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Paulus, der Gründer des Christentums
von Ekkehard W. Stegemann
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Gerd Lüdemann über Paulus
Das Interesse an den historischen Umständen der Entstehung des
Christentums ist neu erwacht. Eine Reihe von Studien - vor allem aus
der amerikanischen Forschung - wendet kulturwissenschaftliche Theorien
an, und zwar speziell, um die Ausdifferenzierung einer eigenständigen
Grösse namens Christentum gegenüber dem Judentum zu erfassen.
Verbunden damit ist eine Kritik an dem traditionellen
Erklärungsmuster, wonach das Christentum eine Tochterreligion des
Judentums sei. Dieses Paradigma wird entweder so modifiziert, dass man
ÆChristentumØ und ÆJudentumØ als Zwillingsgeburt beschreibt, deren
virtuell gemeinsame Mutter die biblische Religion sei. Oder es wird
die Mutter-Tochter-Metaphorik gänzlich aufgegeben - mit der Folge,
dass ÆJudentumØ und ÆChristentumØ als in den ersten drei Jahrhunderten
noch miteinander verschlungene und nicht klar voneinander abgrenzbare
Kulturen dargestellt werden.
In jedem Fall wird jedoch vorausgesetzt, dass die in den ersten
drei bis vier Jahrhunderten unserer Zeitrechnung geschichtswirksam
werdende Gestalt des rabbinischen Judentums und das im selben Zeitraum
sich etablierende Christentum religiös-kulturelle und soziale
Ausdifferenzierungen sind, die sich langwierigen und
ÆmultifaktoriellenØ Prozessen verdanken - und nicht einer einzigen,
etwa gar an einzelnen Gründungs- oder Stiftergestalten zu
identifizierenden Ursache.
Zu diesem neuen Diskurs über Anfänge des Christentums steht das
Buch des Göttinger Neutestamentlers Gerd Lüdemann quer. Es knüpft -
merkbar auch an der Dominanz der literarischen Gesprächspartner - an
die Diskussionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und deren
Konstruktionen historischer Modelle an und repetiert die wichtigste
ihrer Thesen, nämlich dass nicht Jesus von Nazareth der Stifter des
Christentums gewesen sei, sondern Paulus von Tarsus. Er sei der Æwahre
Gründer des ChristentumsØ, denn er habe, vermittelt freilich vor allem
durch Æbegabte SchülerØ, Ædie Bildung einer Kirche jenseits von
Judentum und Heidentum erkämpftØ. Jesu Religion und die seiner
Anhängerschaft in Jerusalem sei noch innerhalb des Judentums
verblieben, die ÆHellenistenØ, Griechisch sprechende Anhänger der
Jesus-Bewegung in der Diaspora, hätten sich zwar für ÆHeidenØ
geöffnet, seien aber, so Lüdemann, noch zu stark von Jerusalem
abhängig gewesen. Erst Paulus habe eine sichere Grundlage für eine
Æheidenchristliche KircheØ geschaffen, indem er der neuen Religion
eine ÆEinheit von Lehre und AutoritätØ gab.
Dies ist der Kern der Lüdemann'schen Thesen, und sie sind, wie
gesagt, nicht neu. Beigegeben sind ihnen einerseits ausführliche und
diskutable historische Rekonstruktionen, insbesondere die Chronologie
von Paulus' Leben und Wirken betreffend, seine Persönlichkeit und
seine Grundüberzeugungen, verbunden mit eingehenden Kommentaren zu
wichtigen Briefstellen. Andererseits fügt Lüdemann eine Abrechnung mit
Paulus (und dem Christentum) aus moderner Sicht hinzu, die mit der
Historisierung (Ædas meiste von Paulus gehört ins MuseumØ) zugleich
auch konstatiert, dass sein Wirken im Wesentlichen auf
ÆSelbsttäuschungØ beruhe. Wie die geläufige Christentumskritik, die
sich teilweise auch im 19. Jahrhundert schon mit einer Historisierung
verbunden hatte, meint Lüdemann mit seiner Forschung nun auch zu
Æeiner dringend nötigen Emanzipation von der christlichen
VergangenheitØ beigetragen zu haben: ÆEin sachgemässes Verständnis des
Paulus bedeutet somit, ein unerledigtes Kapitel der christlichen
Kirche und Kultur wenigstens ansatzweise abzuschliessen.Ø
Wenn es zum Mythos einer kulturell-religiösen Identitätsbildung in
der Antike gehört, dass sie sich von einem Ursprung in Zeit und Raum
herleitet, so zu den Legenden der Historiographie - auch Klio dichtet
bekanntlich - die Auffassung, alles wirksam Gewordene in der
Geschichte könne auf grosse Männer zurückgeführt werden. Doch wie jene
Gründungsmythen das Ergebnis eines kulturell-religiösen
Abgrenzungsprozesses idealisieren, so unterschätzen diese
(genieästhetischen) Historisierungslegenden den Einfluss
machtpolitischer und soziokultureller Transformationsprozesse. Weder
Jesus noch Paulus haben das Christentum gegründet - geschweige denn,
dass sie das beabsichtigt hätten. Es verdankt sich vielmehr dem
Prozess der Veralltäglichung charismatisch-apokalyptischer Bewegungen,
deren Teil Jesus und Paulus waren. Der Prozess spielte sich in einem
multikulturellen Milieu ab, in dem das Judentum und der Hellenismus
einander wechselseitig durchdrungen und den Boden für eine
ÆtransethnischeØ Identitätsbildung geschaffen hatten. Und diese wäre
paradoxerweise kaum sozial erfolgreich geworden, wenn sie nicht gegen
die römische Kriminalisierung der (jüdischen und nichtjüdischen)
Christus-Anhänger die Vision einer neuen, transzendenten Welt hätte
setzen können. Diese - nach Massgabe der Realität illusionären oder
zumindest irrationalen - Konzepte mobilisierten offenbar
Widerstandskräfte, die ironischerweise - anders, als die Verheissung
des nahen Endes es wollte - eine irdische Fortdauer ermöglichten.
Ekkehard W. Stegemann
Gerd Lüdemann: Paulus, der Gründer des Christentums. Verlag zu
Klampen, Lüneburg 2001. 250 S., Fr. 35.10.
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