Lingua Aegyptia

Lingua Aegyptia – Studia monographica 3

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Hieroglyphen Alphabete Schriftreformen
Studien zu Multiliteralismus, Schriftwechsel und Orthographieneuregelungen

edited by Dörte Borchers, Frank Kammerzell & Stefan Weninger

Lingua Aegyptia – Studia monographica 3, Göttingen 2001: Seminar für Ägyptologie und Koptologie, 
268 pages with figures, hardcover

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C O N T E N T S

  • Dörte Borchers, Frank Kammerzell & Stefan Weninger: Multiliteralismus: Schriften in Kontakt

    Keilschrift und Hieroglyphen

  • Gordon Whittaker: The Dawn of Writing and Phoneticism
  • Paola Cotticelli-Kurras: Die anatolischen Sprachen des zweiten Jahrtausends v. Chr.: ein Beispiel für Multiliteralismus
  • Michael P. Streck: Keilschrift und Alphabet [Dieser Artikel wurde mit dem Jonas C. Greenfield Prize for Younger Semitists der American Oriental Society ausgezeichnet.]

    Alphabete

  • Helmut Glück: Alphabetkonstruktion und orthoepischer Standard: eine Kausalbeziehung oder ein normativer Irrtum?
  • Frank Kammerzell: Die Entstehung der Alphabetreihe: Zum ägyptischen Ursprung der semitischen und westlichen Schriften
  • Sabira Ståhlberg & Dörte Borchers: Die mongolischen Schriften
  • Stefan Weninger: Zur Wiedergabe englischen Sprachmaterials im modernen Hocharabisch

    Orthographie- und Schriftreformen

  • Özgür Savaşçı: Die türkische Wende im Schriftgebrauch: Bemerkungen zur türkischen Schriftreform von 1928
  • Anneke Neijt: Reforms of Dutch Orthography
  • Christer Lindqvist: Die Heilige Schrift: Zur Irrationalität, Emotionalität und Angst in der Diskussion
    um die deutsche Orthographiereform
  • Otto Back: Rasmus Kristian Rask: Allgemeine Schreibkunst. Teil I aus der nachgelassenen Handschrift "Optegnelser til en Pasigraphie" (1823), aus dem Nachlaß herausgegeben und kommentiert von Otto Back


ABSTRACTS:

Bei den meisten Artikeln handelt es sich um die für den Druck überarbeiteten Fassungen von Vorträgen aus der 1996 anläßlich der 18. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft in Freiburg durchgeführten Arbeitsgruppe "Multiliteralismus: Fremde Schriften, Fremdes schreiben und Schriftwechsel".

Gordon Whittaker, der seinerzeit nicht an dem Workshop teilgenommen hatte, stellt eine neue Theorie zur Entstehung der sumerischen Keilschrift vor, die von außerordentlicher Bedeutung nicht allein für die späte Vorgeschichte des südmesopotamischen Raumes, sondern auch für die Herausbildung der indoeuropäischen Sprachgruppe ist. Seine Studien gehen von den weder als sumerisch noch als semitisch erklärbaren Bestandteilen früher Keilschrifttexte aus und belegen die These, daß bei dem Prozeß der Schriftentstehung eine frühindoeuropäische Sprechergemeinschaft (direkt oder mittelbar über eine weitere, unbekannte Sprache) beteiligt gewesen sei, die mehr als 1500 Jahre vor den ältesten bislang bekannten indoeuropäischen Sprachzeugnissen existierte. Besonders aufsehenerregend ist der Umstand, daß es dem Verfasser gelungen ist, eine Tafel aus dem späten 4. Jahrtausend vollständig auf der Basis des Indoeuropäischen zu interpretieren.

Paola Cotticelli-Kurras widmet sich dem anatolischen Raum des zweiten und frühen ersten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung. Dort treffen wir mit dem Hethitischen, dem (Keilschrift)Luwischen, dem Hurritischen, dem Akkadischen und dem Sumerischen nicht nur auf eine Anzahl teils verwandter, teils nicht verwandter Sprachen, für deren Verschriftung jeweils eine Form der mesopotamischen Keilschrift verwendet wurde, und auf intensive sprachliche und kulturelle Kontakte, als deren Folge eine Fülle mehrsprachiger und/oder mehrschriftiger Textdenkmäler entstanden ist, sondern können auch die Herausbildung eigenständiger Schriftsysteme - der luwischen Hieroglyphen und, etwas später der lykischen, lydischen und karischen Alphabete - beobachten. Anatolien gehört zu einem vom Niltal bis zum Kaukasus und von der Ägäis bis zum Zagros reichenden Großareal, dessen Teile für sich allein jeweils an der Peripherie eines Kontinents liegen, zusammen jedoch eine zentrale Kontakt- und Durchgangszone bilden, in der die Zivilisationsgeschichte seit vielen Jahrtausenden von der Interaktion (nordost-)afrikanischer, (südwest-)asiatischer und (südost-)europäischer Komponenten geprägt ist. Generell hat man den Eindruck, daß die Rolle, die kulturelle und sprachliche Kontakte gerade in dieser Region spielten, noch vielfach unterschätzt werden. Von einem übereinzelsprachlichen Standpunkt aus bemerkenswert erscheinen insbesondere die von P. Cotticelli-Kurras diskutierten Strategien zur Optimierung eines adaptierten Schriftsystems, die im Zusammenhang mit der sogenannten Sturtevantschen Regel angesprochen werden.

