen Ophiomyia und Melanagromyza hin und her; nun
scheint der Grund dafür gefunden: die Art steht basal in der
monophyletischen Gruppe um den Gattungstypus von
Melanagromyza. Korrigiert man also die falsche Zuordnung des
Artepithets phaseoli zur Gattung Ophiomyia, so gibt es also
auch in Liang et al. (2023) und in Scheffer et al. (2007) zwei
große Monophyla um Ophiomyia bzw. Melanagromyza (die Gruppe
"Ophiomyia 'B'" mit "Ophiomyia phaseoli" ist dann Teil von
Melanagromyza).
Melanagromyza wird allgemein im Rang einer Gattung anerkannt.
Problematisch ist jedoch das Monophylum um Ophiomyia. Hier
sind einige Taxa im Rang der Genus-group (im Sinne des
International Code of Zoological Nomenclature) beschrieben
worden, und es besteht Uneinigkeit darüber, wo die Grenzen
verlaufen. Die Studien von Scheffer et al. (2007) und Liang et
al. (2023) enthalten aus dieser großen Gruppe nur eine einzige
Typusart (nämlich "Agromyza nasuta", als Typus für
Siridomyza), und beide Studien können deshalb nicht bei der
Entscheidung helfen. Die Arbeit von Xuan et al. (2023) ist da
schon hilfreicher, denn sie enthält insgesamt 3
Genus-group-Typen: "Agromyza nasuta" als Typusart für
Siridomyza, "Agromyza aeneoventris" als Typusart für
Melanagromyza und "Agromyza maura" als Typusart für Ophiomyia.
Anhand des phylogenetischen Stammbaums in Xuan et al. (2023)
kann man also folgende Übersicht erstellen (Abb. 2).
Ich folge nach den Überlegungen in Abb. 2 deshalb der
Auffassung von Xuan et al. (2023), die die Ophiomyiinae in
vier Gattungen unterteilen. Die Nomenklatur der Gattungen ist
für zwei davon völlig klar, weil sie den Gattungstypus
enthalten: Ophiomyia und Melanagromyza. Bei den beiden anderen
Monophyla ist leider kein Genus-group-Typus in der Analyse
enthalten gewesen. Somit können diese beiden Monophyla, wenn
man es genau nimmt, mit diesen Ergebnissen noch nicht
nomenklatorisch benannt werden. Bei den Taxa "theae" und
"polyphyta" kann jedoch ziemlich sicher davon ausgegangen
werden, dass sie tatsächlich (wie von Xuan et al. (2023)
angenommen) die Gattung Tropicomyia repräsentieren, da die
beiden Artepitheta überwiegend mit dieser Gattung kombiniert
werden. Bei dem Monophylum, das von den Taxa "coprosmae" und
"schineri" gebildet wird, ist es schwieriger, weil sie je nach
Auffassung zur Gattung Hexomyza oder zur Gattung Euhexomyza
gestellt werden und es darüber einen erheblichen Disput gibt.
Von manchen Autoren wird Hexomyza mit Melanagromyza
synonymisiert, von anderen jedoch mit Ophiomyia. Und wieder
andere betrachten Hexomyza als separate Gattung. Der
Hauptstreitpunkt ist die Zugehörigkeit des Taxons
"sarothamni", welches die Typusart für Hexomyza ist. Die
Einbeziehung des Gattungstypus in die phylogenetische Analyse
könnte darüber also entscheiden: (1) wenn Hexomyza ein Synonym
von Melanagromyza ist, dann müsste das Taxon "sarothamni" in
der monophyletischen Gruppe um das Taxon "aeneoventris"
auftauchen; (2) wenn Hexomyza ein Synonym von Ophiomyia ist,
dann müsste das Taxon "sarothamni" im Monophylum um das Taxon
"maura" auftauchen; (3) wenn Hexomyza eine eigenständige
Gattung ist, dann müsste das Taxon "sarothamni" außerhalb der
Monophyla um "aeneoventris" und "maura" erscheinen, z. B. in
der Gruppe mit den Taxa "coprosmae" und "schineri".
