Gerd Lüdemann's Homepage
Zur Person
In eigener Sache
UND LESERBRIEFE VON HANS STRAUSS UND EBERHARD BUSCH
IM WÜRGEGRIFF DER KIRCHE
MUß EIN THEOLOGE CHRIST SEIN? DER FALL LÜDEMANN - EIN EXEMPEL
CHRISTOPH TÜRCKE
DIE ZEIT Nr.41 vom 1.10.98
Gerd Lüdemann soll die Theologische Fakultät Göttingen verlassen,
weil er nicht mehr an Sühnetod und göttliche Herkunft Jesu glaubt.
"Eine Wissenschaft vom christlichen Glauben ist sowenig
christlich wie die Wissenschaft vom Verbrechen verbrecherisch",
schrieb der Theologe Oskar Pfister 1923. Würden sich die deutschen
Theologischen Fakultäten dieser Einsicht öffnen, müßten sie schließen.
Aber sie brauchen nicht, denn sie sind gesetzlich geschützt. Besondere
Verträge mit dem Staat garantieren den christlichen Kirchen
konfessionellen Religionsunterricht an staatlichen Schulen und
konfessionelle Theologie an staatlichen Universitäten. Wer nicht
katholisch oder evangelisch getauft ist und die entsprechende
Kirchensteuer zahlt, darf Religionsunterricht nicht erteilen; wer
Theologieprofessor werden will, braucht zudem ein positives Gutachten
der zuständigen Diözese oder Landeskirche.
Und die Kirchen tun, als sei das das Selbstverständlichste von der
Welt. War's nicht immer so? Verdankt sich die europäische Universität
nicht gar dem Christentum? Wohl wahr. Als im 12. und 13. Jahrhundert
die Universitäten von Bologna und Paris von sich reden machten, da
wurde der fortgeschrittenste Stand des Wissens von Theologen
vorgetragen, da war die theologische Fakultät die höchste. Allerdings
war da auch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft zugleich
Zwangsmitgliedschaft in der allein seligmachenden Kirche und das
Abweichen von ihrer Lehre ein Kapitalverbrechen.
Diese Zeiten sind vorbei. Das Christentum ist nicht mehr der
kulturelle Leim einer ganzen Gesellschaft, sondern nur noch ein
Ferment darin. Ein Menschenrecht namens Religionsfreiheit hat sich
durchgesetzt. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert ist es von Freigeistern,
Aufklärern, Bürger- und Arbeitervereinen mühsam erkämpft worden -
gegen erbitterten kirchlichen Widerstand. Seit aber die kirchliche
Macht nicht mehr ausreicht, es zu verhindern, gehören die Kirchen zu
denen, die es am lautesten für sich reklamieren. Wir wollen nur das
Recht, unsern Glauben praktizieren zu dürfen wie jede andere
Religionsgemeinschaft auch, beteuern sie. Doch wenn sie
"Recht" sagen, meinen sie "Vorrecht". Eintreibung
der Kirchensteuer durch den Staat, christlicher Religionsunterricht
als reguläres Schulfach, konfessionsgebundene Theologie im gleichen
wissenschaftlichen Rang an der Universität wie Physik, Mathematik oder
Soziologie: all das, was in unserm Kulturkreis sämtlichen andern
Glaubensgemeinschaften im Namen der Religionsfreiheit verwehrt wird
und was die Großkirchen nur dürfen, weil sie es früher durften, als
sie für das Menschenrecht der Religionsfreiheit noch der größte
Hemmschuh waren, das soll ihnen selbstverständlich bleiben.
Von Zeit zu Zeit regt sich öffentliche Empörung dagegen, wie in
Deutschland zuletzt im Fall Küngs, jenes katholischen Theologen, der
die Unfehlbarkeit des Papstes angezweifelt, ein abweichendes
Verständnis von Christsein entfaltet hatte und nach vielem Hin und Her
die kirchliche Lehrbefugnis entzogen bekam. Als halbwegs aufgeklärter
Zeitgenosse schüttelte man damals den Kopf über die Engstirnigkeit der
obersten Glaubensaufsichtsbehörde in Rom.. Daß Küng, als er die
Tübinger Fakultät der Katholischen Theologie verlassen mußte, dem
Rektor der Universität direkt unterstellt wurde, sein eigenes Institut
und alle akademischen Ehren bekam, nahm man als gerechten Ausgleich
und moralischen Sieg einer weltoffeneren Theologie.