Michael Streck untersucht die Auswirkungen, die der Kontakt mit dem Aramäischen, einer durch ein Alphabet mit zweiundzwanzig Konsonantenzeichen verschrifteten Sprache, auf die Jahrtausende alte akkadische Schriftkultur im letzten Jahrtausend v. Chr. hatte. Während die akkadische Keilschrift, vereinfacht gesagt, Vokalphoneme gut repräsentieren kann, aber zum Teil erhebliche "Defizite" hinsichtlich der Darstellung der konsonantischer Phoneme aufweist, verhält es sich beim Aramäischen dieser Zeit genau umgekehrt: Vokale werden nur teilweise durch mehrdeutige Grapheme angedeutet, die Konsonanten jedoch konsistent dargestellt. Streck untersucht Strategien zur Optimierung der Konsonantendarstellung, die von akkadischen Schreibern angewandt werden, welche, wie aus verschiedenen Quellen deutlich wird, oft Seite an Seite mit ihren Aramäisch schreibenden Kollegen arbeiteten, und mit Sicherheit von diesen erst die Anregung für die genannten Adaptionen erhalten haben. 

Stefan Weninger präsentiert Beispiele für die Wiedergabe von englischen Namen und Begriffen in arabischer Schrift, die vor allem aktuellen arabischsprachigen Zeitungsberichten und Werbetexten entstammen. Die Grundlage für die graphemsprachliche Repräsentation bildet dabei normalerweise nicht die ausgangssprachliche Schreibung, sondern die englische Aussprache der Wörter. Die fremdsprachigen Elemente werden entweder gar nicht oder durchgängig mit Langvokalgraphemen "vokalisiert". Das bringt es mit sich, daß die arabischen Graphemsequenzen nur von denjenigen vollständig und richtig lautlich interpretiert werden können, die die Wörter und ihre Aussprache bereits kennen.

Die Nutzung der lateinischen und kyrillischen Schriftarten als Basisalphabete für die Erst- oder Neuverschriftung vor allem osteuropäischer Sprachen wird von Helmut Glück beschrieben. Insbesondere die im Bereich einiger Sprachen auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion innerhalb kurzer Zeit mehrfach erfolgten Schriftwechsel illustrieren, daß die Wahl eines Basisalphabets für die Neuverschriftung in der Regel nicht linguistisch motiviert ist, sondern von außersprachlichen (politischen, ökonomischen, religions- und kulturpolitischen) Faktoren bestimmt wird. Auffällig ist der Umstand, daß schon in vorstrukturalistischen Zeiten die Konstrukteure von Phonogramminventaren ihrer Arbeit regelmäßig segmental-phonologische Modelle zugrundelegten und sich um möglichst einfache Phonem-Graphem-Korrespondenzen bemühten.

Überlegungen zur Herausbildung der semitischen und westlichen Alphabete und ihre Beziehung zur ägyptischen Hieroglyphenschrift enthält der Beitrag von Frank Kammerzell. Den Ausgangspunkt bilden Quellen, die bezeugen, daß spätestens zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends in Ägypten eine konventionelle, nach artikulatorischen Kriterien geordnete Konsonantenreihe existierte, die auffällige Übereinstimmungen mit der Reihenfolge der Buchstaben in den verschiedenen semitischen Alphabeten aufweist.

Sabira Ståhlberg und Dörte Borchers behandeln die Verschriftung der mongolischen Sprachen seit dem dreizehnten Jahrhundert. Nicht allein wegen der enormen Häufigkeit stattgefundener Schriftwechsel stellt diese Sprachgruppe ein ideales Beispiel zur Illustration möglicher Szenarien bei der Adaption mehrerer Schriften durch eine Sprachgemeinschaft dar, sondern vor allem aufgrund des Umstands, daß für die Schreibung mongolischer Sprachen Schriftsysteme übernommen und modifiziert wurden, die grundverschiedene Schrifttypen repräsentieren. Daraus ergibt sich auch eine willkommene Untermauerung der von H. Glück vorgetragenen These, daß die Wahl eines Basisalphabets in den meisten Fällen von Schriftadaptionen extralinguistisch motiviert war und gewöhnlich wenig mit strukturellen Eigenschaften des zu übernehmenden Ausgangssystems und der betroffenen Sprachen zu tun hatte.

