Kapitel 7
Spracherwerb
Aufgabe 1
Es gibt viele Unterschiede im Detail (z.B. kann ein Erwachsener eine sehr persönliche und bewusste Motivation haben, und es kann große Unterschiede in der sprachlichen Umgebung und der Art des Inputs geben), aber zentral sind die folgenden Aspekte:
a. ein Erwachsener verfügt schon über eine Sprache, d.h. über ein sprachliches System und über sprachliche Erfahrungen;
b. ein Kind erwirbt Sprache mit Hilfe einer angeborenen Spracherwerbsfähigkeit, über die ein Erwachsener nicht mehr (im gleichen Umfang) verfügt.
Aufgabe 2
Die Formen, die Hilde produziert, sind kanonische Formen. Alle Wörter sind ein- oder zweisilbig (mit Ausnahme von kikiki). Zunächst bevorzugt Hilde bei den Zweisilbern Reduplikationen von Silben (mama, putput) oder Folgen von zwei Silben, die sich nur im Vokal unterscheiden (didda, puppe). Die Wortstrukturen werden allmählich zielsprachlicher und damit die Silbenkombinationen variabler (änte, bildä). Die ersten hier dokumentierten Silbenstrukturen sind CV-Silben. Das gilt bis zum 15. Monat (Ausnahme: hilde). Erst ab dem 16. Monat treten geschlossene Silben (CVC) auf. Konsonantencluster aus zwei oder mehr Konsonanten kommen noch nicht vor.
Sichere Schlüsse über den Input kann man aus diesen Beispielen nicht ziehen. Es fällt aber auf, dass Tiere häufig lautmalerisch benannt sind (wauwau, muh, pip-pip, kikiki, gagack). Diese Art von Tiernamen werden häufig von Erwachsenen an kleine Kinder „herangetragen“. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass solche Wörter vom Kind selbst „erfunden“ werden.
Aufgabe 3
Die erste Verwendung von wauwau ist eine Unterdehnung. Das Wort wird wie ein Eigenname nur auf ein einziges Objekt bezogen. Die Erweiterung des Bezugs auf Stoffkatze und Gummihund ist eine Überdehnung (wauwau bezeichnet Spielzeugtiere) und zugleich eine Unterdehnung (wauwau wird zunächst noch nicht für lebende Hunde verwendet). In der Folge wird der Bezug von wauwau ausgedehnt auf immer mehr Objekte, die in die Kategorie „Hund“ gehören, also mit Hund oder wauwau zielsprachlich bezeichnet werden. Eine Überdehnung auf andere Kategorien (Katze oder Vierbeiner o.ä.) ist nicht dokumentiert.
Aufgabe 4
zutraulich: Hier liegt der zweite Typ vor (s. S. 271), d.h. das Wort gibt es, es wird aber vom Kind neu und mit neuer Bedeutung gebildet. Die angestrebte Bedeutung würde eher das WB-Suffix –bar fordern (zutraubar). Das –lich-Bildungsmuster, das hier verwendet wird, ist aber möglich (z.B. in löslich), obwohl es heute durch das –bar-Muster eingeschränkt wird. Solch eine Bildung wäre zumutbar, während zumutlich aktuell nicht gebildet wird (s. aber verständlich vs. verstehbar).
Nasserei: Die Suffixvariante –erei (zu –ei) ist möglich. Allerdings sind bei diesem WB-Bildungstyp nominale (Lumperei) oder verbale Ableitungsbasen üblich (Plantscherei). Hier liegt also eine analoge Bildung vor, die aber aufgrund der adjektivischen Ableitungsbasis als Verstoß gegen das WB-Muster zu werten ist.
Plattmacher und Steinmann: Beides sind mögliche Bildungen im Deutschen, die gegen keine WB-Bedingung verstoßen. Die Wörter sind ad hoc-Bildungungen, also Neubildungen (vgl. S. 21: Unterscheidung zwischen Neubildungen und okkasionellen Bildungen). Kinder nehmen wohl eher okkasionelle Bildungen vor, obgleich es auch kindersprachliche Neologismen gibt (z.B. Bestimmer).
Komischheit: Diese Bildung verstößt gegen das WB-Muster insoweit, als Substantive mit –heit eine Eigenschaft bezeichnen. Das Kind meint aber nicht die Eigenschaft, sondern etwas, das diese Eigenschaft hat (also einen Witz oder etwas Komisches).
Aufgabe 5
Kind 1:
Bei den Kunstwörtern hat das Kind nur das –en-Flexiv verwendet. Bei den realen Wörtern gibt es einige korrekte Formen (z.B. Bretter), aber auch eine Übergeneralisierung mit –en (Hunden). Deutung: Das Kind verwendet –en als reguläres Flexiv (d.h. es übergeneralisiert –en); zugleich hat es zu einigen Nomen die korrekte Pluralform gespeichert. Das Pluralflexiv –(e)n ist das häufigste Pluralflexiv im Deutschen.