Nun haben die evangelischen Kirchen, die sich damals am
öffentlichen Kopfschütteln kräftig beteiligten, ihren eigenen Fall,
und dessen Stachel geht tiefer. Gerd Lüdemann, 1983 als ordentlicher
Professor für Neues Testament an die Evangelisch-Theologische Fakultät
der Universität Göttingen mit voller kirchlicher Zustimmung berufen,
ist im Laufe des letzten Jahrzehnts durch seine wissenschaftliche
Arbeit, die sogenannte historisch-kritische Bibelforschung, zu
unerwarteten Ergebnissen gekommen. Die zahllosen Unstimmigkeiten und
Unredlichkeiten, die ihm in den biblischen Texten aufstießen, haben
ihn nach und nach davon überzeugt, daß weder Jesus auferstanden noch
die Bibel göttliches Wort sei. Daraus hat er die Konsequenz gezogen:
Sein Buch "Der große Betrug" (zu Klampen Verlag, 1998), das
aus der Spreu der vielen Jesus untergeschobenen Bibelworte die wenigen
herausarbeitet, die er mit gewisser Wahrscheinlichkeit so oder ähnlich
gesagt haben könnte, hat einen spektakulären Auftakt. Es beginnt mit
einem Abschiedsbrief an den "Herrn Jesus": nimmt Abschied
von allem, was das Christentum diesem Jesus nachträglich angehängt
hat: seinem Sühnetod für unsere Sünden, seiner Gottessohnschaft,
Auferstehung und rettenden Wiederkunft. Damit war das Maß voll. War
Lüdemann schon die kirchliche Prüfungserlaubnis entzogen worden, als
er Jesu Auferstehung bestritt, so verlangten nun seine Göttinger
Fakultätskollegen in einer gemeinsamen Erklärung seinen Austritt aus
der Theologischen Fakultät. Ein Nichtchrist könne nicht weiterhin
Theologieprofessor sein. Die Konföderation Evangelischer Kirchen in
Niedersachsen griff diese Forderung auf und teilte Lüdemann Mitte Juli
schriftlich mit, das kirchliche Gutachten für seine Berufung nach
Göttingen müsse "mit allen Konsequenzen zurückgenommen werden.
Diese Rücknahme muß nach unserer Auffassung dazu führen, daß Sie die
Theologische Fakultät verlassen." Professor dürfe er gerne
bleiben, aber nicht für Theologie. Man gab Lüdemann sechs Wochen Zeit
zu einer Stellungnahme, aber schon nach zwei Wochen vermeldete der
Evangelische Pressedienst (epd) eine "Einigung" zwischen dem
Ministerium für Wissenschaft und Kultur und den Evangelischen
Landeskirchen: An der Göttinger Fakultät solle für "Ersatz im
Fach Neues Testament" gesorgt werden. Lüdemann freilich denkt
nicht daran, seinen Lehrstuhl zu räumen, und er tritt auch nicht aus
der Kirche aus, weil die ihn dann nach geltender Rechtslage sofort aus
der Fakultät entfernen könnte. "Ich will an der Theologischen
Fakultät nur weiter tun dürfen, was ich bei meiner Habilitation
versprochen habe: der Wissenschaft dienen und die akademische Jugend
im Geist der Wahrheit erziehen", heißt es in seiner Stellungnahme
vom August 1998 an die Konföderation, und sein neuestes Buch "Im
Würgeggriff der Kirche" (zu Klampen Verlag, 1998) ist der
ausführliche Kommentar dazu: ein Manifest "Für die Freiheit der
theologischen Wissenschaft".
Es wurmt die Protestanten schon lange, daß ihr Vertrag mit dem
Staat nicht so straff ausgefallen ist wie der katholische. Die
Katholiken haben besser vorgesorgt: rechtsverbindlich festschreiben
lassen, daß das kirchliche Gutachten für einen vom Glauben abfallenden
Theologieprofessor jederzeit zurückgenommen werden kann, derjenige
dann die Fakultät verlassen und das zuständige Ministerium Ersatz
schaffen muß. Das hat der evangelische Staatsvertrag versäumt.
