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Bibliographie aller wissenschaftlichen Veröffentlichungen
Die gröbste Fälschung des Neuen Testaments
Fassung für "Aufklärung und Kritik" Gerd Lüdemann, Die
gröbste Fälschung des Neuen Testaments. Der Zweite
Thessalonicherbrief. Springe: zu Klampen Verlag 2010, ISBN
978-3-86674-090-7, 96 S., 12,80 Euro.
Über die Theologenschaft hinaus ist der Göttinger Neutestamentler
Gerd Lüdemann mittlerweile kein Unbekannter mehr. 1994 hatte er mit
einer profunden Studie über die "Auferstehung Jesu"
Schlagzeilen gemacht, in der er die von den meisten seiner
Fachkollegen stillschweigend geteilte Überzeugung aussprach, dass
Jesus lediglich in der Phantasie seiner Jünger auferstanden sei. Sein
lautes Denken versetzte die Theologenschar in Aufregung, die
evangelische Amtskirche betrieb daraufhin seine Enthebung vom
Lehrstuhl für Neues Testament. Gegen diese strengte Lüdemann eine
Verfassungsbeschwerde an, die schließlich 2008 vom
Bundesverfassungsgericht zwar angenommen, dann aber doch abgelehnt
wurde. Seit 1998 hat er den Lehrstuhl für "Geschichte und
Literatur des frühen Christentums" inne, den ihm die Göttinger
Hochschule als Ersatz einrichtete. Er darf jedoch nunmehr keine
Prüfungen mehr abnehmen. Zudem leitet er das Archiv der
"Religionsgeschichtlichen Schule" (gegr. 1987), deren
historisch-kritischer Arbeitsweise er sich verpflichtet weiß.
Diesem Ansatz bleibt Lüdemann auch in seiner neuen, kompakten
Abhandlung verpflichtet, in der er sich dem Problem der
neutestamentlichen Pseudepigraphie zuwendet. Sich weitgehend dem
Konsens der neueren Exegese anschließend, sieht er lediglich sieben
der 27 Dokumente des Neuen Testaments als echt an, drei
"vielleicht" als "echt", die weiteren bewegen sich
"zwischen Unechtheit und Anonymität" (S. 10). Zu den
anonymen Schriften zählen die vier Evangelien (verfasst um ca. 70 Ð
100 n.u.Z.), die ja bekanntlich im Wesentlichen das Bild der sog.
nachösterlichen Gemeinde vermitteln. Diese haben dem historischen
Jesus, der als Wanderradikaler das Reich Gottes zu Lebzeiten
erwartete, bekanntlich nachträglich Sprüche in den Mund gelegt und ihm
Wundertaten zugeschrieben, um ihn zum mythischen Christus und Kyrios
zu erheben.
Ähnlich verhält es sich schließlich mit den meisten der 21
Brieftexte. Neben den sieben echten Briefen des Apostels Paulus finden
sich darunter mehrere gefälschte Schreiben aus späterer Zeit (u. a.
sechs Epistel, die als Absender den Namen "Paulus" tragen
und von der kirchlichen Theologie als "Deuteropaulinen"
bezeichnet werden, oder den um ca. 120 entstandenen 2. Petrusbrief,
das jüngste Dokument der Bibel). Darin weisen sich Kirchenführer, die
keine Skrupel kannten, als namhafte Apostel früherer Tage aus, um mit
"autorisierter" Stimme kirchenpolitische Weichenstellungen
vorzunehmen. Dieser Betrug gelangte aufgrund der "Arglosigkeit
und Naivität christlicher Leser" nicht zur Aufdeckung (Marco
Frenschkowski, zit. nach Lüdemann, p. 12) (Einführung, p. 9-13).
Im ersten Hauptteil weist der humanistische Autor sodann nach,
dass auch in der Antike ein "klares Bewusstsein für geistiges
Eigentum" (so bereits im Vorwort, in: ebd., p. 5) bestand und
somit Plagiat wie Pseudepigraphie keineswegs akzeptabel waren. Dazu
beleuchtet er konzise das griechisch-römische Schulwesen und lässt
Autoren aus jener Zeit zu Wort kommen, besonders den berühmten Arzt
Galenos von Pergamon (ca. 130-216) und den Neuplatoniker Jamblichos
von Chalkis (ca. 245-320).Sodann kommt er auf die Beurteilung
derartiger biblischer Fälschungen seitens der kirchentreuen Theologie
zu sprechen. Noch immer apologetisch gesinnt, suchen deren Vertreter
jene zu rechtfertigen: Aus einem "Klima der
prophetisch-charismatischen Geistbegabung" (so Kurt Aland, in
ebd., p. 24) oder aus "ökumenischer Verantwortung"
entstanden, müsse die Pseudepigraphie als "gelungener Versuch der
Bewältigung zentraler Probleme der dritten urchristlichen
Generation" angesehen werden (so etwa Udo Schnelle, zit. nach
Lüdemann, p. 29f.). Und so könne auch eine "gefälschte
Schrift" [...] ein "guter und wahrhaftiger Zeuge des
Evangeliums" sein (Andreas Lindemann, zit. nach ebd., p. 25); ja
es sei sogar "die âLügeÕ [...] gerechtfertigt, um den wahren
Glauben zu schützen" (Ruben Zimmermann, zit. nach ebd., p. 32).