Kind 2:
Bei den Kunstwörtern hat das Kind nur das –s-Flexiv verwendet; das Wort Lisch, das auf einen Frikativ auslautet, ist nicht flektiert worden. Bei den realen Wörtern gibt es einige korrekte Formen (z.B. Bretter), aber auch eine Übergeneralisierung mit –s (Pflasters). Deutung: Das Kind verwendet –s als reguläres Flexiv (d.h. es übergeneralisiert –s); zugleich hat es zu einigen Nomen die korrekte Pluralform gespeichert. Das Pluralflexiv –s ist das default-Pluralflexiv im Deutschen.
Kind 3:
Bei den Kunstwörtern hat das Kind nur das –e-Flexiv verwendet; das Wort Piegel, das schon zweisilbig ist, ist nicht flektiert worden. Bei den realen Wörtern gibt es nur korrekte Formen, keine Übergeneralisierungen. Deutung: Das Kind verwendet –e als reguläres Flexiv (d.h. es übergeneralisiert –e). Das Kind kennt schon von vielen Nomen die korrekte Pluralform, so dass wir bei realen Wörtern keine Übergeneralisierungen mehr finden. Das Pluralflexiv –e ist das zweithäufigste Pluralflexiv im Deutschen.
Aufgabe 6
a. Im Beispiel (7) ist der MLU = 1,17 (berechnet nach Wörtern oder nach Morphemen); im Beispiel (8) ist der MLU = 2,2 (berechnet nach Wörtern), bzw. 3,2 (berechnet nach Morphemen, wobei nur Stämme und Flexive gezählt werden, keine Wortbildungsaffixe).
b.Beim Anschauen eines Bilderbuchs gibt es viele Kontexte, in denen elliptische Äußerungen (Fragen: und hier? und das?; Antworten: ein auto!) angemessen sind. Der MLU sollte also vergleichsweise niedrig ausfallen.
Aufgabe 7
In (10) dominiert bei Daniel und Mathias Verbendstellung. Verben kommen nur in der Stammform bzw. im Infinitiv vor (Ausnahme: julia kann nich papp neiden; hier liegt schon eine Modalverbkonstruktion mit Distanzstellung vor.). Bei Hilde finden wir Imperativformen (Stammformen) und Verben mit dem Flexiv –t in Zweitstellung sowie Infinitive und Verbpartikel in Verbendstellung. Bei allen drei Kindern kommen noch Subjekt-Verb-Kongruenzfehler vor. Subjekte, Präpositionen und Artikel fehlen in einigen Fällen.
In (11) produziert Mathias nur noch Sätze mit Verbzweitstellung und Konstruktionen mit Distanzstellung. Verben kommen in Stammform, Infinitiv und mit dem Flexiv –t vor. Bis auf eine Ausnahme ist immer Subjekt-Verb-Kongruenz hergestellt. Es gibt noch eine Subjektauslassung; Präposititionen und Artikel werden nicht mehr ausgelassen. In (12) sind Verbstellung und Subjekt-Verb-Kongruenz zielsprachlich korrekt. Es gibt keine Auslassungen mehr.
In Bezug auf Kasusmarkierungen kann man bei Mathias eine Entwicklung beobachten: In (10) gibt es keine Kasusmarkierungen außer einigen Nominativformen am Pronomen und Artikel. Es liegen einige Akkusativkontexte vor. Da aber die Artikel fehlen, fehlen auch Träger von Kasusmarkierungen. In (11) fehlen keine Artikel mehr. Neben einem Genitiv (daniels) gibt zwei eindeutige Kasuskontexte, in denen eine Akkusativmarkierung gefordert ist (einen). Da es sich um den indefiniten Artikel handelt (ein), bei dem umgangssprachlich die Form einen oft zu ein verschliffen wird, können wir nicht sicher sagen, ob die Nominativform auf den Akkusativ übergeneralisiert wird. In (12) gibt es zwei Dativkontexte. Einmal liegt die korrekte Dativform vor, einmal wird eine Akkusativform übergeneralisiert. Die Beobachtungen passen zu den Annahmen zum Erwerb des Kasussystems; es sind aber zu wenige Belege, um den Erwerb deutlich nachzuzeichnen.
Aufgabe 8
Die Sprechakte, die man Meike in diesem Beispiel zuschreiben kann, erklären sich teilweise aus der Reaktion der Mutter, sind also schon „vorinterpretiert“. Explizite Performative kommen nicht vor. Es handelt sich bei der ersten, dritten und vierten Äußerung jeweils um eine Feststellung oder einen Kommentar (assertiver Sprechakt). Bei der zweiten und fünften Äußerung liegt jeweils eine Aufforderung vor (direktiver Sprechakt). Meike produziert noch keine Imperative, um den illokutionären Akt anzuzeigen, sondern nutzt Infinitive in diesen Äußerungen. Die vierte Äußerung könnte als indirekter Sprechakt der Aufforderung intendiert sein, die aber von der Mutter zunächst nicht als solche verstanden wurde.