"Eine nachträgliche Beanstandung kennt das Vertragsrecht für die
evangelische Kirche nicht. Dementsprechend sind Abhilfe oder
Ersatzgestellungspflichten für den Staat nicht vorgesehen", räumt
der Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche
in Deutschland, Axel von Campenhausen, in seinem Standardwerk
Staatskirchenrecht ein und legt das so aus: "Aus der fehlenden
Regelung in den Verträgen folgen weder der Ausschluß einer kirchlichen
Beanstandung noch deren Unbeachtlichkeit. Die Lehrverantwortung ist
auch für die evangelische Kirche unverzichtbar." Daher könne ihr
"ein nachträgliches Beanstandungsrecht [...] von Seiten des
Staates nicht versagt werden". Das wird man sehen. Vorerst ist
nur das kirchliche Gutachten für Lüdemann zurückgenommen. Der
offizielle Antrag auf seine Entfernung aus der Theologischen Fakultät
ist noch nicht formuliert. Erst wenn er vorliegt, heißt es im
Ministerium, werde man prüfen, ob Lüdemann auch gegen seinen Willen in
eine andere Fakultät umgesetzt werden könne. Aber schon vorher hat die
Landesregierung bemerkenswerte Konzessionen gemacht: "Zwischen
Universität, Ministerium und Kirchen wurde jetzt eine Regelung
entwickelt, nach der freiwerdende andere Lehrstühle im Fachbereich
Theologie jeweils auf Zeit mit einem Lehrbefähigten für das Fach Neues
Testament besetzt werden." Zudem "könnte im Jahr 2002 eine
C4-Professur aus einem anderen Fachbereich an die Theologie
gehen", berichtet epd.
Die Kirche nimmt das als feste Zusage. Sie ist in der Offensive.
Sie hat Fakten geschaffen. Sie hat Lüdemann die kirchliche
Prüfungserlaubnis entzogen, sie erkennt bei ihm gemachte
Seminarscheine nicht mehr an. Also ist ein ordnungsgemäßes Studium bei
ihm nicht mehr möglich, folgert die Fakultät, reklamiert den
faktischen Ausfall einer ganzen Professur und verlangt vom Ministerium
Ersatz, denn dem obliegt ja die Gewährleistung der ordnungsgemäßen
Lehre. Und das Ministerium erkennt an, daß hier ein Ausfall vorliegt,
auf den es reagieren muß. Es macht sich die kirchliche Sicht, daß
Lüdemanns Lehre das Prädikat "theologisch" nicht mehr
verdient, zu eigen. Es ergreift theologisch Partei, wo es doch allein
über die Rechtslage zu urteilen hat, nach der Lüdemann mit voller
theologischer Lehrkapazität seiner Fakultät zur Verfügung steht.
Mit andern Worten: Es gibt seine Religionsneutralität preis. Ob
das noch verfassungsgemäß ist, wäre ebenso eine juristische Klärung
wert wie die Frage, ob diese Sonderbehandlung der Theologischen
Fakultät mit der gesamtuniversitären Fürsorgepflicht des Staates
vereinbar ist. Denn eine weitere Stelle für die Theologie bedeutet
natürlich einen Stellenabzug in einem anderen Fachbereich.
Der Kirche freilich ist das längst nicht genug. Sie hat
angekündigt, alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen, um Lüdemann aus
der Fakultät entfernen zu lassen. Und wenn ihr das gelingt, ist der
Präzedenzfall da und seine einschüchternde Wirkung nicht zu
unterschätzen. Dann darf die evangelische Kirche ebenso wie die
katholische entscheiden, welche Universitätstheologie
konfessionskonform ist. Auch so kann man die Ökumene voranbringen.
Daß die Kirche, statt kleinlaut ihre aus vorbürgerlicher Zeit
geretteten Sonderrechte zu genießen, bis die Begradigung der
europäischen Rechtsverhältnisse zu ihr vorstößt, hier derart Druck
ausüben kann, ohne sogleich heftigsten öffentlichen Gegendruck zu
bekommen: das ist vielleicht das Irritierendste am Fall Lüdemann.