Da jedoch die morphologische Analyse von Lonsdale (2014)
tatsächlich einen Teil der Ergebnisse von Xuan et al. (2023)
vorwegnimmt und damit zumindest teilweise bestätigt wird, gehe
ich hier deshalb davon aus, dass auch die übrigen Aspekte der
Analyse von Lonsdale (2014) korrekt sind: ich übernehme
deshalb die nomenklatorischen Änderungen, die Lonsdale (2014)
durch seine Änderungen am Status von Hexomyxa vornimmt.
Subfamilia Agromyzinae
Diese Unterfamilie besteht nach Xuan et al. (2023) im Prinzip
nur noch aus der Gattung Agromyza und deren basaler
Abzweigung, die als Gattung Japanagromyza gesondert abgetrennt
wird (Abb. 3). Obwohl die Studie von Xuan et al. (2023) weder
für Japanagromyza noch für Agromyza die Gattungstypen
enthielt, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass
die Monophyla in der Analyse korrekt benannt wurden. Ich
übernehme diese Aufteilung deshalb, wobei jedoch die Gattung
Japanagromyza in Deutschland nicht vorkommt und deshalb im
Rahmen der Zoographia Germaniae nicht weiter behandelt wird.
Subfamilia Phytomyzinae
Die Systematik dieser Unterfamilie ist heftig umstritten.
Hauptproblem ist die Gattung Phytomyza, die einen Großteil der
Arten enthält und von vielen Spezialisten für ein
"Sammelbecken" gehalten wird, das nach einer gründlichen
Revision in mehrere kleinere, monophyletische Einheiten
(Gattungen) aufgeteilt werden müsste. Aber auch die anderen
Gattungen sind teilweise umstritten, weil ihre Abgrenzung zu
anderen Gattungen und ihre Monophylie oft unklar ist. Winkler
et al. (2009a, 2009b) haben die molekulargenetischen
Verwandtschaftbeziehungen der Gattungen um Phytomyza genauer
untersucht und als Konsequenz die bisherigen Gattungen
Chromatomyia, Ptochomyza und Napomyza mit Phytomyza
synonymisiert. Dies ist vielfach scharf kritisiert worden,
weil dadurch die ohnehin schon kaum handhabbare Gattung
Phytomyza noch artenreicher wird und außerdem einige gut
etablierte Artnamen geändert werden müssen, um Homonymien zu
vermeiden. Lonsdale & Eiseman (2021) weisen aber natürlich
zurecht darauf hin, dass dies keine wissenschaftlichen Gründe
sind, um die Ergebnisse von Winkler et al. (2009a, 2009b)
abzulehnen. Die Gattung Chromatomyia ist in der Analyse
zweifelsohne polyphyletisch und kann damit in ihrem bisherigen
Umfang gar nicht beibehalten werden. Über die Gattungen
Napomyza und Ptochomyza könnte jedoch tatsächlich gestritten
werden, denn beide zweigen ganz basal im Stammbaum ab, und
könnten deshalb tatsächlich ursprüngliche Monophyla
darstellen. Leider helfen die bisherigen molekularbiologischen
Studien hier nicht weiter. In Winkler et al. (2009a) bilden
die Vertreter von Napomyza und Ptochomyza ein deutlich
abgesetztes Monophylum zusammen mit "Chromatomyia mimuli",
"Chromatomyia nr. castillejae" und "Chromatomyia scolopendri".
Diese drei Arten sind aber keine Gattungstypen von
Chromatomyia, deshalb kann es durchaus sein, dass sie in der
Gattung Chromatomyia fehlplatziert sind. Man hätte also dieses
Monophylum aus Ptochomyza, Napomyza und wenigen
fehlplatzierten "Chromatomyia" als gemeinsame Gattung unter
dem ältesten Namen Napomyza zusammenfassen können. Auch in der
Vorgängerarbeit Scheffer et al. 2007 deutet sich ein solches
"Monophylum Napomyza sensu lato" bereits an, und in der Studie
von Liang et al. (2023) bilden zumindest die untersuchten
"Napomyza"-Arten ebenfalls ein basales Monophylum. Allerdings
bilden dann in der Studie von Xuan et al. (2023) diverse
"Napomyza-Vertreter" und "Phytomyza mimuli" ein Paraphylum.