Lüdemann bezeichnet derartige Ansichten zu Recht als "geistliche
Schönfärberei" (Vorwort, p. 5) auf Kosten der historischen
Wahrheit - und mancher Leser wird sich über derartige Höhenflüge
kirchlich-theologischer Apologetik wohl verwundert die Augen reiben
(1. Teil, p. 15 Ð 50).
Im zweiten Hauptteil analysiert der Göttinger Theologe sodann die
"gröbste Fälschung im Neuen Testaments" (p. 51): den 2.
Brief an die Thessalonicher (um 100). Der unbekannte Verfasser, der
sich als Paulus ausgibt, suchte damit, so Lüdemann, den 1. Brief an
diese Gemeinde zu ersetzen, indem er diesen als Fälschung diffamierte
(2.Thess. 2,2). Vermutlich um 50 als frühestes Dokument des Neuen
Testaments entstanden, stammt letztgenanntes Schreiben jedoch
tatsächlich von Paulus von Tarsus, dem eigentlichen Gründer des
Christentums. Apokalyptisch motiviert, glaubte er fest daran, dass
noch zu seinen Lebzeiten das Reich Gottes anbrechen und Jesus Christus
als Richter der Menschen wiederkommen werde (vgl. bes. 1. Thess.,
4,13- 5,11: "Wir, die Lebenden, [...] [werden] entrückt werden in
Wolken dem Herrn entgegen" [4,17]).
Doch es kam bekanntlich anders. Der "Heidenapostel"
verstarb; seine Erwartung hatte sich als Illusion erwiesen. So verlor
auch die christliche Glaubensbewegung an Schwung. Es musste ein
anderes Bild der Zukunft an die Stelle der Naherwartung treten: Die
vielbeschworene Wiederkunft Christi wurde nunmehr besonders vom 2.
Thess. in eine unbestimmte, fernere Zukunft verschoben (vgl. 2. Thess.
2,2f.: "Lasst euch nicht gleich erschüttern [...], dass der Tag
des Herrn da [nahe] sei [...]. Denn [er wird nicht kommen], es sei
denn, dass zuerst der Abfall gekommen und der Mensch der
Gesetzlosigkeit [i.e. der "Antichrist"] offenbart worden
ist."
Auf diese Weise wurde ein fundamentaler Irrtum aufgelöst und in
den theologischen Begriff "Parusieverzögerung" [gr.
Parousia: Gegenwart, Erscheinung] verkleidet Ð womit man abermals
Menschen in die Irre führte (p. 88). Mit diesem
"Zurechtrücken" der Gegebenheit war auch der Weg zur
Amtskirche vorgezeichnet, die sich in der Welt mehr und mehr
einrichtete. Wer an dieser Anweisung zweifelt, so der 2. Thess., gilt
als Abtrünniger, wie ja überhaupt alle Menschen, die "dem
Evangelium [...] nicht gehorchen" als Strafe "ewiges
Verderben" erfahren werden (1,8f.).
Mit seiner Sichtweise schließt sich Lüdemann der zuvor unter
anderem von Andreas Lindemann vertretenen
"Ersetzungstheorie" an. Damit verwandt ist die
"Korrigierungstheorie" (so der Rezensent), die sich obigen
Ausführungen weitgehend anschließt, vom Autor jedoch nicht näher
ausgeführt wird (vgl. p. 56). (2. Teil: p. 51- 85).
Mit seinem anregenden Büchlein wirft der Göttinger Neutestamentler
aufs Neue die Frage nach der Glaubwürdigkeit der "Heiligen
Schrift" und nach der Wahrhaftigkeit von Kirche und Theologie
auf. Beides vermisst er, so dass er mit dem ernüchternden Urteil
abschließt: Die pseudepigraphischen Autoren "übten sich in der
Kunst heiligen Lügens". Dieser Betrug geschah zwar "in
höherer Absicht"; jene Autoren meinten, "Gott durch ihre
Lügen zu dienen" - jedoch haben "sie sich nur etwas
vorgemacht" (p. 87f.) ("Ergebnis": p. 87f.).
Bleibt zu hoffen, dass die kirchlichen Theologen, die noch immer
von der "Frohen Botschaft" und der "Ewigen Wahrheit des
Wortes Gottes" reden, ihre verstiegene Vorstellung von der
"Pseudepigraphie des guten Gewissens" (Gerd Theissen, zit.
nach ebd., p. 87) endlich aufgeben. Damit verbunden ist es auch schon
lange an der Zeit einzugestehen, dass der Mythos von Reich Gottes und
Wiederkunft Christi erst am Nimmerleinstag eintrifft.