Offenbar bedient sie da ein tiefsitzendes altes Denkmuster, das sich
ähnlich in die moderne Gesellschaft hinübergestohlen hat wie manche
Kirchenprivilegien, sogar im Bewußtsein von Atheisten und
Indifferenten fortlebt und sich etwa so formulieren läßt: Von
Theologie mag man halten, was man will; aber zur Theologieprofessur
gehört das Christsein ebenso wie zum Kreis die Rundung. Diesen
Konsens, der weit über die Kirchen hinausreicht, hat Lüdemann
aufgekündigt. Deshalb fliegen ihm die Herzen auch nicht so zu wie
Küng, der den Gemeinplatz, das Christentum müsse zeitgemäß und
weltoffen werden, so intelligent auszufüllen wußte, daß er noch zu
Lebzeiten als moderner Musterchrist in die Kirchengeschichte
eingegangen ist. Lüdemann aber will gar kein Christ mehr sein, und
prompt schnappt, als sei es ein konditionierter Reflex, die Frage ein,
warum er dann noch Theologieprofessor bleiben wolle. Ja, ist denn
immer noch nicht klar, daß die staatliche Universität nicht mehr
christlich und die Theologische Fakultät keine kirchliche Hochschule
ist? Kirchliche Hochschulen können ihren Wissenschaftsstandard
jederzeit auf Glaubensniveau senken. Sie dürfen ihre Dozenten genauso
auf ein bestimmtes Glaubensbekenntnis verpflichten wie Banken ihre
Angestellten auf Schlips und Kragen. Aber von einer staatlichen
Universität das gleiche zu verlangen, nämlich daß auch an ihr die
Wissenschaft vom christlichen Glauben selbstredend christgläubig sein
müsse, ist ungefähr so, wie zu fordern, daß Musikwissenschaft auf dem
Klavier vorgetragen oder Sportwissenschaft vorgeturnt wird. Eine
solche Wissenschaft können sich die Kirchen in Deutschland nur
leisten, weil ein Staatsvertrag sie schützt, und um sich die Blöße
einer solchen Wissenschaft nicht zu geben, wird andernorts die
Wissenschaft vom Christentum als das geführt, was sie ist: Teil einer
allgemeinen Religionswissenschaft. Eine saubere Lösung, die im übrigen
die religionswissenschaftlichen Fakultäten nicht hindern muß, die
Einrichtung des einen oder andern konfessionell theologischen
Lehrstuhls zu gestatten, wenn die Kirchen ihn finanzieren. Warum nicht
großzügig sein? Daß diese Lösung nicht längst selbstverständlich ist:
das zeigt, was für ein Ausfall an demokratischem Rechtsbewußtsein an
der Schnittstelle von Theologie und Gesellschaft nach wie vor
herrscht. In seinem Schatten gedeihen die Verträge von Kirche und
Staat. Es wird Zeit, eine Grundlektion in demokratischem
Rechtsbewußtsein nachzuholen und öffentlich zu fragen, wes Geistes
Kind diese Verträge sind. Der Menschenrechte? Der Verfassung? Was ist
das für eine Gemeinschaft von Gläubigen, die das Evangelium predigt,
das uns von aller Selbstgerechtigkeit und der Macht des Gesetzes
befreien soll, und sich an jeden greifbaren Buchstaben des Gesetzes
klammert, wenn es um den Erhalt ihrer Sonderrechte geht? Und was tut
ein Staat, der da mitspielt? Die Europäische Union wirft solche Fragen
mit neuer Dringlichkeit auf, und die Vereinheitlichung des
europäischen Universitätsrechts wäre der ideale Zeitpunkt, sie durch
ein juristisches Großreinemachen zu beantworten.