Vor dem Hintergrund der Kontroversen um die Reform der deutschen Orthographie, die während der letzten Jahre in der öffentlichen Diskussion einen breiten Raum einnahmen, kommt den drei Beiträgen über moderne Schriftreformen eine besondere Aktualität zu.

Die von Özgür Savaşçı vorgelegte Chronik der Ereignisse um den Schriftwechsel des Jahres 1928 in der Türkei bildet eine aufschlußreiche Kontrastfolie für die Einschätzung der derzeitigen Vorgänge in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Geschwindigkeit und die Radikalität, mit der die von Mustafa Kemal Atatürk initiierte und durchgesetzte Ablösung der arabisch-osmanischen Schrift durch das lateinbasierte türkische Alphabet vonstatten ging, läßt manche der gegenwärtigen Diskussionen um die Reformierung der deutschen Orthographie wie einen Sturm im Wasserglas erscheinen und macht einmal mehr deutlich, daß viel stärker als der tatsächliche Grad und Umfang der vorgesehenen Veränderungen kollektive Befindlichkeiten, kulturpolitische Standpunkte, aber auch ökonomische Interessen für die von Akzeptanz oder Nichtakzeptanz geprägte Haltung gegenüber einer geplanten Schriftreform verantwortlich sind.

Anneke Neijt beleuchtet vor dem Hintergrund der niederländischen Orthographiereformen von 1954 und 1995, an deren Ausgestaltung sie selbst maßgeblich mit beteiligt war, mögliche Strategien im Umgang mit Fremdwörtern. In Sprachen, die sich - anders als beispielsweise das Russische - nicht durch eine generelle Tendenz zur orthographischen Integration von Fremdwörtern auszeichnen und zunächst an weitgehend der Originalgraphie der Ausgangssprache entsprechenden Schreibungen festhalten, bieten sich zwei Verfahren an, um der irgendwann erfolgten lexikalische Integration auch orthographisch Rechnung zu tragen. Die fremde Graphie kann entweder ganz abgeschafft und durch eine stärker an die einheimische Rechtschreibung angepaßte Graphie abgelöst werden, oder man führt eine einheimische Schreibung als zulässige Variante zur ursprünglichen Form ein. 

Christer Lindqvist zieht eine Verbindungslinie von den auch jetzt wieder im deutschsprachigen Raum zu beobachtenden und oft von Irrationalismen und Emotionsgeladenheit geprägten ablehnenden Haltungen gegenüber Orthographiereformen zu einer in vielen Sprachgemeinschaften gängigen Anschauung, nach der Schrift nicht einfach ein profanes Kommunikationsmittel darstellt, sondern seine Verwendung in religiösen und magischen Kontexten zu einer Sakralisierung des Mediums selbst geführt hat.

Bei dem Kern des letzten Artikels handelt es sich um ein Dokument aus den frühen Tagen der modernen Sprachwissenschaft, die von Otto Back besorgte Erstedition von Teilen eines nachgelassenen Manuskripts Optegnelser til en Pasigraphie von der Hand des dänischen Sprachforschers Rasmus Kristian Rask (1787-1832). Diese Abhandlung, in der eine allgemeine, für die meisten seinerzeit bekannten Sprachen verwendbare Lautschrift entworfen wird, stellt einerseits inhaltlich einen idealen Abschluß dar, und andererseits wird man nur schwer eine zweite Person finden, deren Lebenswerk und Interessenschwerpunkte ähnlich vielfältige Bezugspunkte wie die Rasks zu dem weitgefächerten Spektrum des vorliegenden Bands aufweisen. Er war nicht allein einer der Pioniere der Vergleichenden Sprachwissenschaft und Begründer der Skandinavischen Philologie, und nicht nur entschiedener Verfechter einer - viel später in etlichen Punkten realisierten - Reform der dänischen Orthographie, sondern beschäftigte sich auch intensiv mit außereuropäischen Sprachen (unter anderem dem Arabischen, Armenischen, Persischen, Avestischen, Sanskrit, Pali, Singhalesischen und Dravidischen) und orientalischen Schriftsystemen (vor allem den Alphabeten indoiranischer Sprachen und der Keilschrift).