Offenbar sind sich hier also die Analysen über das genaue
Verzweigungsmuster leider immer noch nicht einig. Ich kann
deshalb die Argumentation von Lonsdale & Eiseman (2021)
gut nachvollziehen: es ist besser ein allumfassendes, aber
zweifellos monophyletisches "Monster"-Taxon Phytomyza zu
erschaffen und die innere Struktur dieses Riesengebildes dann
lieber mittels Untergattungen und Artengruppen zu
strukturieren, denn dann kann man die interne Struktur stets
nach den sich beständig ändernden phylogenetischen
Erkenntnissen neu strukturieren, ohne dass sich dauernd die
Binomen der Arten ändern müssen. Obwohl also die Studien
derzeit auch Alternativen zu einer Gattung "Phytomyza sensu
latissimo" zulassen (z. B. eine Gattung Napomyza
anzuerkennen), so schließe ich mich der Argumentation von
Winkler et al. (2009a) und Lonsdale & Eiseman (2021) an
und betrachte die Taxa Napomyza, Chromatomyia und Ptochomyza
als Synonyme von Phytomyza. In diese "Riesengattung" gehören
dann aber möglicherweise auch die Taxa Aulagromyza und
Gymnophytomyza: in der Analyse von Xuan et al. (2023) wirkt
Aulagromyza wie ein ganz eindeutiges Monophylum: allerdings
nur aus zwei Gründen: (1) die Autoren haben in der Analyse
eigenartigerweise auf diejenige Aulagromyza-Art verzichtet,
die in der Analyse von Winkler et al. (2009a) dazu geführt
hat, dass Aulagromyza polyphyletisch ist, nämlich Aulagromyza
tridentata; (2) die Autoren haben wiederum eigenartigerweise
auf Gymnophytomyza heteroneura verzichtet, obwohl diese Art
sowohl in Scheffer et al. (2007) als auch in Winkler et al.
(2009a) eng an einen Teil der Aulagromyza-Arten gebunden ist.
Ist Aulagromyza also wirklich monophyletisch?
Ein weiteres Problemfeld tut sich mit der Gattung
Phytoliriomyza auf. Diese Gattung ist in der Analyse von Xuan
et al. (2023) unzweifelhaft paraphyletisch und beeinträchtigt
damit auch die Gattungen Selachops, Metopomyza und Liriomyza:
nur wenn man diese 4 Gattungen unter dem ältesten Namen
Selachops vereinigen würde, käme wieder eine monophyletische
Gattung dabei heraus (oder man errichtet viele kleinere neue
monophyletische Gattungen). Problematisch ist auch hier
wieder, dass die Studie von Xuan et al. (2023) für
Phytoliriomyza den Gattungstypus nicht beinhaltet hat, so dass
momentan unklar ist, ob eine der Untergruppen der
paraphyletischen Phytoliriomyza als die "echten"
Phytoliriomyza benannt werden kann, und die übrigen Gruppen
könnten dann zu eigenen Gattungen erhoben werden. Da dieses
Problem derzeit meines Wissens nach völlig unbearbeitet ist,
behalte ich die Gattung Phytoliriomyza vorläufig bei, obwohl
sie ziemlich sicher ein Paraphylum ist. Das Taxon Galiomyza
war zuvor schon nicht sicher von Liriomyza zu trennen und ist
dann auch von Lonsdale (2017) mit Liriomyza synonymisiert
worden. Die einfachste Lösung wäre hier ebenso zu verfahren
wie bei der Gattung Phytomyza und diese Gattungen (die
paraphyletischen Phytoliriomyza, Selachops, Metopomyza und
Liriomyza (inkl. Galiomyza)) alle unter dem ältesten Synonym,
Selachops, zu vereinigen und dann die innere Struktur dieser
"Riesengattung" mit Untergattungen und Artengruppen zu
benennen, weil diese keine Veränderung des Binomens der
jeweiligen Arten erfordern. Den momentanen Stand der Gattungen
und deren phylogenetische Verwandtschaftsbeziehungen, wie sie
in der Zoographia Germaniae genutzt werden, gibt die Abb. 4
wieder.