Christoph Türcke ist Theologe und Professor für Philosophie an der
Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig
NUR WER GLAUBT, KANN AUCH LEHREN
DER FALL LÜDEMANN IST KEIN EXEMPEL - EINE REPLIK AUF CHRISTOPH
TÜRCKE/ VON WOLFGANG HUBER
DIE ZEIT NR. 44 VOM 22. OKTOBER 1998
WEIL ER NICHT AN DIE AUFERSTEHUNG JESU GLAUBT, SOLL DER GÖTTINGER
PROFESSOR GERD LÜDEMANN SEINEN LEHRSTUHL FÜR THEOLOGIE RÄUMEN. DAGEGEN
PROTESTIERTE CHRISTOPH TÜRCKE VOR DREI WOCHEN AN DIESER STELLE
("IM WÜRGEGRIFF DER KIRCHE", ZEIT NR. 41/98). IHM ANTWORTET
WOLFGANG HUBER, BISCHOF DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN
BERLIN-BRANDENBURG.
Die europäische Einigung kann man zu Verschiedenem nutzen. Von
Christoph Türcke stammt der – keineswegs neue – Vorschlag
eines juristischen Großreinemachens. Den Fall des Göttinger Theologen
Gerd Lüdemann nimmt er zum Exempel. Er findet es unerträglich, daß ein
Theologe, der dem Glauben für sich selbst abgeschworen hat, nicht mehr
Pfarrerinnen und Pfarrer ausbilden soll. Das will er ändern; dafür
geht er in die vollen.
Damit so etwas nicht mehr vorkommt, will er das Universitätsrecht
europäisieren. Und im gleichen Aufwasch soll alles abgeschafft werden,
was er für Privilegien der Kirchen hält: staatlicher
Kirchensteuereinzug, christlicher Religionsunterricht, Theologie an
der Universität.
Was der Theologe Christoph Türcke von solchen Veränderungen
erhofft, läßt sich nur ahnen. Doch die Gründe, die gegen seinen
Vorschlag sprechen, lassen sich deutlich benennen. Der erste Grund ist
europapolitischer Natur, der zweite hat mit der Religionsfreiheit, der
dritte mit der Redlichkeit zu tun.
Die europäische Einigung zum Anlaß dazu zu nehmen, nicht nur die
Stellung der Universitäten, sondern zugleich auch die Stellung der
Religion im Gemeinwesen zu vereinheitlichen, ist falscher Unitarismus.
Europa kann nur gelingen, wenn es sich föderal entwickelt. Die
Bedeutung dieses Grundsatzes für die Stellung von Religion und Kirche
hat die Europäische Union ausdrücklich anerkannt. Deshalb heißt es im
Amsterdamer Vertrag vom 2. Oktober 1997: "Die Europäische Union
achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder
Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften
genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet
den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher
Weise."
Damit ist klargestellt: Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und
die Anerkennung ihrer öffentlichen Stellung werden durch die
europäische Einigung nicht beeinträchtigt. Nichts nötigt dazu, die
französische Form einer antiklerikalen Trennung von Staat und Kirche
zum Maß aller Dinge zu machen. In Frankreich erklärt sich diese
Entwicklung aus der jahrhundertelangen Vorherrschaft der katholischen
Kirche. Das System der laicitÇ wurde auf diesem Hintergrund auch von
vielen französischen Christen als historischer Fortschritt gewürdigt;
seine inneren Probleme lassen sich gleichwohl nicht übersehen.
Die deutschen Entwicklung dagegen – auch sie alles andere
als problemfrei! – ist durch den mühsamen Weg vom
konfessionellen Konflikt zur religiösen Pluralität geprägt. Daß diese
Pluralität eine öffentlich anerkannte Stellung der Kirchen und anderer
Religionsgemeinschaften nicht unmöglich macht, sondern geradezu
provoziert, gehört zu den unaufgebbaren Resultaten. Auch die
Erfahrungen mit zwei deutschen Diktaturen haben den
Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen ins entsprechende Lichte gerückt.
Kirchensteuer, Religionsunterricht, die Zugehörigkeit der Theologie
zur Universität, die Stellung der Kirchen als Körperschaften des
öffentlichen Rechts haben auf diesem Hintergrund ihr eigenes Gewicht.
Die Unterstellung, die beiden großen Kirchen wollten anderen
Religionsgemeinschaften Vergleichbares vorenthalten, trifft nicht zu.
Daß Religionsfreiheit immer auch die Freiheit der Andersglaubenden
ist, hat sich vielmehr herumgesprochen.
Manche halten es für modern, Religionsfreiheit nicht mehr als
Freiheit zur Religion, sondern nur noch als Freiheit von der Religion
zu verstehen. Dafür berufen sie sich auf Freigeister und Aufklärer,
denen man die neuzeitliche Durchsetzung der Religionsfreiheit zu
verdanken meint. Mit der historischen Wirklichkeit hat das nur wenig
zu tun. Denn nicht Ungläubige, sondern Gläubige waren in der frühen
Neuzeit die wirksamsten Verfechter der Religionsfreiheit. Daß sie sich
durchsetzte, ist christlichen Minderheiten zu verdanken, die ihren
Glauben leben wollten, ohne von der jeweils herrschenden Kirchenpartei
daran gehindert zu werden. Um der religiösen Minderheiten willen wurde
die Religionsfreiheit proklamiert, nicht um der Glaubenslosigkeit
willen. Kein Zweifel: Auch wer ohne Religion leben will, genießt den
Schutz der Religionsfreiheit. Doch darin allein ihr Wesen zu sehen ist
verfehlt. Es geht nicht nur um Freiheit von der Religion, sondern auch
zur Religion. Weder hat die negative Religionsfreiheit einen Vorrang
vor der positiven noch umgekehrt. Freiheit ist Freiheit. Niemand wird
übrigens in seiner negativen Religionsfreiheit dadurch beeinträchtigt,
daß die Kirchen von ihren Mitgliedern Steuern erheben und dafür gegen
entsprechende Bezahlung die Verwaltungshilfe des Staates in Anspruch
nehmen. Vom Religionsunterricht, an dem niemand gegen den eigenen
Willen oder denjenige der Erziehungsberechtigten teilnimmt, und von
der Theologie, die niemand gegen eigenes Widerstreben studieren muß,
gilt das gleiche. Wer mit gegenteiligen Argumenten die
Religionsfreiheit gegen angebliche Vorrechte der Kirchen in Stellung
bringt, baut eine Scheinalternative auf. Vielleicht aber verfolgt er
auch nur das Ziel, die Handlungsmöglichkeiten der Kirchen zu
schmälern. Mit der Religionsfreiheit hat das nichts zu tun.
Damit sind wir schließlich beim Problem der Redlichkeit. Man nehme
an, jemand habe den Beruf des Theologen ergriffen, weil ihm die
"Rede von Gott" wichtig ist. Nach langwierigen Studien
genügt es ihm nicht, nur selbst von Gott zu reden; er will auch andere
darin unterrichten. Deshalb macht er sich die theologische Forschung
und die Ausbildung künftiger Pfarrerinnen und Pfarrer zur
Lebensaufgabe. Unglücklicherweise wird er an dieser Aufgabe irre. Er
versteift sich darauf, Pfarrerinnen und Pfarrer lebten schizophren;
denn sie verpflichteten sich auf Bekenntnisse, denen sie gar nicht
zustimmen könnten. Schließlich sagt er dem Glauben ab, den zu wecken
er ursprünglich als seine Aufgabe ansah.
Ein bedauernswertes Schicksal, mag man denken. Das ist es auch in
den meisten Ländern der Welt. Doch in Deutschland kann der Betreffende
Staatsbeamter auf Lebenszeit bleiben. Nur damit, daß er weiter
Pfarrerinnen und Pfarrer ausbildet, die er doch für schizophrene
Gestalten hält, hat es ein Ende. Daß er zwar dem Glauben abgeschworen,
aber die Kirchenmitgliedschaft beibehalten hat, ändert daran nicht.
Denn ausbilden kann man sinnvollerweise nur die Berufe, die auszuüben
man für sinnvoll hält. Das gilt für Medizin, Jurisprudenz und Chemie
genauso wie für Theologie, Pädagogik oder Betriebswirtschaft. Daß
Professoren und Professorinnen ein konfessionsgebundenes Amt ausüben,
steht mit der Wissenschaftsfreiheit keineswegs im Widerspruch; es
ergibt sich einfach aus ihrer Aufgabe.
Natürlich kann eine Nichtchrist die Quellen des christlichen
Glaubens erforschen. Und wenn er das gut macht, kann er des damit
sogar zu einer Professur für Religionsgeschichte oder für klassische
Philologie bringen. Professor für christliche Theologie kann er auf
diesem Weg nicht werden; daran ist nichts diskriminierend. Wenn einer
als Christ Theologieprofessor wurde und eines Tages meint, er könne
nicht mehr Christ sein, ist es nur konsequent, wenn er auch nicht
Theologieprofessor bleibt. In Deutschland bleibt er trotzdem Professor
auf Lebenszeit mit Pensionsanspruch. Nur in der Theologischen Fakultät
bleibt er nicht; und er bildet nicht länger Leute aus, von deren Beruf
er ohnedies nichts hält.
Den Fall des evangelischen Theologen Gerd Lüdemann in Göttingen
mit dem des katholischen Theologen Hans Küng in Tübingen auf eine
Stufe zu stellen ist abwegig. Hans Küng wollt immer katholisch
bleiben. Wer seine Vorschläge zum "Projekt Weltethos" liest,
kann nur bestätigen, daß ihm das gelungen ist. Wenn das katholische
Lehramt an seiner Glaubenstreue zweifelte, war das eher ein Problem
des Lehramts als ein Problem von Hans Küng. Kaum war Küng emeritiert,
kamen Versuche der Versöhnung in Gang - honi soit qui mal y pense.
Der Fall Lüdemann liegt völlig anders. Da kündigt jemand Sinn und
Zweck seiner Berufstätigkeit auf; aber an seinem Beruf will er
gleichwohl festhalten. Da erklärt jemand den Glauben für nonsense;
aber er will weiter Menschen dafür ausbilden, diesen nonsense zu
verkündigen. Da desavouiert jemand den Berufsstand der Theologen in
Bausch und Bogen; aber lassen will er von diesem Berufsstand nicht. Da
sagt sich jemand vom Glauben los; aber um der beruflichen Bestätigung
willen bleibt er Mitglied in der entsprechenden Glaubensgemeinschaft.
Was sich in Göttingen abgespielt hat, ist ein Problem von Gerd
Lüdemann. Die Religionsfreiheit steht hier so wenig auf dem Spiel wie
die Wissenschaftsfreiheit. Da hat Gerd Lüdemann sich selbst im
Würgegriff; mit einem "Würgegriff der Kirche" hat das nichts
zu tun.
PROF. DR. HANS STRAUSS
DIE ZEIT NR. 44 VOM 22. OKTOBER 1998
Zu Christoph Türcke: "Im Würgegriff der Kirche"
Kern aller evangelischen Einwände gegen Gerd Lüdemann ist nicht
dessen persönlicher Glaube oder Unglaube, sondern daß er mit
wissenschaftlich längst überholten, aus dem 19. Jahrhundert immer
wieder aufgewärmten Kategorien und Wahrheitskriterien sogenannte
historisch-kritische Auslegung der biblischen Texte betreibt und damit
inzwischen bestenfalls zum religiösen Anthropologen geworden ist.
Sollen die Begriffe der universitären Disziplinen überhaupt noch einen
Sinn machen, so ist er genausowenig Theologe mehr, wie ein Quacksalber
Arzt, ein Henkersknecht Jurist oder ein Pädophiler Pädagoge bleiben
kann.
Der Artikel stellt eine wenig sachkundige, eher polemische
Verzerrung der Sachgrundlage gelegentlich im Stil der Sensationspresse
dar, sofern es nicht als schlecht verhüllte Reklame für Lüdemanns
letzten beiden Elaborate dienen soll. Denn solche immer noch
enthüllenden Pseudomärtyrerwerke mit garantiertem Unterhalts- und
Pensionsanspruch des Autors gehen nicht mehr so gut.
Prof. Dr. Hans Strauss, Bonn
PROF. EBERHARD BUSCH, DEKAN DER THEOLOGISCHEN FAKULTÄT GÖTTINGEN
DIE ZEIT NR. 48 VOM 19. NOVEMBER 1998
Zu: Christoph Türcke: "Im Würgegriff der Kirche"
Die Göttinger Fakultätskollegen haben nicht den Austritt von Gerd
Lüdemann aus ihren Reihen "verlangt". Sie haben
festgestellt, daß er sich, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen,
außerhalb der Aufgabe einer evangelischen Theologie gestellt hat.
Unsere Fakultät hat beim Ministerium auch keinen Ersatz für die Stelle
Lüdemanns "verlangt". Es hat von sich aus eine
Parallelstelle im Neuen Testament eingerichtet. Diese Stelle bedeutet
auch keinen "Stellenabzug in einem anderen Fachbereich".
Nachdem Herr Lüdemann diese Maßnahme in der Presse als
"Ohrfeige" gegen die Kirche ausgegeben hat, interpretiert
Herr Türcke sie nun als eine Kungelei zwischen Ministerium und Kirche.
Tatsächlich hat das Ministerium vorrangig für eine sachgerechte
Wahrnehmung des von ihr eingerichteten Lehrstuhls gesorgt. Ferner hat
die lutherische Kirche Herrn Lüdemann nicht die
"Prüfungserlaubnis entzogen"; sie hat ihn nicht weiter zu
Prüfungen eingeladen, nicht weil er kirchliche Dogmen kritisiert
hätte, sondern weil er das kirchliche Prüfungswesen als Heuchelei
abgelehnt hat. Mit seinen Behauptungen will Herr Türcke einen neuen
Fall Galilei konstruieren, in dem "erzürnte Dogmatiker"
einen Märtyrer schaffen, "weil er nicht mehr an Sühnetod und
göttliche Herkunft Jesu glaubt". Das stellt die Dinge auf den
Kopf. Herr Lüdemann ist und bleibt im Amt und Brot, was ihm niemand
streitig macht. Unsere Fakultät ist auch keine Glaubenskongregation.
Ein nichttheologisches Glied des Göttinger Professoriums brauchte ein
passendes Gleichnis: Sollte ein Chirurg zu der Einsicht kommen, daß
nicht nur diese oder jene Operationsmethode, sondern das Operieren als
solches Unfug ist, so kann er, wenn er es mit seiner Wahrhaftigkeit
ernst nimmt, nicht mehr Chirurg sein, und es wäre ein Mißverständnis
von "Menschenrechten", nur darum auf den Verbleib in der
Chirurgengilde zu pochen, um auch die anderen zu Nichtchirurgen zu
machen.
Die durch Herrn Lüdemann gestellte Frage ist die, ob die
evangelische Theologie eine selbständige wissenschaftliche Aufgabe
hat. Unser frei lehrendes Kollegium bejaht einmütig diese Frage. Herr
Lüdemann verneint sie. Unser Kollegium hat Respekt vor seiner
Überzeugung. Aber es ist zugleich "einmütig" der Meinung,
daß er damit den Grundkonsens unserer theologischen Fakultät verlassen
hat. Das ist doch keine Bestrafung. Das ist die Feststellung eines
Sachverhalts. Manche denken jetzt an den Fall des einstigen Göttinger
Gelehrten Wellhausen, der eines Tages die Verantwortung für die
Vertretung einer evangelischen Theologie nicht mehr mittragen zu
können glaubte und der dann mit der inneren Wahrhaftigkeit gegen sich
selbst dergestalt ernst machte, daß er in allen Ehren in die
philosophische Fakultät wechselte.
Prof. Eberhard Busch, Dekan der Theologischen Fakultät Göttingen
Anmerkung:
Ich sage es noch einmal. Nicht habe ich das kirchliche
Prüfungswesen als Heuchelei abgelehnt, sondern habe es als
scheinheilig bezeichnet, dass die Kirche künftige Geistliche auf etwas
ordiniert, nämlich die Bekenntnisschriften, obwohl die
Ungeschichtlichkeit von Jungfrauengeburt und Auferstehung Jesu zu dem
Grundlagenwissen der neutestamentlichen Zunft gehört. Daraufhin wurde
ich, wie Bischof Hirschlers Beitrag ("Wir wollen kein
Lehrverfahren") zeigt, nicht mehr zu den kirchlichen Prüfungen
eingeladen. Die von Dekan Busch aufgestellte Behauptung wurde nie
zurückgenommen, obwohl sie unwahr ist und von mir mehrfach öffentlich
zurückgewiesen wurde.
Gerd Lüdemann.